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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 77/11
Verkündet am:
19. Juni 2012
Holmes
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 823 Abs. 1 Aa
War ein grober Verstoß gegen den ärztlichen Standard grundsätzlich geeignet,
mehrere Gesundheitsschäden bekannter oder (noch) unbekannter Art zu verursachen, kommt eine Ausnahme vom Grundsatz der Beweislastumkehr bei grobem Behandlungsfehler regelmäßig nicht deshalb in Betracht, weil der eingetretene Gesundheitsschaden als mögliche Folge des groben Behandlungsfehlers
zum maßgebenden Zeitpunkt noch nicht bekannt war (Abgrenzung zum Senatsurteil vom 16. Juni 1981 - VI ZR 38/80, VersR 1981, 954).
BGH, Urteil vom 19. Juni 2012 - VI ZR 77/11 - OLG Frankfurt/Main
LG Fulda
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 19. Juni 2012 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Wellner,
Pauge, Stöhr und die Richterin von Pentz
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 14. Zivilsenats in
Kassel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 11. Januar
2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen fehlerhafter
ärztlicher Behandlung nach seiner Geburt im Klinikum der Beklagten in Anspruch.
2
Die Mutter des Klägers befand sich dort wegen vaginaler Blutungen von
der 12. bis zur 17. Schwangerschaftswoche in stationärer Behandlung. Ab dem
15. Januar 1991 wurde sie wegen placenta praevia totalis erneut in der Klinik
der Beklagten überwacht. Aufgrund lebensbedrohlicher Blutungen wurde die
Schwangerschaft am 16. Februar 1991 in der 32. Schwangerschaftswoche
durch Kaiserschnitt beendet und der Kläger geboren. Nach der 20. Lebens-
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stunde wurde der Kläger infolge Atemstillstands (schwere Apnoe) intubiert und
bis zum 5. Lebenstag maschinell beatmet. Am 3. Lebenstag wurde bei einer
Schädelsonographie eine Echogenitätsvermehrung in der Umgebung beider
Seitenventrikel festgestellt und als beginnender frühkindlicher Gehirnschaden
(periventrikuläre Leukomalazie - abgekürzt: PVL) gewertet. Der Kläger leidet als
Folge der PVL an einer plastischen Tetraparese mit schweren Mobilitäts-,
Atmungs- und Schluckstörungen sowie einem Anfallsleiden nach Hirnschädigung mit geistiger Beeinträchtigung. Er ist auf dauerhafte Pflege und Betreuung
angewiesen.
3
Mit seiner Klage hat der Kläger die Zahlung eines Schmerzensgeldes
verlangt, für das er eine einmalige Zahlung von 350.000 € sowie eine monatliche Schmerzensgeldrente von 400 € für angemessen hält. Ferner hat er die
Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten für sämtliche materiellen
Schäden begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen
gerichtete Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit
seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein
Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
4
Das Berufungsgericht hat einen Schadensersatzanspruch des Klägers
gegen die Beklagte aus § 831 Abs. 1 BGB, § 847 Abs. 1 BGB a.F. bzw. aus
(positiver) Verletzung des Behandlungsvertrages verneint. Durch eine zu intensive Einstellung des Beatmungsgeräts sei zwar eine ausgeprägte Hyperventilation des Klägers verursacht worden, deren Tolerierung bis zum 5. Lebenstag
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behandlungsfehlerhaft gewesen sei. Auch sei den Ärzten der Beklagten als weiterer Behandlungsfehler das Unterlassen engmaschiger Blutgasanalysen vorzuwerfen. Weil die erhobenen pCO2-Werte hochgradig pathologisch gewesen
seien, hätten kurzfristigere Kontrollen durchgeführt werden müssen. Nicht bewiesen sei jedoch, dass zwischen diesen Behandlungsfehlern und der eingetretenen PVL ein kausaler Zusammenhang bestehe. Zwar könnten auch niedrige
pCO2-Werte zu einer Verengung der Hirnarterien und damit zu einer zerebralen
Minderdurchblutung als Ursache einer PVL führen. Im Streitfall lasse sich aber
eine (Mit-)Ursächlichkeit der Hyperventilation für die aufgetretene PVL nicht
feststellen. Die Sachverständigen hätten übereinstimmend ausgeführt, dass
sich zum einen der genaue Zeitpunkt der Hirnschädigung nicht mehr eruieren
lasse, zum anderen hätten beim Kläger noch andere Risikofaktoren vorgelegen,
die für sich gesehen ebenfalls die PVL verursacht haben könnten. Die nicht
festzustellende Kausalität gehe zu Lasten des Klägers. Zwar habe der zweitinstanzliche Sachverständige die lückenhafte und viel zu grobmaschige Überwachung der Blutgase während der künstlichen Beatmung des frühgeborenen
Kindes und die unzureichende Reaktion auf die über mehrere Tage anhaltende
Hyperventilation als groben Behandlungsfehler bezeichnet. Eine Beweislastumkehr zugunsten des Klägers komme jedoch gleichwohl nicht in Betracht, weil
sich im Streitfall nicht das Risiko verwirklicht habe, dessen Nichtbeachtung den
Fehler als grob erscheinen lasse. Der Sachverständige habe - ausgehend vom
medizinischen Standardwissen zum Zeitpunkt der Geburt - die ärztliche Handlungspflicht damit begründet, dass die Reduzierung der künstlichen Beatmung
notwendig gewesen sei, um die Gefahr von Druckschädigungen an der noch
unreifen Lunge zu vermeiden. Auch sei seinerzeit schon bekannt gewesen,
dass durch ein Überangebot an Sauerstoff infolge fehlerhafter Beatmung Augenschäden verursacht werden könnten. Das Risiko einer Minderdurchblutung
des Gehirns durch eine Hyperventilation habe hingegen zum damaligen Zeit-
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punkt noch nicht zum medizinischen Standardwissen gehört. Da der Kläger weder Druckschäden an der noch unreifen Lunge noch Augenschäden erlitten habe, habe sich bei der Behandlung mithin ein Risiko verwirklicht, das für die behandelnden Ärzte keine Handlungspflicht begründet habe.
II.
5
Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält einer revisionsrechtlichen
Überprüfung nicht stand. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dem Kläger komme eine Beweislastumkehr wegen
eines groben Behandlungsfehlers nicht zugute.
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1. Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass
nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Senatsurteile vom
8. Januar 2008 - VI ZR 118/06, VersR 2008, 490 Rn. 11; vom 27. April 2004
- VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48 Rn. 16 und vom 16. November 2004 - VI ZR
328/03, VersR 2005, 228, 229) ein grober Behandlungsfehler regelmäßig zur
Umkehr der Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem
Gesundheitsschaden und dem Behandlungsfehler führt, wenn dieser generell
geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen. Es hat auch vom
Grundsatz her richtig erkannt, dass es hiervon Ausnahmen gibt. Eine Verlagerung der Beweislast auf die Behandlungsseite ist nach einem groben Behandlungsfehler ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist, sich nicht das Risiko verwirklicht
hat, dessen Nichtbeachtung den Fehler als grob erscheinen lässt, oder der Patient durch sein Verhalten eine selbständige Komponente für den Handlungserfolg vereitelt hat und dadurch in gleicher Weise wie der grobe Behandlungsfehler des Arztes dazu beigetragen hat, dass der Verlauf des Behandlungsgesche-
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hens nicht mehr aufgeklärt werden kann (vgl. Senatsurteile vom 8. Januar 2008
- VI ZR 118/06, VersR 2008, 490 Rn. 11; vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03,
BGHZ 159, 48 Rn. 16; vom 16. November 2004 - VI ZR 328/03, VersR 2005,
228, 229 und vom 16. Juni 1981 - VI ZR 38/80, VersR 1981, 954).
7
2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegt im Streitfall eine
Ausnahme vom Grundsatz der Beweislastumkehr bei einem groben Behandlungsfehler nicht vor.
8
a) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war es grob fehlerhaft, die künstliche Beatmung des Klägers nicht zu reduzieren, weil dies zu
schwersten Gesundheitsschäden führen konnte.
9
Nach den Ausführungen des zweitinstanzlichen Sachverständigen, denen das Berufungsgericht folgt, wurde die Hyperventilation des Klägers durch
eine zu intensive Einstellung des Beatmungsgeräts verursacht. Die Ärzte der
Beklagten hätten gegen die Verpflichtung verstoßen, das Beatmungsgerät so
einzustellen, dass eine Hyperventilation mit der damit einhergehenden Hypokapnie (erniedrigter Kohlenstoffdioxidpartialdruck im arteriellen Blut) nicht eintritt
und die Blutgaswerte im Normbereich um 40 mmHg ("Normokapnie") bleiben;
sie hätten insbesondere den aus den Blutgasanalysen ersichtlichen, hochgradig
pathologischen Werten durch eine Reduzierung der Beatmungsintensität begegnen müssen. Nach dem medizinischen Standardwissen zum Zeitpunkt der
Geburt des Klägers sei eine auf Normwerte ausgerichtete Dosierung der künstlichen Beatmung geboten gewesen. Sie habe der Gefahr von Druckschäden an
der noch unreifen Lunge vorbeugen sollen. Auch sei schon seinerzeit bekannt
gewesen, dass ein Überangebot von Sauerstoff infolge fehlerhafter Beatmung
Augenschäden verursachen könne.
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Auf dieser Grundlage ist die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Tolerierung der durch eine zu intensive Beatmung verursachten, über mehrere Tage
anhaltenden Hyperventilation bei hochgradig pathologischen Blutgaswerten sei
grob behandlungsfehlerhaft gewesen, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Die Hyperventilation war bereits aus damaliger (objektiver) Sicht nicht tolerabel, mögen auch nicht alle möglichen gesundheitlichen Schäden dieses unphysiologischen Vorgangs bekannt gewesen sein.
11
b) Der grobe Behandlungsfehler war auch generell geeignet, den beim
Kläger eingetretenen Gesundheitsschaden zu verursachen oder zumindest mit
zu verursachen. Nach den weiteren Ausführungen des Sachverständigen, denen das Berufungsgericht auch insoweit folgt, kann eine Hyperventilation mit
einhergehender Hypokapnie insbesondere zu einer Minderdurchblutung der
Endstromgebiete der Hirnarterien führen und damit eine PVL zumindest mitverursachen. Dass die Kenntnis von diesem Zusammenhang nach den Angaben
des Sachverständigen zum damaligen Zeitpunkt noch nicht zum medizinischen
Standardwissen gehörte, ist angesichts der gebotenen objektiven Betrachtung
unerheblich.
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c) Die entscheidende Erwägung des Berufungsgerichts, dem Kläger
komme im Streitfall gleichwohl keine Beweislastumkehr zugute, weil sich mit
der PVL nicht das Risiko verwirklicht habe, dessen Nichtbeachtung den Fehler
als grob erscheinen lasse, beruht auf einem Missverständnis der einschlägigen
Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 1981
- VI ZR 38/80, VersR 1981, 954).
13
aa) Die Umkehr der Beweislast im Falle eines groben Behandlungsfehlers hat ihren Grund (vgl. Senatsurteil vom 27. März 2007 - VI ZR 55/05, BGHZ
172, 1 Rn. 25) darin, dass das Spektrum der für den Misserfolg der ärztlichen
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Behandlung in Betracht kommenden Ursachen gerade wegen der elementaren
Bedeutung des Fehlers in besonderem Maße verbreitert bzw. verschoben worden ist (vgl. Senatsurteil vom 16. März 2010 - VI ZR 64/09, VersR 2010, 627
Rn. 18). Es entspricht deshalb der Billigkeit, die durch den Fehler in das Geschehen hineingetragene Aufklärungserschwernis nicht dem Geschädigten anzulasten (Senatsurteil vom 21. September 1982 - VI ZR 302/80, BGHZ 85, 212,
216). Für diese Billigkeitserwägungen bleibt aber dann kein Raum, wenn feststeht, dass nicht die dem Arzt zum groben Fehler gereichende Verkennung eines Risikos schadensursächlich geworden ist, sondern allenfalls ein in derselben Behandlungsentscheidung zum Ausdruck gekommener, aber nicht
schwerwiegender Verstoß gegen weitere ärztliche Sorgfaltspflichten (vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 1981 - VI ZR 38/80, VersR 1981, 954 Rn. 12).
14
bb) In dem damals entschiedenen Fall eines Behandlungsfehlers wegen
nicht ausreichender therapeutischer Aufklärung bei einer verfrühten Entlassung
eines Patienten nach einer Herzkatheteruntersuchung hatte sich dasjenige Risiko, dem der dortige Beklagte zur Vermeidung des Vorwurfs eines schweren
Behandlungsfehlers durch Aufklärung vorzubeugen hatte, nicht verwirklicht.
Vielmehr hatte sich ein anderes, statistisch selteneres und bei gewöhnlichem
Verlauf auch weniger schweres Risiko einer Infektion realisiert, dem es zwar
auch durch Aufklärung vorzubeugen galt, das aber bereits wegen seiner objektiv geringeren Schwere nicht geeignet war, einen groben Behandlungsfehler zu
begründen. Dem behandelnden Arzt waren mehrere Verstöße gegen ärztliche
Sorgfaltspflichten vorzuwerfen. Zum einen die grob fehlerhaft unterbliebene therapeutische Aufklärung über das Risiko von Störungen des Herz- Kreislaufsystems nach einer Herzkatheteruntersuchung, zum anderen das weniger schwerwiegende Versäumnis, den Patienten nicht auf die Gefahr einer Infektion hingewiesen zu haben. Damit ist der vorliegende Fall nicht vergleichbar.
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cc) Hier liegt nur ein Verstoß gegen die Pflicht zu standardgemäßer Behandlung vor. Die behandelnden Ärzte hätten die künstliche Beatmung so einstellen müssen, dass sie den Bedürfnissen des frühgeborenen Klägers entsprach. Stattdessen tolerierten die Ärzte der Beklagten über mehrere Tage hinweg ungeachtet hochpathologischer Blutgaswerte die durch eine zu stark dosierte Beatmung verursachte Hyperventilation mit der Folge der Hypokapnie.
Nur dieser eine - wie schon dargelegt als grob fehlerhaft zu bewertende - Verstoß gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht steht inmitten. Dass die beim Kläger
eingetretene Folge der Hypokapnie anders als andere schädliche Folgen der
Hyperventilation - Druckschäden an der noch unreifen Lunge des Frühgeborenen, Schäden an den Augen bei Sauerstoffüberangebot - zur fraglichen Zeit
noch nicht zum Standardwissen gehörte, ist wegen der auch in diesem Zusammenhang angezeigten objektiven Betrachtung nicht von Bedeutung, vermag also eine Ausnahme vom Grundsatz der Beweislastumkehr bei grobem
Behandlungsfehler nicht zu rechtfertigen. Das gilt hier auch deshalb, weil das
Spektrum der für den Misserfolg der ärztlichen Behandlung in Betracht kommenden Ursachen gerade wegen der über mehrere Tage anhaltenden Überbeatmung und der elementaren Bedeutung dieses Fehlers für die Gesundheit des
Klägers in
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besonderem Maße verbreitert bzw. verschoben wurde und zwar auch im Hinblick auf Gefahren der Hypokapnie, die damals noch nicht bekannt waren.
Galke
Wellner
Stöhr
Pauge
von Pentz
Vorinstanzen:
LG Fulda, Entscheidung vom 29.05.2008 - 2 O 528/03 OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 11.01.2011 - 14 U 120/08 -