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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
XII ZR 99/10
Verkündet am:
11. April 2012
Küpferle,
Justizamtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in der Familiensache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB §§ 1304, 1316 Abs. 3
a) In einem von der Verwaltungsbehörde beantragten Eheaufhebungsverfahren
ist das Eingreifen der Härteklausel (§ 1316 Abs. 3 BGB) vom Gericht eigenständig zu prüfen. Ist dies zu bejahen, hat das Gericht den Antrag der Verwaltungsbehörde als unzulässig abzuweisen.
b) Bei der Prüfung des Härtefalls ist das bestehende öffentliche Ordnungsinteresse gegen die privaten Interessen der Ehegatten und Kinder unter Beachtung der Grundrechtsgarantien des Art. 6 Abs. 1 GG abzuwägen. Eine Aufhebung der Ehe ist jedenfalls dann nicht geboten, wenn vom Standpunkt eines billig und gerecht denkenden Betrachters dem öffentlichen Interesse an
der Aufhebung kein wesentliches Gewicht mehr beigemessen werden kann.
BGH, Urteil vom 11. April 2012 - XII ZR 99/10 - OLG Schleswig
AG Schwarzenbek
-2-
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 11. April 2012 durch die Richter Dose, Dr. Klinkhammer, Schilling,
Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Antragsgegnerin zu 2 wird das Urteil des
2. Senats für Familiensachen des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 23. Juni 2010 aufgehoben.
Auf die Berufung der Antragsgegnerin zu 2 wird das Urteil des
Amtsgerichts Schwarzenbek vom 24. Januar 2008 abgeändert.
Der Antrag auf Aufhebung der am 7. April 2004 vor dem Standesamt A.
zwischen dem Antragsgegner zu 1 und der
Antragsgegnerin
Nr.
zu
2
geschlossenen
Ehe
(Heiratsregister
) wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1
Der Antragsteller begehrt als zuständige Verwaltungsbehörde die Aufhebung der am 7. April 2004 geschlossenen Ehe der Antragsgegner.
-3-
2
Der 1936 geborene Antragsgegner und die 1950 geborene Antragsgegnerin waren seit ca. 1973 partnerschaftlich verbunden. Sie wohnten zunächst in
getrennten Wohnungen. Im April 2003 wurde der Antragsgegner nach Alkoholmissbrauch und mit dem Verdacht auf Demenz vom Typ Alzheimer in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung einer Universitätsklinik nach den Vorschriften des schleswig-holsteinischen Psychisch-Kranken-Gesetzes (PsychKG
SH) untergebracht. Durch Beschluss vom 8. Mai 2003 bestellte das Amtsgericht
die Antragsgegnerin zur Betreuerin des Antragsgegners mit den Aufgabenkreisen der Gesundheitsvorsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögensangelegenheiten, Vertretung gegenüber Ämtern, Behörden und anderen Institutionen sowie der Organisation und Kontrolle angemessener häuslicher Pflege. Am
12. Mai 2003 wurde der Antragsgegner in ein auf demenzkranke Patienten spezialisiertes Seniorenheim verlegt. Am 3. Februar 2004 zog er in ein von der Antragsgegnerin aus Mitteln des Antragsgegners erworbenes Wohnhaus, in welchem beide Antragsgegner nach wie vor gemeinsam leben und die Antragsgegnerin den Antragsgegner pflegt.
3
Am 7. April 2004 fand die standesamtliche Trauung im Schlafzimmer der
Antragsgegner statt, am 5. Juni 2005 die kirchliche Trauung ebenfalls im Hause
der Antragsgegner.
4
Auf Anregung einer Nichte des Antragsgegners hat der Antragsteller die
Aufhebung der am 7. April 2004 geschlossenen Ehe mit der Begründung beantragt, der Antragsgegner sei zum Zeitpunkt der Eheschließung wegen Demenz
von Typ Alzheimer nicht ehegeschäftsfähig gewesen. Das Amtsgericht hat dem
Antrag nach Einholung eines Sachverständigengutachtens stattgegeben, das
Oberlandesgericht hat die Berufung der Antragsgegnerin nach weiterer Beweisaufnahme zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die zugelassene Revision der Antragsgegnerin.
-4-
Entscheidungsgründe:
5
Die zulässige Revision hat Erfolg. Sie führt zur Abweisung des Antrags
auf Aufhebung der Ehe als unzulässig.
6
Für das Verfahren ist gemäß Art. 111 Abs. 1 FGG-RG noch das bis Ende
August 2009 geltende Prozessrecht anzuwenden, weil der Rechtsstreit vor diesem Zeitpunkt eingeleitet wurde (vgl. Senatsbeschluss vom 3. November 2010
- XII ZB 197/10 FamRZ 2011, 100).
I.
7
Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsgegner sei bei der Eheschließung am 7. April
2004 nicht ehegeschäftsfähig gewesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass der Antragsgegner aufgrund seiner degenerativen
Hirnerkrankung mit einer dadurch bedingten krankhaften Störung der Geistestätigkeit die für die Eheschließung partiell erforderliche Geschäftsfähigkeit nicht
mehr gehabt habe. Er sei bei der Eheschließung und auch danach nicht in der
Lage gewesen, das Wesen der Ehe zu begreifen und eine freie Willensentscheidung zur Eingehung der Ehe zu treffen. Das ergebe sich aus den in beiden Tatsacheninstanzen eingeholten Sachverständigengutachten.
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Der Antrag der Verwaltungsbehörde auf Aufhebung der Ehe sei auch
nicht ermessensfehlerhaft gestellt. Die Antragstellung stehe im freien Ermessen
der Behörde. Voraussetzung für eine fehlerhafte Ermessensausübung sei das
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Vorliegen eines Härtefalls nach § 1316 Abs. 3 BGB. Ein solcher sei im konkreten Fall nicht ersichtlich. Gemeinsame Kinder seien aus der Ehe nicht hervorgegangen. Eine Härte für den Fall der Eheaufhebung ergebe sich für den Antragsgegner zwar insofern, als er mit seiner langjährigen Lebensgefährtin nicht
mehr verheiratet sei. Dieser Umstand reiche jedoch nicht aus, da ein Zusammenleben der Antragsgegner auch nach einer Aufhebung der Ehe nicht ausgeschlossen sei. Die Aufhebung der Ehe habe auch keinen Einfluss auf die Tätigkeit der Antragsgegnerin als Betreuerin und Pflegeperson für den Antragsgegner. Inwieweit sich durch die Aufhebung der Ehe die Versorgungslage der Antragsgegnerin verschlechtere, sei nicht vorgetragen. Eine ermessensfehlerhafte
Antragstellung ergebe sich auch nicht daraus, dass die Ehe von der Standesbeamtin bei sorgfältiger Prüfung der Sachlage nicht hätte geschlossen werden
dürfen. Denn die Ehegeschäftsfähigkeit habe abschließend erst nach umfangreicher gerichtlicher Beweisaufnahme geklärt werden können.
II.
9
Diese Ausführungen halten der revisionsgerichtlichen Überprüfung in einem entscheidenden Punkt, der die Zulässigkeit des Antrags betrifft, nicht
stand.
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1. Gemäß § 1304 BGB kann, wer geschäftsunfähig ist, eine Ehe nicht
eingehen. Geschäftsunfähig ist, wer sich in einem die freie Willensbestimmung
ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet,
sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§ 104 Nr. 2
BGB). Die Geschäftsfähigkeit im Sinne des § 1304 BGB ist unter Berücksichtigung der in Art. 6 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Eheschließungsfreiheit (vgl. BVerfG FamRZ 2003, 359) als "Ehegeschäftsfähigkeit" zu beurtei-
-6-
len. Bei dieser handelt es sich um einen Unterfall der Geschäftsfähigkeit, nach
der es darauf ankommt, ob der Eheschließende in der Lage ist, das Wesen der
Ehe zu begreifen und insoweit eine freie Willensentscheidung zu treffen. Wurde
eine Ehe durch einen Geschäftsunfähigen geschlossen, kann die Ehe durch
richterliche Entscheidung gemäß §§ 1313, 1314 Abs. 1 BGB aufgehoben werden.
11
2. Antragsberechtigt für das Verfahren der Eheaufhebung sind bei einem
Verstoß gegen § 1304 BGB jeder Ehegatte sowie die zuständige Verwaltungsbehörde (§ 1316 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Letztere hat den Antrag im vorliegenden
Verfahren gestellt.
12
Ob die Verwaltungsbehörde den Antrag auf Eheaufhebung stellt, liegt in
deren pflichtgemäßen Ermessen. Gemäß § 1316 Abs. 3 BGB soll die Behörde
den Antrag stellen, wenn nicht die Aufhebung der Ehe für einen Ehegatten oder
für die aus der Ehe hervorgegangenen Kinder eine so schwere Härte darstellen
würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint.
Das Eingreifen der Härteklausel ist vom Gericht eigenständig von Amts wegen
zu prüfen. Ist dies zu bejahen, hat das Gericht den Antrag der Verwaltungsbehörde
als
unzulässig
zurückzuweisen
(MünchKommBGB/Müller-Gindullis
5. Aufl. § 1316 BGB Rn. 10; Staudinger/Voppel BGB [2007] § 1316 Rn. 23;
jurisPK-BGB/Thorn 5. Aufl. § 1316 Rn. 17; Prütting/Wegen/Weinreich/Pieper
BGB § 1316 Rn. 7). Denn § 1316 BGB betrifft die Antragsberechtigung der Behörde, die durch § 1316 Abs. 3 BGB eingeschränkt wird. Auch würde die sachliche Überprüfung eines Eheaufhebungsgrundes aus § 1304 BGB bereits für
sich genommen einen belastenden Eingriff in die bestehende Ehe bedeuten,
welcher nur gerechtfertigt ist, wenn ein Härtefall, der die Aufrechterhaltung der
Ehe als geboten erscheinen lässt, nicht vorliegt.
-7-
13
3. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegen die Voraussetzungen einer schweren Härte im Sinne von § 1316 Abs. 3 BGB vor.
14
a) Die Vorschriften über die Aufhebung der Ehe wurden durch das Eheschließungsrechtsgesetz vom 4. Mai 1998 (BGBl. I S. 833) neu gefasst. Nach
der Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drucks. 13/4898 S. 20 f.) sollen
die Voraussetzungen der Härteklausel gegeben sein, wenn die Eheaufhebung
für die Ehegatten oder deren gemeinsame Kinder eine so schwere Härte bedeuten würde, dass bei verständiger Güterabwägung das Aufrechterhaltungsinteresse von Ehegatten und Kindern den staatlichen Ordnungsanspruch zweifelsfrei überwiegt.
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b) Bei der Ermessensentscheidung der Behörde darf allerdings nicht der
Grundrechtschutz des Art. 6 Abs. 1 GG außer Acht gelassen werden. Im Rahmen der Prüfung des Härtefalls ist das bestehende öffentliche Ordnungsinteresse gegen die privaten Interessen der Ehegatten und Kinder unter Beachtung
der Grundrechtsgarantien des Art. 6 Abs. 1 GG abzuwägen. Eine Aufhebung
der Ehe ist jedenfalls dann nicht geboten, wenn vom Standpunkt eines billig und
gerecht denkenden Betrachters dem öffentlichen Interesse an der Aufhebung
kein wesentliches Gewicht mehr beigemessen werden kann (vgl. Senatsurteil
vom 17. Januar 2001 - XII ZR 266/98 - FamRZ 2001, 685, 686; MünchKommBGB/Müller-Gindullis 5. Aufl. § 1316 BGB Rn. 11).
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c) Das vorrangige Ordnungsinteresse an einer Eheaufhebung in Fällen
des § 1304 BGB besteht in der Wahrung der Eheschließungsfreiheit an sich.
Diese setzt eine Ehegeschäftsfähigkeit im Zeitpunkt der Eheschließung voraus
(BVerfG FamRZ 2003, 359, 360 f.). Das Erfordernis der Ehegeschäftsfähigkeit
schränkt den freien Zugang zur Ehe nicht ein, sondern gewährleistet ihn, indem
es an der freien Willensbildung gehinderte Personen vor der Ehe "bewahrt".
-8-
17
Neben diesem grundrechtlich fundierten Interesse können weitere Ordnungsinteressen berührt sein, wenn die Ehe mit einem Geschäftsunfähigen etwa zu dem Zweck begründet wird, in den Genuss staatlicher Leistungen oder
anderer öffentlich-rechtlicher Vorteile zu kommen. Solche Interessen spielen im
vorliegenden Fall allerdings keine Rolle.
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Schließlich können Ordnungsinteressen berührt sein, wenn die Ehe mit
einem Geschäftsunfähigen zu dem Zweck begründet wird, eherechtliche Ansprüche der Ehegatten untereinander zu begründen, von denen ausschließlich
oder weit überwiegend der geschäftsfähige Ehepartner profitiert. Auch dieser
Fall ist hier nicht gegeben. Zwar lebt der Antragsgegner in guten Vermögensverhältnissen, an denen auch die Antragsgegnerin teilhat, soweit die Ehegatten
ihren gemeinsamen Lebensunterhalt daraus bestreiten. Dem steht jedoch gegenüber, dass die Antragsgegnerin den Antragsgegner aufgrund ihrer vom Berufungsgericht festgestellten, fast 40 Jahre bestehenden partnerschaftlichen
Verbundenheit seit der Manifestierung seiner Demenzerkrankung im Jahre
2003 in häuslicher Umgebung pflegt und dadurch ihre Fürsorge zum Ausdruck
bringt.
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Ebenfalls keine Ordnungsinteressen werden dadurch begründet, dass
die Nichte des Antragsgegners, die in gesetzlicher Erbfolge berufen sein könnte, die Eheaufhebung angeregt hat.
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d) Dem genannten Ordnungsinteresse der Wahrung der Eheschließungsfreiheit stehen gravierende Eheerhaltungsinteressen beider Ehegatten
gegenüber.
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Die Ehegatten leben seit nunmehr annähernd acht Jahren in ehelicher
Gemeinschaft. Während dieser gesamten Zeit hat die Antragsgegnerin ihren
Ehemann, mit dem eine Verständigung inzwischen nicht mehr möglich ist, ge-
-9-
pflegt. Diese langjährige Aufopferung ist typischer Ausdruck gelebter ehelicher
Solidarität in Verantwortungsgemeinschaft füreinander (§ 1353 Abs. 1 Satz 2
BGB). Die Antragsgegnerin, die im Hinblick auf ihre Pflegetätigkeit nach wie vor
keiner eigenen Erwerbstätigkeit nachgeht, bekennt sich auch weiterhin zu dieser Gemeinschaft und zu der Ehe. Durch eine Eheaufhebung würde der langjährig gewachsenen Lebensgemeinschaft der Antragsgegner die rechtliche und
gesellschaftliche Grundlage entzogen.
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e) Dieses Eheerhaltungsinteresse überwiegt das staatliche Ordnungsinteresse im vorliegenden Fall deutlich. Letzteres liegt, wie ausgeführt, hier im
Wesentlichen nur in der Wahrung der Eheschließungsfreiheit an sich. Der insoweit zu schützenden Person, dem Antragsgegner, ist mit der Wiederherstellung
seiner Eheschließungsfreiheit jedoch nicht gedient. Er ist nur noch auf die fortwährende fürsorgliche Pflege durch seine Ehefrau angewiesen. Hinzu kommt,
dass die Standesbeamtin über die besonderen Umstände und mögliche Bedenken gegen die Ehegeschäftsfähigkeit des Antragsgegners informiert war und
die Antragsgegnerin eine spätere Aufhebung der Ehe somit nicht befürchten
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musste. Bei diesen Gegebenheiten stellte die Aufhebung der Ehe für beide
Ehegatten eine so schwere Härte dar, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint. Somit fehlt es an der für die Aufhebung der
Ehe notwendigen Prozessvoraussetzung.
Dose
Klinkhammer
Günter
Schilling
Nedden-Boeger
Vorinstanzen:
AG Schwarzenbek, Entscheidung vom 24.01.2008 - 8 F 564/05 OLG Schleswig, Entscheidung vom 23.06.2010 - 10 UF 30/08 -