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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
KVR 38/17
Verkündet am:
12. Juni 2018
Bürk
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Kartellverwaltungsverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
Holzvermarktung Baden-Württemberg
GWB § 32b Abs. 2 Nr. 1
a) Eine die Kartellbehörde zur Aufhebung einer Verpflichtungszusagenentscheidung berechtigende Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in einem
für die Verfügung wesentlichen Punkt ist nicht schon dann anzunehmen,
wenn der Kartellbehörde nachträglich wesentliche Tatsachen bekannt werden, die bereits bei Erlass der Verfügung vorgelegen haben.
b) Das nachträgliche Bekanntwerden wesentlicher Umstände genügt vielmehr
nur dann, wenn diese Umstände entweder zuvor allgemein unbekannt waren
oder von der Kartellbehörde deshalb nicht in Erfahrung gebracht werden
konnten, weil sie mit der Aufdeckung solcher Umstände durch weitere Ermittlungen nicht rechnen musste. Entsprechendes gilt für prognostizierte Auswirkungen der Verpflichtungszusagen auf die Marktverhältnisse. Eine ausbleibende positive Entwicklung des Wettbewerbs kann nur dann zur Wiederaufnahme des Verfahrens berechtigen, wenn sie nicht vorhersehbar war.
BGH, Beschluss vom 12. Juni 2018 - KVR 38/17 - OLG Düsseldorf
ECLI:DE:BGH:2018:120618BKVR38.17.0
-2-
Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 10. April 2018 durch die Präsidentin des Bundesgerichtshofs Limperg, die
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck und Dr. Raum sowie die Richter
Sunder und Dr. Deichfuß
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss
des 1. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom
15. März 2017 teilweise aufgehoben.
Auf die Beschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Bundeskartellamts vom 9. Juli 2015 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 16. Juli 2015 und des Änderungsbeschlusses vom 1. Oktober 2015 insgesamt aufgehoben.
Das Bundeskartellamt hat die Kosten des Verfahrens und die zur
zweckentsprechenden Erledigung der Angelegenheit notwendigen
Kosten des Betroffenen zu tragen. Sonstige außergerichtliche
Kosten werden nicht erstattet.
Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 30 Millionen
Euro festgesetzt.
-3-
Gründe:
1
I. Der Betroffene, das Land Baden-Württemberg, betreibt neben dem
Verkauf von Holz aus dem landeseigenen Staatswald die Vermarktung von
Holz, insbesondere Nadelstammholz, aus Körperschafts- und Privatwald. Hierbei fasst das betroffene Land die jeweils zum Verkauf stehenden Holzmengen
aus den verschiedenen Waldbesitzarten zu einheitlichen Angeboten zusammen. Die Verträge mit Abnehmern werden entweder zentral über die Landesforstverwaltung (Forst BW) oder über die unteren Forstbehörden geschlossen,
wobei das Land im Hinblick auf das aus Körperschafts- oder Privatwald stammende Holz in rechtsgeschäftlicher Vertretung für die jeweiligen kommunalen
oder privaten Waldeigentümer handelt. Der beschriebenen Angebotsbündelung
liegen Vereinbarungen des Landes mit den anderen beteiligten Waldeigentümern zugrunde, durch die das Land gegen Zahlung von Kostenbeiträgen die
Wirtschaftsverwaltung des betroffenen Waldbesitzes und gegebenenfalls auch
weitere forstwirtschaftliche Dienstleistungen übernimmt.
2
Von der gesamten Waldfläche in Baden-Württemberg entfallen rund 24%
auf landeseigenen Staatswald, rund 38% auf Körperschaftswald, der nahezu
ausschließlich in kommunalem Eigentum steht, und rund 37% auf Privatwald,
der von ungefähr 260.000 einzelnen Eigentümern gehalten wird. Gut ein Drittel
des Privatwaldes gehört Waldbesitzern, die über eine Waldfläche von mehr als
100 ha verfügen. Im Jahr 2011 erzielte das Land aus dem gebündelten waldbesitzartübergreifenden Holzverkauf Umsätze in Höhe von insgesamt etwa 400
bis 450 Mio. €, wovon ca. 80% bis 90% auf Stammholz und hiervon wiederum
etwa 90% auf Nadelstammholz entfielen.
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-4-
Das Bundeskartellamt war mit der Vermarktungspraxis des betroffenen
Landes bereits in einem früheren Verfahren befasst, nachdem der Verband der
Deutschen Säge- und Holzindustrie e.V. (VDS) mit Schreiben vom 10. Oktober
2001 Beschwerde geführt und beanstandet hatte, dass in Baden-Württemberg,
wie auch in anderen Bundesländern, eine weitgehende Vereinheitlichung der
Verkaufspreise und -konditionen eingetreten sei, was zu einem nahezu vollständigen Ausschluss des Wettbewerbs zwischen den Holzanbietern geführt
habe. Nach ausgiebigen Verhandlungen gab das Land Baden-Württemberg
Verpflichtungszusagen ab, die das Amt mit Beschluss vom 9. Dezember 2008
gemäß § 32b Abs. 1 Satz 1, 2 GWB für bindend erklärte. Eine umfassende
Marktbefragung hatte das Amt im Laufe des Verfahrens nicht vorgenommen.
4
Gemäß seinen Zusagen verpflichtete sich das betroffene Land, sich an
Holzvermarktungskooperationen mit privaten oder kommunalen Forstunternehmen nur dann (weiterhin) zu beteiligen, wenn die Forstbetriebsfläche keines
der beteiligten nichtstaatlichen Unternehmen 3.000 ha übersteigt. Dieser
Schwellenwert galt auch für die einzelnen Mitglieder von nichtstaatlichen Kooperationen, die sich an der gemeinsamen Holzvermarktung beteiligten. Die
Gesamtforstbetriebsfläche einer solchen Kooperation durfte zudem 8.000 ha
nicht übersteigen. Des Weiteren verpflichtete sich das Land sicherzustellen,
dass Kooperationsinitiativen außerhalb des Holzvermarktungssystems der
staatlichen Forstverwaltungen in keiner Weise behindert, sondern stattdessen
im Sinne einer „Hilfe zur Selbsthilfe“ unterstützt werden. Außerdem sagte das
Land zu, die Professionalisierung privater und kommunaler Kooperationen zu
fördern, um sie zum selbständigen Marktauftritt beim Holzverkauf zu befähigen.
Schließlich übernahm das Land – insoweit befristet bis Ende 2013 – die Initiierung und Begleitung von mindestens fünf konkreten Pilotprojekten eigenständiger privater und/oder kommunaler Vermarktungskooperationen sowie – insoweit befristet bis zum 31. Januar 2014 – Mitteilungspflichten im Hinblick auf
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Vermarktungskooperationen im Rahmen der gebündelten Holzvermarktung
(Monitoring).
5
Nach Abschluss des ersten Verfahrens erreichten das Bundeskartellamt
weitere Beschwerden, insbesondere privater Vermarktungsorganisationen, die
eine mangelnde Förderung und Unterstützung ihrer Arbeit durch die Landesforstverwaltung in Baden-Württemberg beklagten. Im September 2012 kündigte
das Amt dem Land an, Ermittlungen zu den Marktverhältnissen in BadenWürttemberg durchzuführen, um die Wirksamkeit der Verpflichtungszusagen
einschätzen zu können. Im weiteren Verlauf holte das Amt Auskünfte von 306
Sägewerken mit Sitz in Baden-Württemberg ein und befragte zehn forstwirtschaftliche Zusammenschlüsse, die (mit einer Ausnahme) erst nach dem Beschluss vom 9. Dezember 2008 entstanden sind und ihren Holzverkauf (weitgehend oder teilweise) unabhängig von Forst BW organisieren.
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Mit Beschluss vom 9. Juli 2015 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 16. Juli 2015 und des Änderungsbeschlusses vom 1. Oktober
2015 hat das Bundeskartellamt seine Entscheidung vom 9. Dezember 2008
aufgehoben und festgestellt, dass die Vereinbarungen zur gemeinsamen Vermarktung von Nadelstammholz zwischen dem betroffenen Land und Privat- sowie Körperschaftswaldbesitzern gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV bzw. § 1 GWB
verstoßen und nicht nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 GWB freigestellt sind,
soweit eine Körperschaft, ein Privatwaldbesitzer oder ein forstwirtschaftlicher
Zusammenschluss jeweils über eine Waldfläche von über 100 ha verfügen. Das
Amt hat dem Land insbesondere untersagt, nach dem Ablauf von Übergangsfristen für Privat- und Körperschaftswaldbesitzer Holz zu verkaufen und zu fakturieren, soweit diese jeweils eine Waldfläche von 100 ha oder mehr besitzen.
Unter den gleichen Voraussetzungen hat es dem Land untersagt, für diese
Waldbesitzer Holz auszuzeichnen, Holzerntemaßnahmen zu betreuen, Holz
aufzunehmen und Holzlisten zu drucken oder diese Leistungen durch Personen
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erbringen zu lassen, die in die Forstverwaltung in näher bezeichneter Weise
eingebunden oder als Informationsmittler geeignet sind. Weitere Beschränkungen betreffen die Erbringung forstwirtschaftlicher Dienstleistungen, die in einem
Zusammenhang mit der Holzvermarktung gesehen werden. Hierzu zählen die
jährliche Betriebsplanung, die forsttechnische Betriebsleitung, der forstliche Revierdienst, der periodische Betriebsplan sowie die Betreuung und technische
Hilfe gegenüber Privatwaldbesitzern.
7
Das Bundeskartellamt hat zur Begründung der Abstellungsverfügung u.a.
ausgeführt, dass die in dem Beschluss vom 9. Dezember 2008 festgelegten
Schwellenwerte von 3.000 bzw. 8.000 ha nach den durchgeführten Ermittlungen nicht annähernd ausreichten, um das Ziel einer wettbewerblichen Angebotsstruktur bei der Vermarktung von Rundholz in Baden-Württemberg zu erreichen. Außerdem sei davon auszugehen, dass sowohl private als auch körperschaftliche Waldbesitzer, die über eine Waldfläche von mehr als 100 ha verfügen, tatsächlich in der Lage seien, ihr Rundholz unabhängig vom Land wirtschaftlich selbständig zu vermarkten. Die Übernahme der näher bezeichneten
forstwirtschaftlichen Dienstleistungen für dritte Waldbesitzer führe zu einer
spürbaren Verstärkung der durch den waldbesitzartübergreifenden gebündelten
Rundholzverkauf bezweckten und bewirkten Wettbewerbsbeschränkung.
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Das Oberlandesgericht hat auf die Beschwerde des Landes die angegriffene Abstellungsverfügung nur in geringem Umfang aufgehoben und sie unter
Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels insgesamt wie folgt neu gefasst:
I. Die Entscheidung vom 9. Dezember 2008 - B 2-90/01-4 - wird mit Wirkung
für die Zukunft aufgehoben.
II. Die Vereinbarungen zur gemeinsamen Vermarktung von Nadelstammholz
(im Folgenden als Holz bezeichnet) zwischen dem Land Baden-Württemberg
und Privat- und Körperschaftswaldbesitzern verstoßen, soweit sie die in den
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Tenoraussprüchen zu III. a. und b. und zu IV. genannten Dienstleistungen
zum Gegenstand haben, gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV und sind nicht nach
Art. 101 Abs. 3 AEUV freigestellt, soweit eine Körperschaft (§ 3 Abs. 2
BWaldG), ein Privatwaldbesitzer (§ 3 Abs. 3 BWaldG) oder ein forstwirtschaftlicher Zusammenschluss (§ 15 BWaldG) jeweils über eine Waldfläche
von über 100 ha verfügen.
III. Dem Land Baden-Württemberg wird untersagt, auf Grundlage bestehender
oder neu abzuschließender Vereinbarungen für die unter Ziff. II. des Tenors
genannten Waldbesitzer
a. Holz zu verkaufen und zu fakturieren,
soweit diese jeweils eine Waldfläche von 1.000 ha oder mehr besitzen: ab
sechs Monaten nach Bestandskraft der Verfügung,
soweit diese jeweils eine Waldfläche von weniger als 1.000 ha und mehr
als 100 ha besitzen: ab einem Jahr nach Bestandskraft der Verfügung,
b. Holz auszuzeichnen, Holzerntemaßnahmen zu betreuen, Holz aufzunehmen und Holzlisten zu drucken,
soweit diese jeweils eine Waldfläche von 1.000 ha oder mehr besitzen: ab
einem Jahr nach Bestandskraft der Verfügung,
soweit diese jeweils eine Waldfläche von weniger als 1.000 ha und mehr
als 100 ha besitzen: ab einem Jahr und sechs Monaten nach Bestandskraft der Verfügung,
oder
c. die vorstehend unter a. und b. genannten Dienstleistungen durch Personen erbringen zu lassen, die eine Forstbehörde leiten und/oder dort beschäftigt sind und/oder unter deren Dienst- und/oder Fachaufsicht stehen
und/oder Zugang zu Informationen über das Marktverhalten des Landes
beim Verkauf von Holz haben und/oder Informationen, die sie im Rahmen
der vorgenannten Tätigkeiten über diese Waldbesitzer erhalten, an das
Land Baden-Württemberg weitergeben müssen oder weitergeben. Dies
gilt auch für die Landräte und damit für Personen in den Landkreisen, gegenüber denen der Landrat weisungsbefugt ist, solange dieser - wie derzeit - in Personalunion auch als Leiter einer unteren Forstbehörde in die
Forstorganisation des Landes integriert und insoweit selbst weisungsgebunden ist.
-8-
IV. Dem Land Baden-Württemberg wird ab zwei Jahren und sechs Monaten
nach Bestandskraft der Verfügung untersagt, für die unter Ziff. II. genannten Waldbesitzer mit einer Waldfläche von mehr als 100 ha die jährliche
Betriebsplanung (§ 51 LWaldG), die forsttechnische Betriebsleitung (§§ 47
Abs. 1 Satz 2, 55 Abs. 2 LWaldG) und den forstlichen Revierdienst (§§ 48
Abs. 1, 55 Abs. 2 LWaldG) durchzuführen, das heißt von Personen gemäß
Ziff. III. erbringen zu lassen, soweit
a. diese Staatswald bewirtschaften und/oder
b. diese Zugang zu Informationen über Kunden, Mengen, Sortimente (Qualitäten) und Preise des Landes beim Verkauf von Holz haben und/oder
derartige Informationen, die sie im Rahmen der vorgenannten Tätigkeiten über andere Waldbesitzer erhalten, an das Land BadenWürttemberg weitergeben müssen oder weitergeben.
V. Dem Land Baden-Württemberg wird untersagt, bei der Vermarktung eigener Dienstleistungen, und zwar der Erstellung des periodischen und des
jährlichen Betriebsplans sowie der Durchführung der forsttechnischen Betriebsleitung gegenüber Körperschaften die Vorstellung zu erwecken oder
die vorgefundene Vorstellung zu bestätigen, wonach die eigene Durchführung der oder die Beauftragung Dritter mit der Durchführung dieser forstwirtschaftlichen Dienstleistungen an die Voraussetzung gebunden sei, ein
körperschaftliches Forstamt zu errichten.
VI. Dem Land Baden-Württemberg wird ab einem Jahr nach Bestandskraft der
Verfügung untersagt, den unter Ziff. II. genannten Waldbesitzern mit Waldflächen von mehr als 100 ha nicht kostendeckende Angebote für forstwirtschaftliche Dienstleistungen der Betreuung und technischen Hilfe (§ 55
Abs. 2 LWaldG) sowie des periodischen Betriebsplans (§ 50 Abs. 1
LWaldG), der jährlichen Betriebsplanung (§ 51 LWaldG), der forsttechnischen Betriebsleitung (§ 47 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 LWaldG), des forstlichen
Revierdienstes (§ 48 LWaldG) sowie der Wirtschaftsverwaltung (§ 47 Abs.
1 Satz 4 LWaldG) zu machen und diese zu nicht kostendeckenden Entgelten zu erbringen.
Dagegen richtet sich die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechts9
10
beschwerde des betroffenen Landes.
-9-
II. Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung, soweit für das
Rechtsbeschwerdeverfahren von Bedeutung, im Wesentlichen wie folgt begründet:
11
Das Bundeskartellamt sei durch den Beschluss vom 9. Dezember 2008
nicht gehindert gewesen, das Verfahren gegen das betroffene Land wieder aufzugreifen. Zwar sei die damalige Verfügung entgegen der Auffassung des Amtes nicht „implizit“ befristet gewesen und habe auch nicht unter dem Vorbehalt
einer späteren Prüfung gestanden. Das Amt habe die Verfügung aber gemäß
§ 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB aufheben und das Verfahren wieder aufnehmen können, weil sich die tatsächlichen Verhältnisse in einem für die Verfügung wesentlichen Punkt nachträglich geändert hätten.
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Die genannte Vorschrift sei in Anlehnung an die Rechtsprechung der
Verwaltungsgerichte zum Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG dahin auszulegen, dass eine
objektive Veränderung der Sachlage nicht erforderlich sei. Vielmehr sei eine
Änderung der Sachlage im Rechtssinne auch dann anzunehmen, wenn die Behörde erst nachträglich von solchen Tatsachen Kenntnis erlange, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts bereits vorgelegen hätten. Ob das
nachträgliche Bekanntwerden von entscheidungsrelevanten Tatsachen auf ein
Versäumnis der Behörde zurückzuführen sei, sei dabei unerheblich. Würden für
den Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes taugliche Tatsachen der Kartellbehörde auf Grund einer erst nach Erlass einer Verpflichtungszusagenentscheidung umfassend durchgeführten Sachaufklärung bekannt, müssten diese Tatsachen im Rahmen der Wiederaufnahme gemäß § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB verwertet und einer Abstellungsverfügung zu Grunde gelegt werden können.
13
Danach seien im Streitfall all diejenigen Fakten nachträglich eingetretene
Tatsachen im Sinne von § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB, die sich aus den vom Bun-
- 10 -
deskartellamt ab Oktober 2012 durchgeführten Befragungen ergeben hätten.
Ob das Amt entsprechende Ermittlungen mit gleichermaßen aussagekräftigen
Ergebnissen bereits vor dem Erlass der Verpflichtungszusagenentscheidung
vom 9. Dezember 2008 hätte vornehmen können oder sogar müssen, sei unerheblich.
14
Die demnach als Wiederaufnahmegrund zu berücksichtigenden Befragungsergebnisse beträfen schon deshalb einen wesentlichen Punkt der Entscheidung, weil sie eine Korrektur der Schwellenwerte gerechtfertigt hätten, und
diese Korrektur der Entscheidung vom 9. Dezember 2008 die Grundlage entziehe. Bereits die Veränderung der Sachlage in nur einem wesentlichen Punkt
berechtige die Kartellbehörde dazu, die Verpflichtungszusagenentscheidung
aufzuheben und das Kartellverwaltungsverfahren wieder aufzunehmen. Nicht
zu beanstanden sei aber auch die Einschätzung des Bundeskartellamts, gerade
erst durch die infolge der Verpflichtungszusagenentscheidung entwickelten Pilotprojekte und die Befragung der hieraus in Baden-Württemberg neu entstandenen Vermarktungskooperationen entscheidungsrelevante Erkenntnisse erlangt zu haben, und zwar insbesondere zu dem wettbewerbsbeschränkenden
Einfluss, den die vom Land nicht kostendeckend übernommenen (weiteren)
forstwirtschaftlichen Dienstleistungen zu Gunsten dritter Waldbesitzer auf den
Markt für Produktion und Vertrieb von Nadelstammholz in Baden-Württemberg
hätten.
15
Im Umfang ihrer Untersagung durch das Bundeskartellamt bezweckten
die streitbefangenen Vereinbarungen zur vergemeinschafteten Rundholzvermarktung und den weiteren forstlichen Dienstleistungen eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV. Das Land handele
jeweils als Unternehmen im Sinne des Kartellrechts. Die untersagten Vereinbarungen seien auch geeignet, den Handel zwischen Mitgliedstaaten spürbar zu
beeinträchtigen. Sie seien auch nicht gemäß Art. 106 Abs. 2 oder Art. 101
- 11 -
Abs. 3 AEUV dem Anwendungsbereich des Kartellrechts entzogen. Schließlich
folge auch aus § 46 BWaldG nF keine wirksame Freistellung der betroffenen
Dienstleistungen vom unionsrechtlichen Kartellverbot.
16
III. Die gegen diese Beurteilung gerichtete Rechtsbeschwerde des betroffenen Landes hat Erfolg. Das Bundeskartellamt war an dem Erlass der angefochtenen Abstellungsverfügung durch seine Verpflichtungszusagenentscheidung vom 9. Dezember 2008 gehindert. Die Annahme des Beschwerdegerichts, die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens lägen
vor, hält der Nachprüfung im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht stand.
17
1. Ohne Rechtsfehler ist das Beschwerdegericht allerdings durch Auslegung der Verpflichtungszusagenentscheidung vom 9. Dezember 2008 zu dem
Ergebnis gelangt, dass diese Entscheidung nicht (implizit) befristet ist und auch
keinen Vorbehalt späterer Überprüfung enthält.
18
Eine Verpflichtungszusagenentscheidung kann gemäß § 32b Abs. 1
Satz 3 GWB befristet werden. Eine solche Befristung, die die nach § 32b Abs. 1
Satz 2 GWB eintretende Selbstbindung der Kartellbehörde zeitlich begrenzt,
muss sich aber aus Gründen der Rechtssicherheit der Verpflichtungszusagenentscheidung eindeutig und unmissverständlich entnehmen lassen. Dies
erfordert grundsätzlich eine ausdrückliche Befristungserklärung (vgl. Bornkamm/Tolkmitt in Langen/Bunte, Deutsches Kartellrecht, 13. Auflage, § 32b
GWB Rn. 17).
19
Das Bundeskartellamt hat die Verpflichtungszusagenentscheidung vom
9. Dezember 2008 nicht ausdrücklich befristet. Selbst wenn eine konkludente
Befristung in Erwägung gezogen werden könnte, wäre sie dem Beschluss vom
9. Dezember 2008 nicht zu entnehmen. Sie ergibt sich, wie das Beschwerdegericht zutreffend dargelegt hat, insbesondere nicht daraus, dass zwei von sechs
Verpflichtungszusagen befristet waren. Die Rechtsbeschwerdeerwiderung er-
- 12 -
hebt gegen diese Einschätzung des Beschwerdegerichts auch keine inhaltlichen Einwendungen.
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Ob eine Verpflichtungszusagenentscheidung mit einem Widerrufsvorbehalt versehen werden kann (vgl. § 36 Abs. 2 Nr. 3, § 49 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG),
bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung. Das Beschwerdegericht hat das
Vorliegen eines Widerrufsvorbehalts rechtsfehlerfrei verneint. Die Rechtsbeschwerdeerwiderung erinnert hiergegen nichts.
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2. Der Ansicht des Beschwerdegerichts, das Bundeskartellamt sei gemäß § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB zur Wiederaufnahme des Verfahrens berechtigt,
sofern ihm nur nachträglich wesentliche Tatsachen bekannt würden, kann hingegen aus Rechtsgründen nicht gefolgt werden.
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a) Eine Verpflichtungszusagenentscheidung hindert die Kartellbehörde
daran, wegen des beanstandeten Verhaltens eine Abstellungsverfügung gemäß
§ 32 GWB zu erlassen, sofern nicht die Voraussetzungen des § 32b Abs. 2
GWB erfüllt sind (§ 32b Abs. 1 Satz 2 GWB). Nach § 32b Abs. 2 GWB kann die
Kartellbehörde die Verpflichtungszusagenentscheidung aufheben und das Verfahren wieder aufnehmen, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse in einem für
die Verfügung wesentlichen Punkt nachträglich geändert haben (§ 32b Abs. 2
Nr. 1 GWB), die beteiligten Unternehmen ihre Verpflichtungen nicht einhalten
(§ 32b Abs. 2 Nr. 2 GWB) oder die Verfügung auf unvollständigen, unrichtigen
oder irreführenden Angaben der Parteien beruht (§ 32b Abs. 2 Nr. 3 GWB).
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b) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts ist § 32b Abs. 2
Nr. 1 GWB nicht dahin auszulegen, dass eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in einem für die Verfügung wesentlichen Punkt schon
dann anzunehmen ist, wenn der Kartellbehörde nachträglich wesentliche Tatsachen bekannt geworden sind, die bereits bei Erlass der Verfügung vorgelegen haben. Die nachträgliche Behebung einer Unkenntnis oder Fehlvorstellung
der Kartellbehörde bewirkt für sich genommen keine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne von § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB. Die Voraussetzungen
- 14 -
dieser Vorschrift sind somit nicht schon dann erfüllt, wenn die Kartellbehörde
durch neue, weitergehende Ermittlungen wesentliche neue Kenntnisse gewinnt.
24
aa) Mit einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne von
§ 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB sind grundsätzlich objektive Veränderungen gemeint,
die von (subjektiven) Fehleinschätzungen auf Seiten der Kartellbehörde zu unterscheiden sind (Bornkamm in Langen/Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Auflage, § 32b GWB Rn. 29; Bach in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht,
5. Auflage, § 32b GWB Rn. 31; Keßler in MünchKomm.WettbR, 2. Auflage,
§ 32b GWB Rn. 38; Jaeger in Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, § 32b
GWB, Stand September 2010 Rn. 43; Bechtold/Bosch, GWB, 8. Auflage, § 32b
Rn. 11; der Beschwerdeentscheidung aber zustimmend Bornkamm/Tolkmitt in
Langen/Bunte, Deutsches Kartellrecht, 13. Auflage, § 32b GWB Rn. 32).
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Für diese Auslegung spricht zunächst der Wortlaut von § 32b Abs. 2
Nr. 1 GWB. Die Vorschrift erfordert eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse. Die Gewinnung neuer Kenntnisse über objektiv im Wesentlichen unveränderte Verhältnisse wird hiervon bei unbefangenem Sprachverständnis nicht umfasst.
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Zu berücksichtigen und zu § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB in Beziehung zu setzen ist ferner der in § 32b Abs. 2 Nr. 3 GWB geregelte Wiederaufnahmegrund.
Nach dieser Bestimmung kann die Kartellbehörde eine Verpflichtungszusagenentscheidung aufheben und das Verfahren wieder aufnehmen, wenn die
Verfügung auf unvollständigen, unrichtigen oder irreführenden Angaben der
Parteien beruht. Da diese Regelung nur zur Anwendung kommen kann, wenn
die Kartellbehörde die Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Angaben erkannt
hat, betrifft § 32b Abs. 2 Nr. 3 GWB ebenfalls die Konstellation einer schon bei
Erlass der Verpflichtungszusagenentscheidung vorliegenden, der Kartellbehörde aber erst nachträglich bekannt gewordenen Sachlage. Die Wiederaufnah-
- 15 -
meberechtigung gemäß § 32b Abs. 2 Nr. 3 GWB ist aber auf den Fall beschränkt, dass die ursprüngliche, der Verfügung zugrunde gelegte Fehlvorstellung der Behörde auf unvollständigen, unrichtigen oder irreführenden Angaben
der Parteien beruhte. Es widerspräche den Grundsätzen einer systematischen
Auslegung, wenn schon die in § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB geregelte nachträgliche
Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in dem Sinne verstanden würde, dass
sie ohne weiteres auch das nachträgliche Bekanntwerden unverändert gebliebener Umstände umfasst.
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bb) Demgegenüber lässt sich die vom Beschwerdegericht befürwortete
weite Auslegung von § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB nicht mit einem Rückgriff auf die
verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsaktes auf Grund nachträglich eingetretener Tatsachen (§ 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG) rechtfertigen.
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(1) Es besteht schon keine gefestigte verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, der der Rechtssatz entnommen werden kann, die Widerrufsvoraussetzungen nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG seien stets bereits dann erfüllt,
wenn der Behörde entscheidungsrelevante Tatsachen unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Entstehung erst nach dem Erlass des Verwaltungsaktes bekannt
werden.
29
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Tatsachen dann „nachträglich eingetreten“, wenn sich der Sachverhalt, der dem Verwaltungsakt zugrunde liegt, nachträglich so ändert, dass die Behörde berechtigt
wäre, den ursprünglichen Verwaltungsakt nicht zu erlassen. Die entscheidungserheblichen Elemente des Sachverhalts, deren Änderung zu einem Widerruf berechtigt, können sowohl in einem Verhalten von Beteiligten oder Betroffenen als auch in äußeren Umständen liegen. Notwendig ist stets eine Veränderung der Sachlage; die schlichte andere Beurteilung der gleichgebliebenen
- 16 -
Tatsachen reicht insoweit nicht aus (BVerwG, NVwZ 1991, 577, 578; Beschluss
vom 7. Juli 2009 – 1 WB 51/08, juris Rn. 34). Allerdings kann, worauf das Beschwerdegericht zutreffend hinweist, die geänderte Bewertung von Sachverhalten eine Änderung von Tatsachen im Sinne von § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG
sein, wenn sie auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht (BVerwG,
NVwZ 1984, 102, 103; NVwZ 2016, 323 Rn. 11 f.; BVerwGE 155, 81 Rn. 36).
Dass darüber hinaus das nachträgliche Bekanntwerden unverändert gebliebener Umstände für sich allein zum Widerruf berechtigen könne, ist dieser Rechtsprechung nicht zu entnehmen und wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung und der verwaltungsrechtlichen Literatur teilweise ausdrücklich verneint
(VGH Mannheim, NVwZ-RR 1992, 602, 604; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs,
VwVfG, 9. Auflage, § 49 Rn. 62 mwN; BeckOK-Abel, VwVfG, Stand 1.4.2018,
§ 49 Rn. 50).
30
Die demgegenüber vom Beschwerdegericht herangezogene, in einem
Prozesskostenhilfeverfahren ergangene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Februar 2006 (BVerwG, Beschluss vom 1. Februar 2006
– 2 PKH 3/05, juris Rn. 12) führt im Ergebnis nicht zu einer anderen Beurteilung. Zwar legt die Begründung dieser Entscheidung nahe, dass im konkreten
Fall später bekannt gewordene Zeugnisse als „nachträglich eingetretene Tatsache" in Betracht gezogen wurden. Erwogen wurde aber auch, dass das der anfänglichen Unkenntnis zugrunde liegende Ermittlungsversäumnis der Behörde
durch eine unzutreffende Versicherung des Antragstellers beeinflusst worden
sein könnte. Zudem wurde zur Begründung der Entscheidung auf weitere Umstände abgestellt, die den Widerruf rechtfertigten.
31
Ein allgemein gültiger Rechtssatz des Inhalts, dass schon das nachträgliche Bekanntwerden unverändert gebliebener Umstände zum Widerruf berechtige, lässt sich dieser – auf einen Einzelfall bezogenen und einen weiteren,
selbständig tragenden Grund gestützten – Entscheidung des Bundesverwal-
- 17 -
tungsgerichts nicht entnehmen. Dies gilt im Ergebnis auch für die vom Beschwerdegericht zitierte Entscheidung des OVG Münster (NVwZ-RR 2006, 527,
528), in der durch eine Begutachtung gewonnene und der Behörde in Form eines Ergänzungsgutachtens mitgeteilte Erkenntnisse ohne nähere Erläuterung
als nachträglich eingetretene Tatsachen gewertet wurden.
32
(2) Außerdem lässt sich ein in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickeltes Verständnis des Tatbestandsmerkmals „nachträglich eingetretene Tatsachen“ (§ 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG) nicht ohne weiteres auf die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der nachträglichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse (§ 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB) übertragen.
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Die Regelung der Verpflichtungszusage ist mit der 7. GWB-Novelle eingeführt worden, die insbesondere der Angleichung des nationalen Kartellrechts
an das europäische Recht diente und die Verabschiedung der am 1. Mai 2004
in Kraft getretenen Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember
2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (VO 1/2003) zum Anlass hatte (Gesetzentwurf der Bundesregierung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 21). Durch die Reform wurden Verfahrensregelungen und Ermittlungsbefugnisse im GWB an die
Neuregelungen der VO 1/2003 angepasst (a.a.O. S. 22). In diesem Zusammenhang wurde die Vorschrift zur Verbindlicherklärung von Verpflichtungserklärungen (§ 32b GWB) der Regelung in Art. 9 VO 1/2003 nachgebildet (vgl. nur
Bornkamm in Festschrift für Bechtold, 2006, S. 45).
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Ungeachtet dieser Anlehnung an das Unionsrecht trifft es zu, dass § 32b
Abs. 2 Nr. 1 GWB im Ansatz dem gleichen Grundgedanken folgt wie § 49
Abs. 2 Nr. 3 VwVfG. Die Vorschriften entsprechen dem Vorbehalt der clausula
rebus sic stantibus bei angemessener Wahrung des Vertrauensschutzes des
Betroffenen. Dabei stellt sich § 32b Abs. 2 GWB im Verhältnis zu den allgemei-
- 18 -
nen verwaltungsverfahrensrechtlichen Bestimmungen über die Aufhebung von
Verwaltungsakten (§§ 48 ff. VwVfG) als eine spezialgesetzliche Regelung dar
und geht als solche den allgemeinen Bestimmungen vor (vgl. Gesetzentwurf
der Bundesregierung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 52). Die Regelungsnähe der Bestimmungen spricht zwar dafür, übereinstimmend formulierte Tatbestandsvoraussetzungen zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsordnung auch übereinstimmend auszulegen. Daraus folgt aber nicht, dass die
Auslegung des § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB mit der Auslegung des § 49 Abs. 2
Nr. 3 VwVfG deckungsgleich sein müsste.
35
Die beiden Vorschriften weichen bereits in der Formulierung und inhaltlich voneinander ab. Während § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG auf „nachträglich eingetretene Tatsachen“ abstellt, verlangt § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB eine „nachträgliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse“. Des Weiteren setzt ein Widerruf
nach § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG nicht nur eine andernfalls bestehende Gefährdung des öffentlichen Interesses voraus, die das Beschwerdegericht bei vom
Bundeskartellamt aufgegriffenen Kartellverstößen allerdings schon grundsätzlich annehmen möchte, sondern führt auch abweichend von § 32b Abs. 2 GWB
unter bestimmten Voraussetzungen zu einem Entschädigungsanspruch des
Betroffenen (§ 49 Abs. 6 Satz 1 VwVfG).
36
Vor allem aber unterscheiden sich die Vorschriften wesentlich in ihrem
Regelungskonzept. Das Verwaltungsverfahrensgesetz differenziert in §§ 48, 49
VwVfG zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Verwaltungsakten. Ein
rechtswidriger (begünstigender) Verwaltungsakt kann grundsätzlich auch aufgrund nachträglicher Erkenntnisse der Behörde zurückgenommen werden, wobei sich die Rechtswidrigkeit gerade aus denjenigen Umständen ergeben kann,
die der Behörde zuvor unbekannt waren (Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs,
VwVfG, 9. Auflage, § 49 Rn. 62; Pautsch in Pautsch/Hoffmann, VwVfG, § 49
Rn. 23).
- 19 -
37
Demgegenüber bezwecken Verpflichtungszusagen und die diesbezügliche Verfügung der Kartellbehörde nach § 32b Abs. 1 Satz 2 GWB eine konsensuale Lösung, mit der ein Konflikt zwischen der Behörde und den betroffenen Unternehmen beendet werden soll (Bornkamm in Langen/Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Auflage, § 32b GWB Rn. 1, 17, 34). Die Kartellbehörde
muss nicht abschließend prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Abstellungsverfügung vorliegen und kann sich mit einer vorläufigen Einschätzung begnügen. Sie ist für eine einvernehmliche Verfahrensbeendigung nach § 32b Abs. 1
GWB aber darauf angewiesen, dass die betroffenen Unternehmen die Eingehung von Verpflichtungen anbieten, die geeignet sind, die wettbewerbsrechtlichen Bedenken der Behörde auszuräumen. Der dem gegenüberstehende Vorteil der Unternehmen besteht darin, dass die Kartellbehörde von weitergehenden Befugnissen, insbesondere zum Erlass einer Abstellungsverfügung (§ 32
Abs. 1 GWB) keinen Gebrauch machen kann und insoweit gebunden bleibt,
solange – vorbehaltlich einer Befristung – kein Wiederaufnahmegrund gemäß
§ 32b Abs. 2 GWB vorliegt. Dieses Regelungskonzept erübrigt abweichend von
den §§ 48, 49 VwVfG eine im Aufhebungsfall zu treffende Unterscheidung zwischen rechtmäßiger und rechtswidriger Verfügung. Maßgebend ist stattdessen
das erzielte Einvernehmen als Grundlage der Entscheidung. Dementsprechend
werden die beteiligten Unternehmen nicht in ihrem Vertrauen auf die Richtigkeit
einer behördlichen Entscheidung geschützt, sondern in ihrem Vertrauen auf den
Bestand der erzielten Einigung.
38
cc) Die Vorschrift des Art. 9 VO 1/2003, der § 32b GWB nachgebildet ist,
sowie deren Anwendung auf Unionsebene legen keine andere, dem Bundeskartellamt günstigere Auslegung von § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB nahe. Für den
Streitfall aussagekräftige Rechtsprechung der Unionsgerichte zur Anwendung
von Art. 9 Abs. 2 VO 1/2003 ist nicht ersichtlich. Die von der Rechtsbeschwerdeerwiderung genannte Entscheidung „Langnese-Iglo“ des Unionsgerichtshofs
- 20 -
(EuGH, Urteil vom 1. Oktober 1998 – C-279/95, Slg. 1998, I-5609 Rn. 28 ff.)
betraf schon keine förmliche Entscheidung, sondern ein Verwaltungsschreiben
der Kommission („comfort letter“), in dem diese sich eine Wiederaufnahme des
Verfahrens vorbehalten hatte, falls sich die ihrer Beurteilung zugrunde liegenden rechtlichen oder tatsächlichen Umstände wesentlich ändern sollten.
39
c) Durch diese Auslegung des § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB wird das Instrument der Verpflichtungszusage nicht entwertet. Sinn und Zweck des § 32b
GWB erfordern es zwar, der Kartellbehörde die Möglichkeit zu eröffnen, sich
von einer Verpflichtungszusagenentscheidung zu lösen, wenn ihr Umstände
bekannt werden, die sie im Vorhinein nicht kennen konnte. Auf später bekannt
gewordene Umstände, die die Behörde bereits vor der Verpflichtungszusagenentscheidung hätte in Betracht ziehen und in Erfahrung bringen können,
kann die Wiederaufnahme des Verfahrens aber nicht gestützt werden. Das
nachträgliche Bekanntwerden zuvor schon existenter wesentlicher Umstände
genügt vielmehr nur dann, wenn diese Umstände zuvor allgemein unbekannt
waren oder von der Kartellbehörde deshalb nicht in Erfahrung gebracht werden
konnten, weil die Behörde mit der Aufdeckung solcher Umstände durch weitere
Ermittlungen nicht rechnete und nicht rechnen musste. Entsprechendes gilt,
soweit es um Erwartungen hinsichtlich der Auswirkungen von Verpflichtungszusagen auf die Marktverhältnisse geht. Unerwartete Entwicklungen können zur
Wiederaufnahme des Verfahrens berechtigen, wenn sie – auch bei besserer
Kenntnis der bestehenden Verhältnisse – nicht vorhersehbar waren. Auf Entwicklungen der Marktverhältnisse, die von vornherein in Betracht zu ziehen waren, kann und muss sich die Kartellbehörde hingegen im Rahmen der Entscheidung nach § 32b Abs. 1 Satz 1 GWB einrichten, etwa durch eine Befristung
dieser Entscheidung.
40
aa) Die Regelung über Verpflichtungszusagen in § 32b GWB erlaubt zur
Durchsetzung der Wettbewerbsregeln konsensuale Lösungen und dient damit
- 21 -
auch dazu, den Kartellbehörden eine zügige und ressourcenschonende Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermöglichen (Bach in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Auflage, § 32b GWB Rn. 3). Die Behörde kann ihre Entscheidung aufgrund einer nur vorläufigen Beurteilung treffen (§ 32b Abs. 1 Satz 1
GWB). Der Zielsetzung der Norm entsprechend ist die Kartellbehörde, wie vom
Beschwerdegericht zutreffend dargelegt, auch nicht verpflichtet, den zugrunde
liegenden Sachverhalt im Rahmen ihrer Möglichkeiten vollständig aufzuklären;
sie kann sich mit einem geringeren Ermittlungsaufwand begnügen (Jaeger in
Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, § 32b GWB, Stand September 2010
Rn. 10 f.; a.A. Bach in Immenga/Mestmäcker, GWB, 5. Auflage, § 32b Rn. 11;
Bechtold/Bosch, GWB, 8. Auflage, § 32b Rn. 3).
41
Die Möglichkeit, den Ermittlungsaufwand zu beschränken, berechtigt die
Kartellbehörde indessen nicht, unterbliebene Ermittlungen nach dem Erlass
einer Verpflichtungszusagenentscheidung nachzuholen und auf dieser Grundlage eine Neubeurteilung vorzunehmen. Eine derart weitgehende Relativierung
der Wiederaufnahmevoraussetzungen ist im Interesse der Funktionsfähigkeit
des Instruments der Verpflichtungszusage nicht geboten.
42
Die Kartellbehörde hat, wenn auch nicht die Verpflichtung, so doch jedenfalls die Möglichkeit, den Sachverhalt vor einer Verpflichtungszusagenentscheidung weitergehend aufzuklären, insbesondere zur besseren Abschätzung
der bei Einhaltung von Verpflichtungszusagen zu erwartenden wettbewerblichen Wirkungen. Unabhängig davon kann die Behörde auf den Inhalt der Verpflichtungszusagen im Zuge der hierüber im Regelfall zu führenden Verhandlungen Einfluss nehmen, da sie über die Eignung der Zusagen zur Ausräumung
der wettbewerbsrechtlichen Bedenken zu befinden hat und der Erlass der Verpflichtungszusagenentscheidung zudem in ihrem Ermessen steht. Dabei ist der
mögliche Inhalt der Verpflichtungszusagen nicht durch die für den Erlass einer
Abstellungsverfügung (§ 32 GWB) geltenden normativen Vorgaben beschränkt
- 22 -
(vgl. Bornkamm in Festschrift für Bechtold, 2006, S. 45, 50 f.; Keßler in MünchKomm.WettbR, 2. Auflage, § 32b GWB Rn. 15; Rehbinder in Loewenheim/
Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, GWB, 3. Auflage, § 32b
Rn. 7 f.; zur nur eingeschränkten Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
bei Anwendung von Art. 9 VO 1/2003 vgl. EuGH, Urteil vom 29. Juni 2010
– C-441/07, Slg. 2010, I-5949 Rn. 41 ff. – Alrosa).
43
bb) Gleichwohl verbleibenden Unwägbarkeiten kann die Kartellbehörde
durch eine Befristung der Verpflichtungszusagenentscheidung Rechnung tragen, die ihr die Möglichkeit gibt, nach Ablauf der Frist eine Neubewertung auf
der Grundlage der ihr dann vorliegenden Informationen vorzunehmen. Anstelle
einer Befristung kommt gegebenenfalls auch ein Widerrufsvorbehalt (vgl. § 36
Abs. 2 Nr. 3, § 49 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG) in Betracht, wodurch eine mit Fristablauf
automatisch eintretende Beendigung der Wirkungen der Verpflichtungszusagenentscheidung vermieden werden könnte. Ob eine Verpflichtungszusagenentscheidung mit einem Widerrufsvorbehalt, der im Unterschied zur Befristungsmöglichkeit in § 32b GWB keine Erwähnung findet, versehen werden kann
(vgl. dazu Klose in Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 3. Auflage, § 51
Rn. 46; ablehnend Bach in Immenga/Mestmäcker, GWB, 5. Auflage, § 32b
Rn. 30), muss hier nicht entschieden werden. Jedenfalls würde durch die Zulassung eines Widerrufsvorbehalts, in dem die Widerrufsvoraussetzungen ausreichend bestimmt sein müssten, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der
den Unternehmen zuzugestehende Vertrauensschutz weit weniger stark berührt
als durch eine aus § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB abgeleitete Berechtigung der Kartellbehörde, durch eine Wiederaufnahme des Abstellungsverfahrens schon
dann nachfassen zu dürfen, wenn sie die Folgewirkungen einer Verpflichtungszusagenentscheidung später als unzureichend bewertet.
44
cc) Die damit angesprochenen Möglichkeiten, unerwünschten Bindungsfolgen schon bei der Verpflichtungszusagenentscheidung entgegenzuwirken,
- 23 -
bestehen für die Kartellbehörde nicht in gleicher Weise, wenn es um das spätere Bekanntwerden wesentlicher Umstände geht, die die Kartellbehörde vor ihrer
Entscheidung nicht kennen und nicht in Erfahrung bringen konnte, weil sie mit
dem Vorhandensein solcher Umstände und ihrer Aufdeckbarkeit durch weitere
Ermittlungen nicht rechnen musste. Unter diesen Voraussetzungen ist der Kartellbehörde das Recht zuzugestehen, sich gemäß § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB von
ihrer Bindung durch eine Verpflichtungszusagenentscheidung zu lösen, da andernfalls die Funktionstauglichkeit dieses kartellverwaltungsrechtlichen Instruments gefährdet wäre. Denn auf Kenntnisdefizite, die die Behörde als solche
nicht erkennen konnte, konnte sie sich bei den Ermittlungen, den Verhandlungen und der Ausgestaltung der Verpflichtungszusagenentscheidung nicht einstellen.
45
Die in § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB genannten tatsächlichen Verhältnisse
werden daher nicht abschließend durch die objektive Sachlage beschrieben,
sondern beinhalten auch das Fehlen solcher Umstände, mit denen die Kartellbehörde nicht rechnen konnte und die deshalb von ihren subjektiven Erkenntnismöglichkeiten nicht umfasst waren. Das spätere Bekanntwerden solcher
Umstände ist dann als eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zu werten.
Insoweit verhält es sich ähnlich wie bei einer geänderten Bewertung objektiv
unveränderter Sachverhalte, die auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen
beruht und der Behörde erst durch diesen, von ihr nicht beeinflussbaren Erkenntnisfortschritt zugänglich gemacht wurde (vgl. hierzu BVerwG, NVwZ 1984,
102, 103; NVwZ 2016, 323 Rn. 11 f.; BVerwGE 155, 81 Rn. 36).
46
dd) Soweit es um Erwartungen der Kartellbehörde im Hinblick auf die
künftige Entwicklung der Marktverhältnisse geht, ist bei der Beurteilung der
Wiederaufnahmevoraussetzungen nach § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB ebenfalls nach
der Erkennbarkeit zu differenzieren. Im Ausgangspunkt wird grundsätzlich zu
Recht angenommen, dass Fehleinschätzungen der Kartellbehörde hinsichtlich
- 24 -
der Auswirkungen des zugesagten Verhaltens auf die Marktverhältnisse nicht
zur Wiederaufnahme des Verfahrens berechtigen (Bornkamm in Langen/Bunte,
Kartellrecht, 12. Auflage, § 32b GWB Rn. 29, Bach in Immenga/Mestmäcker,
GWB, 5. Auflage, § 32b Rn. 31; Bechtold/Bosch, GWB, 8. Auflage, § 32b
Rn. 11). Anders verhält es sich, den bisherigen Darlegungen entsprechend,
jedoch dann, wenn die Erwartungen zur Marktentwicklung auf einer zutreffenden Erfassung der bestehenden Verhältnisse beruhten, sich aber infolge unvorhersehbarer Entwicklungen nicht erfüllt haben. Gleiches gilt, wenn die ursprünglichen Verhältnisse zwar nicht vollständig erfasst wurden, der Erfassungsmangel aber Umstände betrifft, die die Kartellbehörde nicht kennen und nicht in Erfahrung bringen konnte, weil sie mit dem Vorhandensein solcher Umstände und
ihrer Aufdeckbarkeit durch weitere Ermittlungen nicht rechnen musste.
47
d) Eine noch weitergehende Ausdehnung der Wiederaufnahmemöglichkeiten nach § 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB ist hingegen zur Sicherung der Funktionstauglichkeit des Instruments der Verpflichtungszusage nicht geboten und insgesamt nicht gerechtfertigt.
48
Dem Interesse daran, als solche erkannte kartellrechtswidrige Verhaltensweisen im Verfahren nach § 32 GWB zu unterbinden, steht das durch § 32b
Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 GWB – typisierend – geschützte Vertrauen der beteiligten
Unternehmen auf den Fortbestand der durch eine Verpflichtungszusagenentscheidung bestätigten einvernehmlichen Lösung gegenüber. Dieser Vertrauensschutz betrifft nicht allein die Beurteilung abgeschlossener Sachverhalte,
sondern auch fortgesetzte Verhaltensweisen. In § 32b Abs. 1 Satz 2 GWB wird
auf § 32 GWB insgesamt Bezug genommen, nicht nur auf § 32 Abs. 3 GWB.
49
Das Vertrauen des betroffenen Unternehmens auf den Fortbestand der
Verpflichtungszusagenentscheidung ist typischerweise schutzwürdig, weil das
Unternehmen sich berechtigterweise darauf einrichten darf, dass die erreichte
- 25 -
konsensuale Lösung nach Maßgabe der Verpflichtungszusagenentscheidung
Bestand haben wird. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das betroffene Unternehmen insofern „nachgegeben“ und zur einvernehmlichen Verfahrensbeendigung beigetragen hat, als es Verpflichtungen eingegangen ist, deren
Übernahme kartellrechtlich nicht zwingend geboten sein musste. Denn Verpflichtungszusagen nach § 32b Abs. 1 Satz 1 GWB dienen der Ausräumung
kartellrechtlicher Bedenken, die auf einer nur vorläufigen Beurteilung der Kartellbehörde beruhen, und sie müssen überdies nicht zwingend auf das für ein
kartellrechtskonformes Verhalten (noch) erforderliche Maß beschränkt sein (vgl.
EuGH, Slg. 2010, I-5949 Rn. 41 ff. – Alrosa).
50
Auf die Umstände des konkreten Einzelfalls kann es für die Auslegung
der in § 32b Abs. 2 GWB genannten Wiederaufnahmevoraussetzungen nicht
ankommen. Die Auslegung hängt nicht – fallabhängig variierend – davon ab, in
welchem Maße die Verfahrensbeendigung Vergleichscharakter hat und in welchem Umfang jeweils Vertrauen begründet wurde. Unbeschadet dessen kann
allerdings nach der Bejahung eines tatbestandsgemäßen Wiederaufnahmegrundes bei der Überprüfung der von der Behörde zu treffenden Ermessensentscheidung zu fragen sein, ob wegen besonderer Umstände ein weitergehender Vertrauensschutz in Betracht zu ziehen ist.
51
e) Eine Ausweitung der nach § 32b Abs. 2 GWB bestehenden Wiederaufnahmemöglichkeiten lässt sich auch nicht mit einem Rückgriff auf die bei
einer Abstellungsverfügung nach § 32 GWB geltenden Regeln rechtfertigen.
52
Eine Abstellungsverfügung beinhaltet keine die Befugnisse der Kartellbehörde einschränkende Erklärung, wie sie nach dem Gesetz Inhalt einer Verpflichtungszusagenentscheidung ist (§ 32b Abs. 1 Satz 2 GWB). Des Weiteren
richten sich Rücknahme und Widerruf einer Abstellungsverfügung nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen (vgl. BGH, Beschluss vom
- 26 -
10. Februar 2009 – KVR 67/07, BGHZ 180, 323 Rn. 50 – Gaslieferverträge),
während die Aufhebung einer Verpflichtungszusagenentscheidung in § 32b
Abs. 2 GWB spezialgesetzlich geregelt ist. Die dort genannten Gründe für eine
Wiederaufnahme des Verfahrens ohne Einverständnis des betroffenen Unternehmens sind abschließend (Bornkamm/Tolkmitt in Langen/Bunte, Deutsches
Kartellrecht, 13. Auflage, § 32b GWB Rn. 30; Keßler in MünchKomm.WettbR,
2. Auflage, § 32b GWB Rn. 37; Bach in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Auflage, § 32b GWB Rn. 26; Bechtold/Bosch, GWB, 8. Auflage, § 32b
Rn. 10). Hierdurch werden die betroffenen Unternehmen, wie ausgeführt, in
ihrem Vertrauen auf den Bestand der erzielten Einigung geschützt.
53
Während das vorliegende Verfahren einen Verstoß gegen § 1 GWB bzw.
Art. 101 AEUV betrifft, ging es in den Anwendungsfällen von § 32 GWB, auf die
sich das Bundeskartellamt konkret bezogen hat, im Übrigen um die (gegebenenfalls stufenweise) Abstellung des Missbrauchs einer marktbeherrschenden
Stellung nach § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB durch Verweigerung des Zugangs zu einer Infrastruktureinrichtung (BGH, Beschluss vom 24. September 2002
– KVR 15/01, BGHZ 152, 84 – Fährhafen Puttgarden I; Beschluss vom 11. Dezember 2012 – KVR 7/12, NJW 2013, 1095 – Fährhafen Puttgarden II). In derartigen Fällen stellt die dem Marktbeherrscher etwa auf einer ersten Stufe aufgegebene Aufnahme von Verhandlungen von vornherein keine abschließende
Regelung für den Fall dar, dass die Verhandlungen nicht zu einer Einigung über
nicht diskriminierende und nicht unbillig behindernde Zugangsbedingungen führen. Soweit auch zur Unterbindung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen nach § 1 GWB, Art. 101 AEUV ein abgestuftes Vorgehen für sachgerecht
gehalten wird (vgl. dazu im Fall von § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB: BGH, Beschluss
vom 11. Dezember 2012 – KVR 7/12, NJW 2013, 1095 Rn. 26 ff. – Fährhafen
Puttgarden II) und nach § 32b GWB verfahren werden soll, bleibt der Weg, die
- 27 -
Verpflichtungszusagenentscheidung zu befristen oder gegebenenfalls mit einem Widerrufsvorbehalt zu versehen.
54
3. Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens im Streitfall nicht erfüllt.
55
Das Bundeskartellamt hat die angefochtene Verfügung allein darauf gestützt, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse in einem für die Verfügung wesentlichen Punkt nachträglich geändert hätten (§ 32b Abs. 2 Nr. 1 GWB). Aus
den Feststellungen des Beschwerdegerichts ergeben sich jedoch keine Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse in einem für die Verpflichtungszusagenentscheidung wesentlichen Punkt – sei es durch eine Veränderung objektiver Umstände, durch das Bekanntwerden von Umständen, mit denen das Bundeskartellamt nicht rechnen konnte, oder durch eine unvorhersehbare Entwicklung der Marktverhältnisse.
56
a) Dies gilt zunächst für die Einschätzung der erforderlichen Schwellenwerte.
57
aa) Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, dass bereits die auf weiteren
Ermittlungen, insbesondere einer umfassenden Befragung von Sägewerkbetreibern und neu entstandenen kooperativen Rundholzanbietern, beruhende
Korrektur der Schwellenwerte von 3.000 ha Waldfläche (bei einzelnen nichtstaatlichen Waldbesitzern) auf 100 ha einen wesentlichen Punkt der Verpflichtungszusagenentscheidung betreffe und ihr die Grundlage entziehe. Das Bundeskartellamt hat in seinen, vom Beschwerdegericht in Bezug genommenen
Ausführungen die Korrektur der Schwellenwerte zum einen damit begründet,
dass die ursprünglichen Schwellenwerte nicht ausreichten, um die angestrebte
Öffnung des Wettbewerbs zu bewirken. Zum anderen könnten private und körperschaftliche Waldbesitzer bereits bei einer Waldfläche von über 100 ha den
- 28 -
Nachfragern ein wirtschaftliches Angebot unterbreiten und seien daher zu einer
wirtschaftlich selbständigen Rundholzvermarktung tatsächlich in der Lage.
58
bb) Ein Grund, der das Bundeskartellamt zur Wiederaufnahme des Verfahrens berechtigt, erschließt sich hieraus nicht. Eine objektive Veränderung
der insoweit zugrunde liegenden Umstände ist damit nicht festgestellt. Ebenso
wenig ergibt sich etwas dafür, dass das Bundeskartellamt die neuen Erkenntnisse
nicht
schon
vor
seiner
Verpflichtungszusagenentscheidung
vom
9. Dezember 2008 gewinnen konnte.
59
(1) Die wettbewerbsrechtliche Bedeutung der festzulegenden Schwellenwerte war offensichtlich. Von ihrer Festlegung hing es ab, welcher Anteil der
nichtstaatlichen Waldbesitzer dem Land noch als Partner für die gemeinschaftliche Rundholzvermarktung zur Verfügung stehen würde. Auf dieser Grundlage
ließen sich – vorbehaltlich zusätzlicher Anreize für eine eigenständige, vom
Land unabhängige Vermarktung – die aus der Einführung der Schwellenwerte
unmittelbar folgenden Auswirkungen auf die Wettbewerbsverhältnisse auf der
Grundlage verfügbarer oder jedenfalls feststellbarer Daten abschätzen. Das
Beschwerdegericht hat ausgeführt, dass durch die ursprünglichen Schwellenwerte lediglich sechs Körperschaften und vier Forstbetriebsgemeinschaften von
der gemeinsamen Holzvermarktung mit dem Land ausgeschlossen worden seien; schon angesichts dieser Zahlen und einer Angebotsbündelung von etwa
60% der in Baden-Württemberg vermarkteten Rohholzmengen sei der Zweck,
einen funktionierenden Anbieterwettbewerb zu gewährleisten, ganz offensichtlich nahezu vollständig verfehlt worden. Damit ist folglich nur der unveränderte
Sachverhalt abweichend bewertet worden.
60
(2) Wesentlich für die Festlegung der Schwellenwerte war allerdings
auch, ab welcher Waldflächengröße ein körperschaftlicher oder privater Waldbesitzer am Rundholzmarkt selbständig auftreten kann. Das Bundeskartellamt
- 29 -
hat sich mit dieser Frage im Ausgangsverfahren befasst und die damals festgelegten Schwellenwerte, wie es in der angefochtenen Abstellungsverfügung
heißt, auf Grundlage der von den Verfahrensbeteiligten vorgelegten Informationen als sachgerecht und geeignet angesehen. Auch insoweit hat sich die Einschätzung des Amtes nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts als
unzutreffend erwiesen. Das Beschwerdegericht hat in seinen Ausführungen zur
Anwendung des Arbeitsgemeinschaftsgedankens dargelegt, dass nach den
vom Amt ermittelten Tatsachen bei einem Waldbesitz von über 100 ha ein selbständiges Auftreten am Markt – nicht etwa nur als Mitglied einer ohne staatliche
Beteiligung bestehenden Vertriebsgemeinschaft – wirtschaftlich sinnvoll möglich
sei.
61
Das Bundeskartellamt macht nicht geltend, dass die Beteiligten, insbesondere das betroffene Land, damals unvollständige, unrichtige oder irreführende Angaben gemacht hätten (vgl. § 32b Abs. 2 Nr. 3 GWB). Führten die seinerzeit vorliegenden Informationen gleichwohl zur Ansetzung zu hoher Schwellenwerte, so stellten sie ersichtlich keine hinreichend aussagekräftige Beurteilungsgrundlage dar. Eine zuverlässige Einschätzung hätte daher weitergehende
Ermittlungen erfordert, die aussagekräftige Befragungen der Marktgegenseite
(Sägewerkbetreiber) sowie körperschaftlicher und privater Waldbesitzer umfassen konnten. Es spricht nichts dafür, dass solche Befragungen nicht schon im
Ausgangsverfahren zu den Erkenntnissen geführt hätten, die das Amt hinsichtlich einer eigenständigen, von der Zugehörigkeit in einer Kooperation unabhängigen Vermarktungsfähigkeit erst später ermittelt hat.
62
b) Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts ist eine nachträgliche
Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in einem wesentlichen Punkt auch
nicht deshalb anzunehmen, weil das Bundeskartellamt entscheidungsrelevante
Erkenntnisse erst durch die Befragung von Vermarktungskooperationen erlangt
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habe, die erst aufgrund der Verpflichtungszusagenentscheidung entstanden
sind.
63
aa) Aus der Beschwerdeentscheidung wird schon nicht deutlich, um welche Erkenntnisse es insoweit gehen soll. Das Beschwerdegericht führt lediglich
aus, dass sich diese Erkenntnisse namentlich auf den vom Amt angenommenen wettbewerbsbeschränkenden Einfluss der vom Land nicht kostendeckend
übernommenen (weiteren) forstwirtschaftlichen Dienstleistungen zugunsten dritter Waldbesitzer bezögen. Bei seiner eigenen Beurteilung eines wettbewerbsbeschränkenden Einflusses dieser Dienstleistungen hat das Beschwerdegericht
indes nicht auf die angesprochenen Ermittlungsergebnisse zurückgegriffen,
sondern im Wesentlichen Überlegungen angestellt, die sich auf der Grundlage
einschlägiger rechtlicher Regelungen, insbesondere des Waldgesetzes für Baden-Württemberg, u.a. auf die allgemeine Lebenserfahrung oder nach Auffassung des Beschwerdegerichts auf der Hand liegende Umstände stützen.
64
bb) Es kann jedenfalls im Ergebnis nicht angenommen werden, dass die
wettbewerbsbeschränkende Bedeutung forstlicher Dienstleistungen, die das
Bundeskartellamt jetzt geltend macht, nicht schon vor der Verpflichtungszusagenentscheidung erkennbar gewesen wäre. Die wesentlichen Rahmenbedingungen hierfür ergeben sich aus dem Landeswaldgesetz und nachgeordneten Bestimmungen, denen auch entnommen werden kann, dass
Dienstleistungen teilweise nicht kostendeckend oder auch unentgeltlich
erbracht werden. Zudem vermittelt schon eine Überblicksbetrachtung der hier
erst später in den Blick genommenen forstlichen Dienstleistungen einen
zumindest möglichen Zusammenhang mit der Holzvermarktung, dem gerade in
Anbetracht der für sich allein als unzureichend erkennbaren Schwellenwerte
näher hätte nachgegangen werden können. Dass in diesem Fall die für eine
wettbewerbsbezogene
Einschätzung
der
Dienstleistungen
wesentlichen
Erkenntnisse nicht hätten ermittelt werden können, liegt fern, auch wenn die
- 31 -
Erfahrungen der nichtstaatlichen Vermarktungskooperationen in Einzelheiten
ein noch vollständigeres Bild vermittelt haben mögen. Es ist im Übrigen nicht
ersichtlich, warum eine schon vor der Verpflichtungszusagenentscheidung
mögliche Befragung anderer Waldbesitzer zur Bedeutung und näheren
tatsächlichen Ausgestaltung forstlicher Dienstleistungen, beispielsweise auch
zu den Einflussmöglichkeiten eines Revierleiters, nicht zu ausreichenden
Ergebnissen hätte führen sollen.
65
c) Ohne Erfolg stellt das Bundeskartellamt schließlich darauf ab, dass die
Pilotprojekte gescheitert seien und die angestrebte Marktöffnung insgesamt
verfehlt worden sei.
66
Umstände, die einen Erfolg der Projekte und die erwünschte Marktöffnung hindern konnten, wie insbesondere ein zwischen der gemeinsamen Holzvermarktung und weiteren Dienstleistungen des Landes bestehender Zusammenhang, hätten – wie bereits dargelegt – in Erwägung gezogen und gegebenenfalls näher aufgeklärt werden können. Ihre spätere Erkenntnis kann daher
nicht als Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne von § 32b Abs. 2
Nr. 1 GWB gewertet werden. Erkennbar war auch, dass die festgelegten
Schwellenwerte für sich genommen kaum geeignet waren, eine maßgebende
Änderung der Marktverhältnisse zu bewirken.
67
Eine dem Wettbewerb förderliche Entwicklung hing im Wesentlichen davon ab, ob nichtstaatliche Marktteilnehmer mit einem Waldbesitz unterhalb des
Schwellenwertes in ausreichender Zahl bereit sein würden, aus der gemeinschaftlichen Holzvermarktung mit dem Land auszuscheiden und sich einer der
neu entstehenden nichtstaatlichen Kooperationen anzuschließen. Jedenfalls bei
vollständiger Erfassung der erkennbaren Ausgangslage war, auch angesichts
einer naheliegenden Verfestigung der bestehenden Verhältnisse, damit zu
- 32 -
rechnen, dass sich eine entsprechende Erwartung möglicherweise nicht erfüllen
werde.
68
IV. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, da keine weitere
Sachaufklärung geboten ist. Die Kostenentscheidung beruht auf § 78 Satz 1
GWB.
Limperg
Meier-Beck
Sunder
Raum
Deichfuß
Vorinstanz:
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 15.03.2017 - VI-Kart 10/15 (5) -