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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 476/05
vom
23. März 2006
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
-2-
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
21. März 2006 in der Sitzung am 23. März 2006, an denen teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl
als Vorsitzender
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Boetticher,
Schluckebier,
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
-3-
Auf die Revision des Betroffenen wird das Urteil des Landgerichts
Passau vom 10. Juni 2005 mit den zugehörigen Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
1
Das Landgericht hat gegen den Betroffenen die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet und ihn sogleich in die Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus überwiesen. Hiergegen richtet sich die Revision
des Betroffenen, die die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel
hat Erfolg.
I.
2
1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
3
Der im Jahr 1934 geborene Betroffene erlitt 1955 bei einem Motorradunfall eine Schädelbasisfraktur, in deren Folge es bei ihm zu einer organischen
Persönlichkeitsstörung kam. Ein schon damals festgestellter frontaler Hirnsubstanzdefekt führte zu einem fortschreitenden Persönlichkeitsabbau. 1994 wurde
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er wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe verurteilt, im
selben Jahr auch wegen dreier Vergehen des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Er hatte ein Kind jeweils auf den Arm genommen, ihm
unter dem T-Shirt an die Brust und über der Kleidung an die Scheide gefasst
und ihm schließlich Zungenküsse gegeben. Eine erhebliche Verminderung der
Schuldfähigkeit zur Tatzeit konnte nicht ausgeschlossen werden. Nach Verlängerung der Bewährungszeit wurde die Freiheitsstrafe Ende 1997 erlassen.
4
Das Landgericht Passau verurteilte den Betroffenen schließlich am
16. März 1999 wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten (Einzelstrafen jeweils zwei Jahre und
neun Monate Freiheitsstrafe; sog. Anlassverurteilung in dieser Sache). Er hatte
im Sommer 1986 von der damals 12-jährigen Tochter einer Frau, deren Liebhaber er war, den Geschlechtsverkehr erzwungen, indem er dem Kind drohte,
sonst seine Schwester "zu gebrauchen". Da sich das Mädchen nicht einschüchtern ließ und sich wehrte, packte er es, riss ihm die Hose herunter und warf es
auf eine Couch. Er drückte es an den Schultern nieder und führte den ungeschützten Verkehr bis zum Samenerguss durch. Zwei Wochen nach diesem
Vorkommnis wiederholte sich der Vorgang. Wegen zweier ähnlich liegender
Taten zum Nachteil der Schwester des Opfers stellte das Landgericht das Verfahren wegen Verjährung ein.
5
Der Betroffene verbüßte die verhängte Freiheitsstrafe vollständig. Für die
Zeit nach der Vollstreckung der Strafe ordnete das Landgericht Bayreuth mit
Beschluss vom 6. Februar 2002 für die Dauer von fünf Jahren Führungsaufsicht
an und brachte den Betroffenen darüber hinaus mit Beschluss vom 10. April
2002 nach dem Bayerischen Gesetz zur Unterbringung besonders rückfallgefährdeter hochgefährlicher Straftäter (BayStrUBG) unbefristet in einer Justiz-
-5-
vollzugsanstalt unter. Mit Beschluss vom 16. Dezember 2003 wurde der Vollzug
dieser Anordnung für die Dauer eines Jahres ausgesetzt und dem Betroffenen
auferlegt, in einem Seniorenhaus Aufenthalt zu nehmen. Da es dort im Januar
und Februar 2004 zu sexuellen Übergriffen auf demente Mitbewohnerinnen
kam, widerrief die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 26. März
2004 die Aussetzung. Der Betroffene wurde wieder in den Unterbringungsvollzug genommen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht den Bundesländern
mit Urteil vom 10. Februar 2004 die Gesetzgebungskompetenz für den Erlass
landesrechtlicher sicherungsverwahrender Vorschriften aus verfassungsrechtlichen Gründen abgesprochen und die Geltung solcher Bestimmungen bis zum
30. September 2004 befristet hatte (BVerfGE 109, 190), überwies die Strafvollstreckungskammer den Betroffenen nach § 67a Abs. 2 StGB in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Dort befindet er sich seither, mittlerweile aufgrund Unterbringungsbeschlusses nach § 275a Abs. 5 StPO.
6
2. Unter der Zwischenüberschrift "Neuere Entwicklung des Betroffenen"
hat die Strafkammer sodann weiter festgestellt:
7
Der Betroffene unterzog sich während des Strafvollzugs nach seiner
Verurteilung im Jahr 1999 wegen der beiden 1986 begangenen Vergewaltigungstaten keinerlei psychotherapeutischen Maßnahmen. Eine Sexualtherapie
lehnte er stets ab. Ebenso stritt er auch in der Haft die Taten ab und entzog
somit möglichen therapeutischen Maßnahmen jegliche Grundlage. Aufgrund
bestehender Störungen im kognitiven Bereich und im Hinblick auf die während
der Haftzeit fortgeschrittene hirnorganische Persönlichkeitsstörung vermag er
die Grenzen zu sexuell deviantem Verhalten nicht zu erkennen und nicht zu
reflektieren.
-6-
8
Dies führte dazu, dass er sich während seines Aufenthalts in dem Seniorenhaus wiederholt an Mitbewohnerinnen heranmachte, diese an Orte verbrachte, welche vom Pflegepersonal nicht beobachtet wurden, dort deren Unterkörper entkleidete und ihnen die Windelhose öffnete oder die Unterhose auszog, um sich daran sexuell zu ergötzen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Vorfälle:
9
- Am 14. Januar 2004 fand eine Pflegekraft die an ausgeprägter Demenzerkrankung leidende Heimbewohnerin
B.
im Zimmer des Be-
troffenen mit völlig entkleidetem Unterkörper vor, während sich der Betroffene
im Badezimmer aufhielt und gerade dabei war seine Hose hochzuziehen.
10
- Am 2. Februar 2004 öffnete der Betroffene im Zimmer der ausgeprägt
demenzkranken
Bä. deren Windelhose und fasste sie am Intimbe-
reich an. Dabei wurde er von einer Pflegerin angetroffen, die "ihn schimpfte"
und fortschickte.
11
- Am 14. Februar 2004 kam eine Pflegekraft hinzu, als er Frau Bä. eine
"doppelte Windelhose" machte, indem er ihr die Unterhose auszog und über der
Windel eine grüne Windel anzog.
12
- An einem weiteren nicht näher bestimmbaren Tag im Januar oder Februar 2004 traf eine Pflegekraft den Betroffenen dabei an, wie er Frau Bä. auf
dem Gang vor den Zimmern von oben in das T-Shirt langte und an ihrer Brust
manipulierte.
13
3. Bei seiner Gesamtwürdigung hat das Landgericht angenommen, dass
vom Betroffenen eine erhebliche Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung Anderer ausgehe. Krankheitsbedingt sei bei ihm keine Reflektionsfähigkeit mehr
vorhanden. Aufgrund seiner organischen Persönlichkeitsstörung sei er nicht
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mehr in der Lage, im Sexualbereich Grenzen zu erkennen. Wegen seiner erstmals in der Haft aufgetretenen Erektionsstörungen sei auch nach Auffassung
der beiden gehörten Sachverständigen erfahrungsgemäß mit der Zuwendung
zu immer jüngeren Kindern als Ersatzobjekten zu rechnen, von denen kein unüberwindbarer Widerstand zu erwarten sei, ebenso aber auch mit Ersatzhandlungen und impulsiven Übersprungshandlungen. Diese Entwicklung des Betroffenen spiegele sich in seinen Taten im Seniorenheim wider, wo er sich zwar
nicht mehr an Kindern, aber doch an widerstandsunfähigen Personen vergangen habe. Bei ihm liege eine sexuelle Störung mit Steigerung der sexuellen Appetenz vor. Auch wenn man Handlungen wie beispielsweise das "Begrabschen"
nicht als erheblich einstufen wolle, so gehe vom Betroffenen gleichwohl eine
erhebliche Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung Anderer aus. Angesichts
der kognitiven Defizite und der mangelnden Reflektionsfähigkeit des Betroffenen bestehe situationsbedingt immer die konkrete Gefahr, dass sich
- ausgehend von den Reaktionen des Opfers - auch gravierende Straftaten entwickeln könnten.
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4. Das Landgericht geht bei seiner rechtlichen Würdigung vom Vorliegen
der Voraussetzungen für die nachträgliche Sicherungsverwahrung aus und
knüpft an die Verurteilung durch das Landgericht Passau vom 16. März 1999
wegen Vergewaltigung in zwei Fällen an (§ 66b Abs. 1 StGB). Der Hang des
Betroffenen, erhebliche Straftaten zu begehen, werde durch die Vorstrafen wegen der Vergewaltigung junger Mädchen belegt. Dieser Hang habe weder während der Haft noch wegen des fortgeschrittenen Alters des Betroffenen ein Ende gefunden. Aufgrund der organischen Persönlichkeitsstörung wirke sich das
zunehmende Alter vielmehr sogar gefahrerhöhend aus.
15
Vor Ende der Haftzeit seien Tatsachen erkennbar geworden, die auf eine
erhebliche Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit hinwiesen. Er
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habe während der Haftzeit jegliche Sexualtherapie verweigert und sei nicht therapiefähig, weil er die begangenen Taten immer geleugnet habe. Krankheitsbedingt fehle ihm die Reflektionsfähigkeit über ein mögliches sexualdeviantes
Verhalten. Das beruhe auf der organischen Persönlichkeitsstörung als Nachwirkung eines unfallbedingten Hirnsubstanzdefekts, der zu einem fortschreitenden
Persönlichkeitsabbau führe. Bei den genannten Gesichtspunkten handele es
sich "allesamt um Umstände, die erst in der Haft aufgetreten bzw. - wie der
hirnorganische Abbau - fortgeschritten" seien. Die Vorfälle im Seniorenheim
belegten die geschilderten Tatsachen bezüglich der Entwicklung des Betroffenen, deren Ursachen und Fortschritt erst in der Haft erkennbar geworden seien.
16
5. Die mit dem Urteil ausgesprochene Überweisung des Betroffenen in
die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus begründet die Strafkammer damit, dass diese von beiden Sachverständigen ausdrücklich empfohlen worden sei. Die organische Persönlichkeitsstörung des Betroffenen und die
Auffälligkeiten unterstrichen das Erfordernis einer hochqualifizierten therapeutischen und pflegerischen Betreuung. Dort könne auch erprobt werden, ob durch
eine etwaige medikamentöse Intervention die Verhaltensauffälligkeiten gebessert werden könnten. Deshalb halte auch die Kammer die Unterbringung des
Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus für sachgemäß. Dafür biete
das Gesetz aber gegenwärtig keine ausdrückliche Möglichkeit. Zwar sei parallel
zum gegenständlichen Verfahren betreffend die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung ein objektives Sicherungsverfahren nach den §§ 413 ff.
StPO beim Landgericht Hof anhängig. Dessen Gegenstand sei der sexuelle
Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person, nämlich der demenzkranken
Frau Bä. (Manipulation an der Brust; vgl. oben, vierter Vorfall). Der Ausgang
jenes Verfahrens sei für die Kammer jedoch nicht absehbar und nicht beeinflussbar. Die unmittelbare Anwendung des § 67a Abs. 2 StGB sei nicht möglich.
Der Fall zeige jedoch, dass hier ein Bedürfnis für eine gleichzeitige resozialisie-
-9-
rungsfördernde Überweisung in die Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus bestehe, obgleich die Anordnungsvoraussetzungen für diese
Maßnahme (§ 63 StGB) nicht vorlägen.
II.
17
Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Es läßt besorgen, das Landgericht könne Umstände als "neue Tatsachen" im Sinne der
gesetzlichen Voraussetzungen für die nachträgliche Sicherungsverwahrung
(§ 66b Abs. 1 StGB) behandelt haben, die von Rechts wegen nicht berücksichtigungsfähig sind oder bei denen dies nach den Urteilsgründen zumindest zweifelhaft ist und unklar bleibt. Das erweist sich als Darlegungs- und Erörterungsmangel, der zur Aufhebung des Urteils führt.
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1. Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung setzt voraus, dass vor Ende des Vollzuges der Freiheitsstrafe aus
der Anlassverurteilung Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche
Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit hinweisen (§ 66b Abs. 1
StGB). "Neue Tatsachen" im Sinne des § 66b StGB sind nur solche, die nach
der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz (Anlassverurteilung) und vor
Ende des Vollzuges der verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar
geworden sind (vgl. BGH NJW 2005, 3078, 3080; NStZ 2005, 561, 562; NJW
2006, 531, 535). Aber auch Umstände, die für einen sorgfältigen Tatrichter bei
der Anlassverurteilung erkennbar oder aufklärungsbedürftig waren, sind nicht
neu im Sinne des § 66b StGB (BGH NStZ 2006, 155, 156). Darüber hinaus
müssen die neuen Tatsachen eine "gewisse Erheblichkeitsschwelle" überschreiten (vgl. Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 12). Sie müssen
schon für sich Gewicht haben und ungeachtet der notwendigen Gesamtwürdi-
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gung aller Umstände auf eine erhebliche Gefahr der Beeinträchtigung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Anderer durch den Betroffenen hindeuten (BGH NJW 2006, 531,
535).
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2. Die vom Landgericht angeführte "neuere Entwicklung" des Betroffenen
weist Tatsachen aus, die die Unterbringung in der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht oder jedenfalls nicht ohne Weiteres zu rechtfertigen vermögen.
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Die Strafkammer hat in einem eigenständigen Abschnitt der Urteilsgründe die "neuere Entwicklung" des Betroffenen dargestellt. Dabei hat sie seine
fehlende Therapiebereitschaft und sein Bestreiten der Anlasstaten auch in der
Strafhaft, den fortschreitenden hirnorganischen Abbau sowie die sexualbezogenen Verhaltensweisen im Umgang mit demenzkranken pflegebedürftigen
Frauen während seines Aufenthaltes in einem Seniorenheim angeführt. Diese
Gesichtspunkte hat sie auch in der abschließenden rechtlichen Bewertung aufgegriffen, aber nicht verdeutlicht, ob sie in bestimmten Umständen etwa keine
neuen Tatsachen gesehen und diese lediglich bei der Gesamtwürdigung und
Prognose herangezogen hat. Der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe
spricht eher dafür, dass sie in allen Umständen, die sie unter der "neueren Entwicklung" des Betroffenen aufgeführt hat, neue Tatsachen im Sinne des § 66b
StGB gesehen hat. Insoweit gilt:
21
a) Die sexualbezogenen Vorfälle im Seniorenheim haben hier als "neue
Tatsachen" von vornherein außer Betracht zu bleiben, weil sie sich nicht während des Vollzuges der Freiheitsstrafe ereignet haben. Vielmehr befand sich der
Betroffene in dem in Rede stehenden Zeitraum in einer nachträglichen landes-
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rechtlichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die ausgesetzt war.
Für diese sog. Übergangsfälle hat der Gesetzgeber nochmals ausdrücklich das
bestätigt, was sich bereits aus dem Wortlaut des § 66b Abs. 1 StGB ergibt: Umstände aus der landesrechtlichen Unterbringung (nach BayStrUBG) sind keine
neuen Tatsachen im Sinne des § 66b StGB (Art. 1a Satz 2 EGStGB; so auch
die Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 20). Sie können allenfalls bei
der anzustellenden Gefährlichkeitsprognose mit berücksichtigt werden (vgl. Gesetzesbegründung aaO).
b) Hinsichtlich der danach verbleibenden Umstände, die als "neue Tat-
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sachen" im Sinne des Gesetzes nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich berücksichtigungsfähig sind, lässt sich den Urteilsgründen nicht eindeutig entnehmen, ob sie bereits für den früheren Tatrichter erkennbar oder ihm sogar bekannt waren. Die Strafkammer hat sich damit nicht in
nachprüfbarer Weise auseinandergesetzt. In den Urteilsgründen klingt jedoch
an, dass der Betroffene die Anlasstaten auch schon im Erkenntnisverfahren
bestritten hat. Dies ist dem Senat auch aufgrund seiner Befassung mit der seinerzeitigen Revision des Betroffenen gegen das Urteil des Landgerichts Passau
vom 16. März 1999 bekannt (1 StR 547/99). Damit liegt nahe, dass auch in der
Therapieverweigerung des Betroffenen keine neue Tatsache gesehen werden
kann; das wäre nur dann der Fall, wenn das Ursprungsgericht zum Zeitpunkt
der Verurteilung davon hätte ausgehen können, der Betroffene werde sich im
Strafvollzug einer Erfolg versprechenden Therapie unterziehen (BGH, Beschluss vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 = NStZ 2006, 155; Beschluss
vom 19. Januar 2006 - 4 StR 393/05 - Umdruck S. 12; vgl. zur eingeschränkten
Bedeutung fehlender Therapiebereitschaft weiter BVerfGE 109, 190, 241; BGH
NJW 2005, 2022, 2024; Bericht des Rechtsausschusses BTDrucks. 15/3346,
S. 17).
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c) Ähnlich liegt es für den vom Landgericht festgestellten frontalen
Hirnsubstanzdefekt, der sich in der Folge eines schweren Motorradunfalls
entwickelt hat, den der Betroffene bereits im Jahr 1955 erlitt. Schon in früherer
Zeit war bei ihm ersichtlich in dessen Folge bei strafbaren Handlungen eine
erheblich verminderte Schuldfähigkeit nicht auszuschließen. Das Landgericht
hätte sich deshalb damit auseinandersetzen müssen, ob und inwieweit es sich
bei dieser Entwicklung um eine schon für den Tatrichter der Anlasstat
erkennbare neue Tatsache gehandelt hat und, wenn ja, ob gegebenenfalls
allein das Fortschreiten des Hirnsubstanzdefekts als einzig verbleibende neue
Tatsache die Unterbringung in der nachträglichen Sicherungsverwahrung
rechtfertigen könnte (vgl. für
einen erstmals festgestellten frontal betonten
Hirnsubstanzdefekt als "neue Tatsache" BGH, Beschluss vom 9. November
2005 - 4 StR 483/05 - Umdruck S. 6 = NStZ 2006, 155, 156). Das
Revisionsgericht vermag diese Bewertung, die tatrichterliche Aufgabe ist,
grundsätzlich nicht zu ersetzen.
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3. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung kann mithin
keinen Bestand haben. Schon deshalb entfällt auch die zugleich ausgesprochene Überweisung des Betroffenen in den Vollzug der Maßregel nach § 63
StGB. Diese rechtliche Bewertung entspricht insoweit auch dem vom Generalbundesanwalt in der Revisionshauptverhandlung gestellten Antrag, der von seiner Antragsschrift abweicht.
III.
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Der Senat sieht im Blick auf die erforderliche Neuverhandlung der Sache
Anlass zu den nachfolgenden Hinweisen:
- 13 -
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1. Das Landgericht, dem die durch den Bundesgerichtshof herausgebildeten Maßstäbe zur Auslegung des § 66b StGB zum Zeitpunkt seiner Entscheidung noch nicht bekannt sein konnten, wird nunmehr zu prüfen haben, ob
neue, erstmals in der Strafhaft des Betroffenen hervorgetretene erhebliche Tatsachen feststellbar sind, die bei Aburteilung der Anlasstaten nicht erkennbar
waren. Auf dieser Grundlage wird die Frage eines Hanges des Betroffenen zur
Begehung von Sexualstraftaten und seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit
im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB erneut zu beurteilen sein. Bei der Gefährlichkeitsprognose allerdings kann seine gesamte Entwicklung in den Blick genommen werden (vgl. Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 20). Im Einzelnen wird das Landgericht auch Folgendes zu bedenken haben:
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Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist die schwerste Unrechtsfolge, die zum Strafrecht im weiteren Sinne gehört (BVerfGE 109, 190, 211 ff.;
BGH, Beschluss vom 22. Februar 2006 - 5 StR 585/05 - Umdruck S. 7). Sie ist
als letztes Mittel in seltenen Fällen für extrem gefährliche Täterpersönlichkeiten
gerechtfertigt (BVerfGE 109, 190, 242). Ihre Anwendung ist nach dem Willen
des Gesetzgebers restriktiv zu handhaben (Gesetzesbegründung, aaO, S. 10,
12 f.; BVerfGE aaO, S. 236; BGH aaO, S. 8 m.w.N.). Daran hat sich die Auslegung der Vorschrift zu orientieren.
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Die neue Strafkammer wird weiter im Auge zu behalten haben, dass
"neue Tatsachen" im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB schon für sich Gewicht haben und ungeachtet der notwendigen Gesamtwürdigung aller Umstände auf
eine erhebliche Gefahr der Beeinträchtigung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Anderer durch
den Betroffenen hindeuten müssen (BGH NJW 2006, 531, 535). Soweit hier
letztlich allein das Fortschreiten des Hirnabbaus des Betroffenen infrage stehen
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sollte, wird zudem zu verlangen sein, dass dieser sich nach außen während der
Strafhaft in irgendeiner Form manifestiert und ausgedrückt hat. Der Senat weist
in diesem Zusammenhang auch auf die Möglichkeit einer Rücknahme des Antrags der Staatsanwaltschaft hin (vgl. dazu BGH NJW 2006, 852, 853 Rdn. 10
f.).
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2. Zudem wird es nahe liegen, dem objektiven Sicherungsverfahren
(§§ 413 ff. StPO, § 63 StGB) beim Landgericht Hof Fortgang zu geben und gegebenenfalls dort einstweilige Maßnahmen zu treffen, mag in jenem Verfahren
auch die Erheblichkeit der rechtswidrigen Tat besonders prüfungsbedürftig erscheinen (§ 184f Nr. 1 StGB; vgl. zur daneben bestehenden Möglichkeit der
landesrechtlichen Unterbringung auch § 1 Abs. 1 BayUntbrG). Dem anhängigen
Sicherungsverfahren kommt allerdings hier kein Vorrang zu, weil die dort gegenständlichen Vorfälle sich nach der Entlassung des Betroffenen aus der
Strafhaft ereignet haben. Wäre dies anders und erwiesen sie sich zugleich als
"neue Tatsachen" im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB, so wäre das Sicherungsverfahren, das ebenfalls den Schutz der Allgemeinheit bezweckt, vorrangig zu
betreiben (vgl. zum Vorrang des Erkenntnisverfahrens, wenn dort die Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung besteht: BGH, Beschluss vom
22. Februar 2006 - 5 StR 585/05 - Umdruck S. 10 f.).
30
3. Darüber hinaus weist der Senat darauf hin, dass die vom Landgericht
sogleich ("uno actu") mit der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung erfolgte Überweisung des Betroffenen in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (nach § 67a Abs. 2 StGB i. V. m. § 63 StGB) dem
Zustand des Betroffenen zwar in praktischer Hinsicht Rechnung trägt, aber
rechtlichen Bedenken begegnet. Diese hat das Landgericht gesehen, indes an-
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genommen, sie aus Gründen praktischer Bedürfnisse vernachlässigen zu dürfen.
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Die Überweisung in die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus
darf nicht zugleich mit der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ausgesprochen werden. Der Gesetzgeber hat wohl im Grundsatz für die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung die Überweisung in den
Vollzug einer anderen Maßregel offen halten wollen. Darauf deuten die Materialien hin, denen zufolge die Überweisungsvorschrift des § 67a Abs. 2 StGB auch
bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung anwendbar sein soll (Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 14; in diese Richtung auch BVerfGE 109,
190, 242 f.). Für die Überweisung ist jedoch die Strafvollstreckungskammer zuständig. Bei einer Entscheidung durch die Strafkammer würde nicht der gesetzliche Richter tätig (so schon BGH, Beschluss vom 15. Februar 2006 - 2 StR
4/06 - Umdruck S. 10). Angesichts des Gewichts des Eingriffs einer nachträglichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in das Freiheitsgrundrecht
hält es der Senat zudem ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung für nicht
statthaft, durch eine "uno actu" ausgesprochene Überweisung in die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus gewissermaßen auf diesem Umwege die
nachträgliche Unterbringung in der Maßregel des § 63 StGB einzuführen. Hätte
der Gesetzgeber diese Möglichkeit schaffen wollen, so hätte das ausdrücklicher
gesetzlicher Bestimmung bedurft.
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Hält man die Überweisungsvorschrift für anwendbar, so ist sie demzufolge ihrem Wortlaut gemäß auszulegen: Die Überweisung ist "nachträglich" möglich, wenn dadurch die Resozialisierung des Betroffenen besser gefördert werden kann (§ 67a Abs. 2 StGB), insbesondere die dort mögliche Behandlung
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oder auch nur Betreuung seinem Zustand am ehesten gerecht zu werden vermag.
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Das Landgericht hat all dies im rechtlichen Ansatz selbst so gesehen,
sich jedoch zur Schließung der von ihm angenommenen Gesetzeslücke berechtigt erachtet. Der Senat vermag dem nicht beizupflichten.
Wahl
Boetticher
Kolz
Schluckebier
Hebenstreit