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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 188/17
vom
13. September 2017
in der Strafsache
gegen
wegen unterlassener Hilfeleistung
ECLI:DE:BGH:2017:130917U2STR188.17.0
-2-
Der
2. Strafsenat
des
Bundesgerichtshofs
hat
13. September 2017, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl
als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Krehl,
Zeng,
Dr. Grube,
Schmidt,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
in
der
Sitzung
vom
-3-
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 19. Dezember 2016 wird verworfen.
Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem
Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu
tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
I.
1
Das Landgericht hatte den Angeklagten in einem ersten Urteil wegen
Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Nach Aufhebung dieses Urteils aufgrund einer Revision des Angeklagten
hat es diesen nunmehr wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die zuungunsten des
Angeklagten eingelegte und auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts trafen der Angeklagte und
der Geschädigte, die beide in ihrer Freizeit der Jagd nachgingen, in den frühen
Abendstunden des 23. Oktober 2012 auf einem Feldweg aufeinander. Der
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Angeklagte, der sich in einer depressiven Phase befand und alkoholisiert war,
saß, nachdem er in suizidaler Absicht unter Mitführung einer mit sieben
Patronen geladenen halbautomatischen Pistole Kal. 9 mm in den Wald gegangen war, auf einem Feldweg und schlief, was den später getöteten
H.
, der gerade von der Jagd zurückkam, an der Weiterfahrt hinderte.
Dieser weckte den Angeklagten mit einem Tritt und forderte ihn mit unfreundlichen Worten auf, sich zu entfernen. Der darüber verärgerte Angeklagte trat
daraufhin dem Geschädigten in das Gesäß und beschimpfte ihn. H.
,
nun seinerseits erbost, rief „Na warte du mal“ und schickte sich an, seine auf
der Rücksitzbank liegende Jagdflinte aus dem Inneren des Fahrzeugs zu holen.
Die Flinte war zwar nicht geladen, konnte aber vom Geschädigten durch
Einlegen der von ihm in seiner Jackentasche mitgeführten Munition jederzeit in
einen schussbereiten Zustand gebracht werden.
3
Der Angeklagte, der Angst vor einem Angriff hatte, folgte H.
und
sprühte ihm aus einer Entfernung von etwa einem Meter Pfefferspray ins
Gesicht. Dieser zeigte sich jedoch unbeeindruckt, ergriff die Jagdflinte und
drehte sich – das Gewehr in Hüfthöhe haltend – in Richtung des Angeklagten.
Aus Angst vor einem Angriff schoss der Angeklagte nun zwei Mal aus einer Entfernung von etwa vier Metern in Richtung des Geschädigten, wobei er ihn mit
einem Schuss am Oberarm traf. H.
hantierte gleichwohl weiter an
seiner doppelläufigen Flinte, um sie zu laden und schussbereit zu machen. Der
Angeklagte gab nunmehr einen Warnschuss in die Luft ab, ohne dass der
Geschädigte hierauf eine Reaktion zeigte. Er war nun „kurz vor dem Durchdrehen“ und wusste nicht mehr, was er noch machen sollte. Da er befürchtete,
dass es dem weiter an der Flinte hantierenden H.
alsbald gelänge, die
Waffe zu laden und schussfertig zu machen, gab er nunmehr einen gezielten
Schuss auf den Oberkörper des Geschädigten ab. Obwohl in der Brust getroffen, zeigte sich dieser immer noch unbeeindruckt, weshalb der Angeklagte auch
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noch in dessen Bein schoss. Nunmehr hielt H.
infolge der Trefferwir-
kung inne und ließ das Gewehr sinken. Der Angeklagte, der erkannte, dass der
Geschädigte infolge der Schüsse handlungsunfähig war, nahm diesem das
Gewehr ab und entfernte sich, ohne Hilfe zu leisten oder Hilfskräfte zu verständigen. H.
verstarb an den Folgen der Rumpfverletzung; bei zeitnaher
medizinischer Versorgung hätte er gerettet werden können.
4
Sachverständig beraten ist das Landgericht zum Ergebnis gekommen,
dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt uneingeschränkt schuldfähig war.
5
2. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als unterlassene
Hilfeleistung gewürdigt. Es ist davon ausgegangen, dass die Schussabgabe
durch den Angeklagten wegen Notwehr gerechtfertigt, insbesondere die in einer
Notwehrlage vorgenommene Notwehrhandlung auch erforderlich gewesen sei.
Im Übrigen habe der Angeklagte auch nach § 33 StGB schuldlos gehandelt, da
er „vor der Abgabe des letztlich tödlichen Rumpfschusses der Situation nicht
mehr psychisch gewachsen“ gewesen sei.
II.
6
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.
7
Die Verurteilung des Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung
lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Die Erwägungen des Landgerichts, dass
sich der Angeklagte keines Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts schuldig
gemacht habe, halten sachlich-rechtlicher Nachprüfung stand.
8
1. Die Annahme der Strafkammer, dass bei sämtlichen Schüssen eine
Notwehrlage vorgelegen habe, ist frei von Rechtsfehlern.
-6-
9
a) Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn das Verhalten des Angreifers unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen kann, so dass durch das Hinausschieben einer Abwehrhandlung entweder deren Erfolg in Frage gestellt
wäre oder der Verteidiger das Wagnis erheblicher eigener Verletzungen auf
sich nehmen müsste (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 26. August 1987 – 3 StR
303/87, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 1; Urteil vom 31. Januar 2007 – 5 StR
404/06, BeckRS 2007, 03210 Rn. 16). Der Angriff beginnt, wenn der Angreifer
unmittelbar zu diesem ansetzt, also mit einem Verhalten, das unmittelbar in die
eigentliche Verletzungshandlung umschlagen soll; bei einem vorsätzlichen
Angriff ist dies die Handlung, die dem Versuchsbeginn unmittelbar vorgelagert
ist (Schönke/Schröder/Perron, StGB, 29. Aufl., § 32 Rn. 14 mwN). Entscheidend für die Beurteilung ist dabei die objektive Sachlage, nicht die Befürchtungen des Angegriffenen (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2017 – 1 StR 486/16,
juris Rn. 28 mwN).
10
b) Nach diesen Grundsätzen steht der Umstand, dass die Flinte des
Geschädigten ungeladen war, der Annahme eines gegenwärtigen Angriffs nicht
entgegen. Ausweislich der Urteilsfeststellungen hatte dieser die Waffe ergriffen
und hantierte daran, um auf den Angeklagten zu schießen (UA S. 7 f.), wobei
die Schussbereitschaft innerhalb weniger Sekunden hätte hergestellt werden
können (UA S. 6). Angesichts dieser kurzen Zeitspanne lag trotz der noch notwendigen Zwischenschritte eine schon unmittelbare und akute Bedrohung des
Angeklagten vor.
11
2. Auch die Annahme des Landgerichts, die Verteidigungshandlungen
des Angeklagten seien erforderlich gewesen, ist frei von Rechtsfehlern.
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12
a) Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gemäß § 32 Abs. 2 StGB
gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des
Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das
dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht (vgl. BGH,
Beschluss vom 22. Juni 2016 – 5 StR 138/16, NStZ 2016, 593, 594). Ob dies
der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden.
Danach kann auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende
Einsatz einer Waffe durch Notwehr gerechtfertigt sein. Der Angegriffene muss
auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren
Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der
Lage zur Verfügung steht. Die mildere Einsatzform muss im konkreten Fall eine
so hohe Erfolgsaussicht haben, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann. Angesichts der geringen Kalkulierbarkeit des
Fehlschlagrisikos dürfen an die in einer zugespitzten Situation zu treffende
Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung
keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Können keine sicheren
Feststellungen zu Einzelheiten des Geschehens getroffen werden, darf sich
dies nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken (BGH, Beschluss vom 22. Juni
2016 – 5 StR 138/16, aaO).
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Diese Grundsätze hat die Rechtsprechung für den lebensgefährlichen
Einsatz einer Schusswaffe in Notwehrsituationen dahin konkretisiert, dass ein
solcher zwar nicht von vornherein unzulässig ist, aber nur das letzte Mittel der
Verteidigung sein kann. In der Regel ist der Angegriffene gehalten, den
Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen. Reicht dies nicht aus, so muss er,
wenn möglich, vor dem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen. In Frage kommen ungezielte Warnschüsse oder, wenn
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diese nicht ausreichen, Schüsse in die Beine, um den Angreifer kampfunfähig
zu machen, also solche Abwehrmittel, die einerseits für die Wirkung der Abwehr
nicht zweifelhaft sind und andererseits die Intensität und Gefährlichkeit des
Angriffs nicht unnötig überbieten (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juli 2015
– 3 StR 84/15, juris Rn. 7 mwN). Dabei wird der Rahmen der erforderlichen
Verteidigung durch die Stärke und die Gefährlichkeit des Angreifers und durch
die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen bestimmt (BGH, Beschluss
vom 21. Juli 2015 – 3 StR 84/15, aaO).
14
b) Daran gemessen ist die Würdigung des Landgerichts, der Angeklagte
habe angesichts der zum Zeitpunkt der ersten beiden Schüsse festgestellten
„konkreten Kampflage“ auf den Geschädigten schießen dürfen, ohne Rechtsfehler.
15
Vor den beiden auf die Schulter des Geschädigten zielenden Schüssen
hatte der Angeklagte nach den Feststellungen ohne Erfolg aus etwa einem
Meter Entfernung Pfefferspray eingesetzt. Danach hatte sich der Geschädigte
mit dem in Hüfthöhe gehaltenen Gewehr zum Angeklagten gedreht, der erkannte, dass es sich um eine doppelläufige Flinte handelte. Der Abstand zwischen
dem Angeklagten und dem Geschädigten betrug zu diesem Zeitpunkt „allenfalls
vier Meter“ (UA S. 7). Angesichts seiner begründeten Befürchtung, der
Geschädigte werde auf ihn schießen, blieb dem Angeklagten keine Zeit zur
ausreichenden Abschätzung des schwer kalkulierbaren Risikos. Bei dieser
zugespitzten Situation der unmittelbar gegen ihn gerichteten Waffe ist nicht
ersichtlich, dass die Abgabe eines Warnschusses die Beendigung des Angriffs
hätte erwarten lassen (vgl. Senat, Urteil vom 2. November 2011 – 2 StR 375/11,
NStZ 2012, 272, 274). Vielmehr bot nur die sofortige Schussabgabe durch den
Angeklagten die sichere Gewähr, einen potenziell tödlichen Schuss des
Geschädigten zu unterbinden. Unter diesen Umständen ist es aus Rechtsgrün-
-9-
den nicht zu beanstanden, dass das Landgericht zu der Auffassung gelangt ist,
dem Angeklagten hätten in der konkreten Situation zur Abwehr der drohenden
Gefahr weniger gefährliche, aber gleichermaßen zuverlässige Verteidigungsmittel nicht zur Verfügung gestanden.
16
c) Im Hinblick auf das sich in der Folge weiter zuspitzende Geschehen ist
auch die Wertung der Strafkammer, der letztlich todesursächliche vierte Schuss
auf den Rumpf des Geschädigten sei erforderlich gewesen, rechtlich nicht zu
beanstanden. Wie der Umstand zeigt, dass der Geschädigte erst infolge des
danach abgegebenen Beinschusses das Gewehr senkte, war selbst der vierte
Schuss zunächst noch nicht ausreichend, den Angriff sofort und endgültig zu
beenden.
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Darüber hinaus lässt die zusätzliche Erwägung des Landgerichts, der
Angeklagte sei jedenfalls nach § 33 StGB entschuldigt, keinen Rechtsfehler
erkennen. Die sachverständig beratene Strafkammer hat die Annahme einer
auf Furcht und Schrecken beruhenden asthenischen Affektlage des Angeklagten rechtsfehlerfrei auf dessen Einlassung, er sei vor der Schussabgabe „kurz
vor dem Durchdrehen“ gewesen, seine mit der Erfolglosigkeit der vorangegangenen Abwehrversuche verbundene Ratlosigkeit sowie auf eine ohnehin bestehende psychische Ausnahmesituation zur Tatzeit gestützt (UA S. 37 f.). Da die
Anwendung von § 33 StGB nicht voraussetzt, dass die Einsichts- oder
Steuerungsfähigkeit des Täters zugleich im Sinne des § 21 StGB erheblich
vermindert ist (SK-StGB/Rogall, 9. Aufl., § 33 Rn. 18), steht diese Wertung des
Landgerichts auch nicht in Widerspruch zu dessen Annahme, die Voraussetzungen des § 21 StGB hätten nicht vorgelegen.
- 10 -
18
3. Eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Aussetzung gemäß § 221
StGB besteht – wie das Landgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat –
nicht. Zwar hat der Angeklagte den Geschädigten durch die Abgabe der Schüsse im Sinne des § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB in eine hilflose Lage versetzt; er war
insoweit aber gerechtfertigt. Dadurch, dass der Angeklagte den tödlich getroffenen Geschädigten am Tatort zurückließ, hat er sich auch nicht nach § 221
Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar gemacht, da keine Obhutspflicht bestand und
– wegen der Rechtfertigung der Schüsse – durch die Verursachung der Verletzungen keine Garantenstellung begründet worden war.
Appl
Krehl
Grube
RiBGH Zeng ist
wegen Urlaubs an
der Unterschrift
gehindert.
Appl
Schmidt