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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 108/06
Verkündet am:
17. April 2007
B l u m,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 823 Abs. 1 Aa, Dd
a) Der Arzt hat den Patienten vor dem ersten Einsatz eines Medikaments, dessen
Wirksamkeit in der konkreten Behandlungssituation zunächst erprobt werden soll,
über dessen Risiken vollständig aufzuklären, damit der Patient entscheiden kann,
ob er in die Erprobung überhaupt einwilligen oder ob er wegen der möglichen Nebenwirkungen darauf verzichten will.
b) Kann ein Patient zu der Frage, ob er bei zutreffender ärztlicher Aufklärung in einen
Entscheidungskonflikt geraten wäre, nicht persönlich angehört werden (hier: wegen schwerer Hirnschäden), so hat das Gericht aufgrund einer umfassenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob der Patient aus nachvollziehbaren Gründen in einen ernsthaften Entscheidungskonflikt geraten sein könnte.
BGH, Urteil vom 17. April 2007 - VI ZR 108/06 - OLG Braunschweig
LG Göttingen
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 17. April 2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Wellner,
die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Braunschweig vom 4. Mai 2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten der
Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1
Die Klägerin nimmt die beklagte Universität wegen behaupteter ärztlicher
Fehler in deren medizinischen Einrichtungen auf Zahlung von Schmerzensgeld,
Ersatz materiellen Schadens und Feststellung in Anspruch. Der Klägerin wurde
bei einer stationären Behandlung in der Universitätsklinik seit dem 22. März
2000 zur Behandlung einer Herzarrhythmie das Medikament Cordarex (Amiodaron) verabreicht. Am 30. März 2000 erlitt sie in der Pause zwischen einer
durchgeführten und einer geplanten Myokardszintigraphie einen Kreislaufstillstand. Dieser konnte zwar innerhalb von 10 Minuten nach der Entdeckung durch Reanimation beendet werden, führte jedoch zu schweren bleiben-
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den Hirnschäden. Die Klägerin wirft den behandelnden Ärzten der Beklagten
Behandlungs- und Aufklärungsfehler vor.
2
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die
Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
3
Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist ein Behandlungsfehler der
behandelnden Ärzte nicht festzustellen. Den Ausführungen des gerichtlichen
Sachverständigen sei zu entnehmen, dass die Behandlung mit Amiodaron
(= Cordarex) indiziert gewesen sei, weil die vorherige Behandlung mit BetaBlockern zur symptomatischen Besserung bei erheblichem Leidensdruck und
ansonsten nicht ausreichend behandelbarem Vorhofflimmern nicht angeschlagen habe. Eine Kontraindikation habe nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht vorgelegen.
4
Auch ein Aufklärungsfehler sei zu verneinen. Eine Aufklärungspflicht habe (noch) nicht bestanden. Das Medikament Cordarex (Amiodaron) sei nach
den Ausführungen des Sachverständigen zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit
Ursache für den bei der Klägerin eingetretenen Herzstillstand gewesen. Das Risiko eines Herzstillstandes sei aber durch den Wechsel des HerzrhythmusMedikaments von Propafenon auf Cordarex nicht gesteigert, sondern vielmehr
gesenkt worden. Im Hinblick auf das Risiko des Eintritts eines Herzstillstandes
seien die Ärzte der Beklagten daher nicht zu einer Einwilligungsaufklärung verpflichtet gewesen, da insoweit ein gesteigertes Risiko nicht vorgelegen habe.
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Eine Aufklärungspflicht habe auch nicht hinsichtlich der sonstigen Risiken des Medikamentes Cordarex bestanden. Dabei sei nicht entscheidend,
dass sich bei der Klägerin keines dieser Risken verwirklicht habe. Maßgeblich
sei vielmehr, dass diese Risiken sich in dem erforderlichen Zeitraum der Erprobung zur Umstellung auf Cordarex - nämlich zehn Tage - gar nicht hätten verwirklichen können. Zumindest für diese Phase der therapeutischen Abklärung,
ob ein Medikamentenwechsel sinnvoll sei, habe daher noch keine Aufklärungspflicht seitens der Beklagten bestanden. Solange in der Phase der Feststellung,
ob das andere Medikament dem Patienten überhaupt helfe, eine Risikoerhöhung - wie hier - ausgeschlossen sei, fehle es an einem einwilligungsbedürftigen Eingriff. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten werde nicht beeinträchtigt. Allerdings habe vor Beginn einer Dauermedikamentierung die Aufklärung der Klägerin über die erst damit verbundenen Nebenwirkungsrisiken erfolgen müssen. Darauf komme es hier aber nicht an, da sich diese Frage nicht
mehr gestellt habe.
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Unterstelle man das Bestehen einer Aufklärungspflicht, so hafte die Beklagte nicht, weil die Cordarex-Gabe durch eine hypothetische Einwilligung der
Klägerin gedeckt gewesen wäre. Einen Entscheidungskonflikt habe die Klägerin
bereits nicht hinreichend dargelegt. Dass sie infolge ihrer erheblichen kognitiven
Beeinträchtigung und spastischen Störung infolge des Hirnschadens zum Entscheidungskonflikt nicht persönlich angehört werden könne, gehe zu ihren Lasten. Die fehlende persönliche Anhörung werde auch nicht durch unstreitige oder
aufklärbare streitige Umstände kompensiert. Zum Zeitpunkt der probeweisen
Umstellung der Medikation ab 22. März 2000 auf Cordarex habe unstreitig festgestanden, dass bei der Klägerin eine absolute Tachyarrhythmie bestand, die
sich als mit Beta-Blockern nicht behandelbar herausgestellt habe. Daraus, dass
die Klägerin behaupte, sie habe zunächst nur die Verträglichkeit ihrer Herzmittel
mit ihren nach dem Selbstmord ihres Mannes verordneten Antidepressiva bei
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der Beklagten abklären lassen wollen, lasse sich für ihre Entscheidungslage
zum 22. März 2000 nichts ableiten. Vielmehr spreche der Umstand, dass sich
die Klägerin um einen kompatiblen Zustand der Medikamente bemüht habe,
eher dafür, dass sie sowohl ihre Depressionen als auch ihre Herzrhythmusstörungen grundsätzlich weiterhin habe behandeln lassen wollen. Ausreichende
Anhaltspunkte für einen Entscheidungskonflikt fänden sich jedenfalls nicht.
II.
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Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision, welche sich ausschließlich gegen die Verneinung der Haftung wegen eines Aufklärungsversäumnisses wenden, nicht stand.
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1. Im Ansatz zutreffend ist allerdings der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts. Der Arzt, der Medikamente, die sich als für die Behandlung der Beschwerden des Patienten ungeeignet erwiesen haben, durch ein anderes Medikament ersetzt, dessen Verabreichung für den Patienten mit dem Risiko erheblicher Nebenwirkungen verbunden ist, hat den Patienten zur Sicherung seines
Selbstbestimmungsrechts über den beabsichtigten Einsatz des neuen Medikaments und dessen Risiken aufzuklären (sogenannte Eingriffs- oder Risikoaufklärung). Tut er dies nicht, ist die Behandlung rechtswidrig, auch wenn der Einsatz des Medikaments an sich sachgerecht war (vgl. Senatsurteile BGHZ 162,
320, 323 f.; vom 27. Oktober 1981 - VI ZR 69/80 - VersR 1982, 147, 148 f. =
AHRS 5100/5; vgl. auch für den Fall einer Routineimpfung Senatsurteil BGHZ
144, 1, 5). Das Berufungsgericht stellt fest, dass die Behandlung mit Cordarex
mit einer Wahrscheinlichkeit von 35% nachteilige Nebenwirkungen im Bereich
der Lunge, der Schilddrüse, der Augen und der Haut nach sich ziehe und dass
Cordarex deshalb als Reservemedikament erst zum Einsatz kommen solle,
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wenn andere weniger riskante Mittel nicht anschlagen. Die Revision weist ergänzend darauf hin, dass es sich bei den zu befürchtenden Nebenwirkungen
um Schilddrüsenfunktionsstörungen, schwere entzündliche Lungenerkrankungen und Leberschäden, periphere Neuropathien und/oder Myopathien sowie
Augenschäden, und ferner um Erkrankungen des Blutes und des Lymphsystems, der Gefäße, des Gastrointestinaltrakts, der Haut, des Nervensystems, der
Geschlechtsorgane und Brustdrüsen, der Nieren- und Harnwege sowie der
Skelettmuskulatur und des Bindegewebes handele. Unter diesen Umständen
bejaht das Berufungsgericht zutreffend eine grundsätzliche Aufklärungspflicht
des Arztes über die beabsichtigte Behandlung mit Cordarex und die damit verbundenen Risiken.
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2. Nicht gefolgt werden kann jedoch der Auffassung des Berufungsgerichts, über die zwar seltene, aber möglicherweise mit schwer wiegenden Folgen verbundene Komplikation eines Herzstillstandes habe hier deshalb nicht
aufgeklärt werden müssen, weil das abgesetzte Medikament insoweit gefährlicher, die konkrete Gefahr durch den Einsatz des Cordarex demnach vermindert
worden sei.
10
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war der Einsatz des
Medikaments Cordarex mit hoher Wahrscheinlichkeit die Ursache für den Herzstillstand. Für das Revisionsverfahren ist deshalb zu unterstellen, dass dies tatsächlich der Fall war. Muss - wovon nach dem bisherigen Sachstand auszugehen ist - das Risiko eines Herzstillstandes als typisches Risiko der Verabreichung von Cordarex angesehen werden, so war wegen der schwer wiegenden
Folgen eine Aufklärung auch hierüber erforderlich. Entscheidend für die ärztliche Hinweispflicht ist nicht ein bestimmter Grad der Risikodichte, insbesondere
nicht eine bestimmte Statistik, sondern vielmehr, ob das betreffende Risiko dem
Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung
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des Patienten besonders belastet, so dass grundsätzlich auch über derartige
äußerst seltene Risiken aufzuklären ist (Senatsurteile BGHZ 144, 1, 5 f. und
vom 21. November 1995 - VI ZR 341/94 - VersR 1996, 330, 331; ferner BGHZ
126, 386, 389).
11
Der Hinweis des Berufungsgerichts darauf, dass das Risiko eines Herzstillstandes durch das der Klägerin zuvor verabreichte Medikament Propafenon
höher gewesen sei, führt schon deshalb nicht weiter, weil nicht festgestellt ist,
dass die Klägerin über diese Wirkung des Propafenon aufgeklärt worden ist und
gleichwohl mit seiner Verabreichung einverstanden war. Ohnehin können die
Risiken einer zuvor erfolgten ärztlichen Behandlung mit den Risiken der nunmehr vorgenommenen Behandlung nicht "verrechnet" werden. Vielmehr ist der
Patient vor dem Einsatz eines neuen Medikaments über dessen Risiken vollständig aufzuklären (Senatsurteil BGHZ 162, 320, 323 ff. m.w.N.).
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3. Nicht zu billigen ist auch die Ansicht des Berufungsgerichts, der Einsatz eines neuen Medikaments sei ohne Einwilligung des Patienten vorübergehend zulässig, wenn zunächst ermittelt werden solle, ob das Medikament überhaupt anschlage und sich dessen Risiken in der Erprobungsphase der Medikation noch nicht auswirkten.
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a) Insoweit ist bereits zweifelhaft, ob das Berufungsgericht den Sachvortrag der Parteien und das Ergebnis der Beweisaufnahme ausreichend in Betracht gezogen hat. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Beklagte darauf berufen hat, sie habe von einer Aufklärung der Klägerin nur vorübergehend absehen
und diese bei einem Anschlagen des Medikaments vor Beginn der Dauermedikation nachholen wollen. Mit Recht macht die Revision auch geltend, die Zeitberechnungen des Berufungsgerichts könnten auf einem fehlerhaften Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen beruhen. Diese seien ledig-
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lich dahin zu verstehen, dass die Verwirklichung der beschriebenen Risiken in
dem kurzen Zeitraum, in dem das Cordarex hier verabreicht wurde, noch nicht
durch das Auftreten konkreter Krankheitserscheinungen sichtbar geworden wären, nicht aber dahin, dass sie in diesem Zeitraum noch nicht hätten entstehen
können. Dem Berufungsurteil ist nicht zu entnehmen, dass sich das Berufungsgericht dieser möglichen Differenzierung bewusst gewesen und dass dieser
Gesichtspunkt mit dem Sachverständigen erörtert worden ist.
14
b) Vor allem aber kann den Ausführungen des Berufungsgerichts auch
aus grundsätzlichen Erwägungen nicht gefolgt werden. Ergeben sich beim Einsatz eines Medikaments für den Patienten andere Risiken als bei der bisherigen
Medikation, ist der Patient bereits vor dessen erstem Einsatz entsprechend aufzuklären. Nur so wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in ausreichender Weise gewahrt. Nur so wird auch vermieden, dass eine haftungsrechtliche "Grauzone" für die Erprobungsphase eines neuen Medikaments entsteht.
Auch könnte es das Selbstbestimmungsrecht des Patienten beeinträchtigen,
wenn die Aufklärung bzw. seine Entscheidung über den Einsatz des Medikaments auf einen Zeitpunkt verschoben würde, in dem möglicherweise der Eindruck der Beschwerdelinderung durch einen einsetzenden Therapieerfolg den
Blick auf die erheblichen Risiken der Medikation verstellen kann.
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Erforderlich ist vielmehr, dass der Patient bereits vor dem ersten Einsatz
eines neuen Medikaments über dessen Risiken aufgeklärt wird, damit er entscheiden kann, ob er in dessen Erprobung überhaupt einwilligen oder ob er wegen der möglichen Nebenwirkungen von vornherein darauf verzichten will.
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4. Schließlich sind auch die Ausführungen des Berufungsgerichts zur
hypothetischen Einwilligung der Klägerin von Rechtsfehlern beeinflusst.
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a) Der Einwand der Behandlungsseite, der Patient hätte sich einem Eingriff auch bei zutreffender Aufklärung über dessen Risiken unterzogen, ist
grundsätzlich beachtlich (Senatsurteil BGHZ 90, 103, 111 = AHRS 1050/12).
Den Arzt trifft insoweit die Behauptungs- und Beweislast. Er ist mit dem Beweis
für seine Behauptung, dass der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den
Eingriff eingewilligt haben würde, allerdings nur zu belasten, wenn der Patient
zur Überzeugung des Tatrichters plausibel macht, dass er, wären ihm rechtzeitig die Risiken der Behandlung verdeutlicht worden, vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte, wobei an die Substantiierungspflicht zur Darlegung eines solchen Konflikts keine zu hohen Anforderungen gestellt werden
dürfen (Senatsurteile vom 7. April 1992 - VI ZR 192/91 - VersR 1992, 960, 962
= AHRS 1050/55; vom 14. Juni 1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302 =
AHRS 1050/128 und 6805/105 m.w.N.). Feststellungen darüber, wie sich ein
Patient bei ausreichender Aufklärung entschieden hätte, und ob er in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, darf der Tatrichter grundsätzlich nicht ohne
persönliche Anhörung des Patienten treffen; ein Ausnahmefall kann vorliegen,
wenn schon die unstreitigen äußeren Umstände eine sichere Beurteilung der
hypothetischen Entscheidungssituation erlauben (vgl. Senatsurteile vom
26. Juni 1990 - VI ZR 289/89 - VersR 1990, 1238, 1240 = AHRS 6180/38; vom
1. Februar 2005 - VI ZR 174/03 - VersR 2005, 694 m.w.N.). Von diesen
Grundsätzen geht das Berufungsgericht im Ansatz zutreffend aus.
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b) In ihrer Verallgemeinerung unrichtig ist indes die zum Rechtssatz erhobene Aussage des Berufungsgerichts, die Unmöglichkeit der persönlichen
Anhörung des Patienten zum Entscheidungskonflikt wirke sich grundsätzlich zu
dessen Lasten aus. Der erkennende Senat fordert für den Regelfall eine per-
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sönliche Anhörung des Patienten, um zu vermeiden, dass das Gericht für die
Verneinung eines Entscheidungskonflikts vorschnell auf das abstellt, was bei
objektiver Betrachtung als nahe liegend oder vernünftig erscheint, ohne die persönlichen, möglicherweise weniger nahe liegenden oder als unvernünftig erscheinenden Erwägungen des Patienten ausreichend in Betracht zu ziehen. Die
persönliche Anhörung soll es dem Gericht ermöglichen, den anwaltlich vorgetragenen Gründen für und gegen einen Entscheidungskonflikt durch konkrete
Nachfragen nachzugehen und sie auch aufgrund des persönlichen Eindrucks
vom Patienten sachgerecht beurteilen zu können. Dabei muss im Auge behalten werden, dass an den Nachweis einer hypothetischen Einwilligung durch die
Behandlungsseite grundsätzlich strenge Anforderungen zu stellen sind, damit
das Aufklärungsrecht des Patienten nicht auf diesem Wege unterlaufen wird
(Senatsurteil vom 14. Juni 1994 - VI ZR 260/93 - aaO), und dass die Darlegung
eines echten Entscheidungskonflikts durch den Patienten gefordert wird, um einem Missbrauch des Aufklärungsrechts allein für Haftungszwecke vorzubeugen
(vgl. Senatsurteil BGHZ 90, 103, 112).
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Danach scheidet eine schematische Beantwortung der vom Berufungsgericht aufgeworfenen Frage aus. Alleine unter Berücksichtigung der aufgezeigten Spannungslage lässt sich im konkreten Einzelfall beurteilen, ob und in welcher Richtung sich die Unmöglichkeit der persönlichen Anhörung des Patienten
auswirkt. Sofern aufgrund der objektiven Umstände ein echter Entscheidungskonflikt eher fern, eine haftungsrechtliche Ausnutzung des Aufklärungsversäumnisses eher nahe liegt, ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der
Tatrichter eine hypothetische Einwilligung bejaht, obwohl der Patient dazu nicht
persönlich angehört werden konnte. Ist indes nicht auszuschließen, dass sich
der Patient unter Berücksichtigung des zu behandelnden Leidens und der Risiken, über die aufzuklären war, aus vielleicht nicht gerade "vernünftigen", jedenfalls aber nachvollziehbaren Gründen für eine Ablehnung der Behandlung ent-
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schieden haben könnte, kommt ein echter Entscheidungskonflikt in Betracht. In
einem solchen Fall darf der Tatrichter nicht alleine aufgrund der Unmöglichkeit
der persönlichen Anhörung eine dem Patienten nachteilige Wertung vornehmen.
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Deshalb kann auch der Revision nicht in vollem Umfang gefolgt werden,
soweit sie die Ansicht vertritt, der behandelnde Arzt handele stets treuwidrig,
wenn er sich auf eine hypothetische Einwilligung des Patienten berufe, obwohl
dieser einen Entscheidungskonflikt nicht mehr darlegen könne. Richtig ist lediglich, dass die Behandlungsseite die Folgen der Unaufklärbarkeit zu tragen hat,
wenn ein echter Entscheidungskonflikt ernsthaft in Betracht kommt. Ob dies der
Fall ist, kann aber - wie ausgeführt - nur aufgrund einer umfassenden Abwägung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls festgestellt werden.
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Da es demnach auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls ankommt,
besteht zwischen den Entscheidungen des OLG Bamberg (VersR 1998, 1025 =
AHRS 4265/124 und 5400/134; Revision der Kläger nicht angenommen durch
Senatsbeschluss vom 3. Februar 1998 - VI ZR 226/97) und des OLG Oldenburg
(VersR 2001, 1381 = AHRS 4370/301; Revision der Beklagten nicht angenommen durch Senatsbeschluss vom 12. Dezember 2000 - VI ZR 237/00) nicht der
vom Berufungsgericht als rechtsgrundsätzlich interpretierte Widerspruch.
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c) Die Wertung der Umstände des vorliegenden Falls durch das Berufungsgericht dahin gehend, dass von einer hypothetischen Einwilligung der Klägerin auszugehen sei, beanstandet die Revision mit Recht.
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Das Berufungsgericht führt dazu lediglich aus, zu Beginn der Medikation
mit Cordarex habe festgestanden, dass bei der Klägerin eine absolute Tachyarrhythmie bestand, die sich mit Beta-Blockern als nicht behandelbar herausgestellt habe. Der Umstand, dass sich die Klägerin um einen kompatiblen Zustand
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der Medikamente bemüht habe, spreche dafür, dass sie sowohl ihre Depressionen als auch ihre Herzrhythmusstörungen grundsätzlich weiterhin habe behandeln lassen wollen. Ausreichende Anhaltspunkte für einen Entscheidungskonflikt fänden sich deshalb nicht. Dem lässt sich nicht entnehmen, dass das Berufungsgericht sämtliche Umstände, aus denen sich nach dem vorgetragenen und
festgestellten Sachverhalt ein Entscheidungskonflikt ergeben konnte, in seine
Würdigung einbezogen hat.
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Der Würdigung war eine vollständige Aufklärung der Klägerin über die
Nebenwirkungen des Cordarex, wie sie nach den vorstehenden Ausführungen
erforderlich war, zugrunde zu legen. Die Revision verweist insoweit mit Recht
darauf, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen der Einsatz des
Medikaments nicht zum Zweck einer lebensverlängernden Behandlung, sondern zur Besserung der Beschwerden der Klägerin erfolgte und dass deshalb
dem Nutzen einer Leidenslinderung die ganz erheblichen mit nicht unerheblicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Gefahren des Medikaments hätten gegenüber gestellt werden müssen. Ein Entscheidungskonflikt liegt aber auf der
Hand, wenn beim Einsatz eines Medikaments, das der Besserung der Beschwerden durch Herzrhythmusstörungen dienen soll, mit einer Wahrscheinlichkeit von 35% erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen wie etwa Schilddrüsenfunktionsstörungen, schwere entzündliche Lungenerkrankungen und Leberschäden, periphere Neuropathien oder Myopathien und - wenn auch mit geringer Wahrscheinlichkeit - ein Herzstillstand zu erwarten sind. Es mag sein,
dass sich in einer solchen Situation eine Mehrheit der Patienten in der Hoffnung, die Nebenwirkungen würden sich nicht einstellen, für eine erfolgreiche
Linderung der Beschwerden entscheidet. Darauf kommt es aber nicht an. Entscheidend ist, dass eine Konfliktlage zwischen dem Wunsch, die gegenwärtigen
Beschwerden zu lindern, und der Gefahr, deshalb später erhebliche Gesund-
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heitsschäden hinnehmen zu müssen, durchaus besteht und der Patient sich in
diesem Konflikt eigenverantwortlich entscheiden muss.
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Das Berufungsgericht hätte deshalb unter den Umständen des Streitfalls
eine hypothetische Einwilligung der Klägerin nicht bejahen dürfen. Dafür, dass
die Beklagte den ihr insoweit obliegenden Beweis durch vorhandene Beweismittel führen könnte, ist nichts ersichtlich.
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III.
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Die Klageabweisung erweist sich mit der dafür im Berufungsurteil gegebenen Begründung danach als unrichtig, so dass die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden
muss. Das Berufungsgericht erhält dadurch auch Gelegenheit, die noch erforderlichen Feststellungen zur Ursächlichkeit der Einnahme von Cordarex für den
Herzstillstand der Klägerin zu treffen.
Müller
Wellner
Stöhr
Diederichsen
Zoll
Vorinstanzen:
LG Göttingen, Entscheidung vom 02.12.2004 - 2 O 612/03 OLG Braunschweig, Entscheidung vom 04.05.2006 - 1 U 102/04 -