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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IX ZR 160/09
Verkündet am:
22. April 2010
Preuß
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 531 Abs. 2 Satz 1, § 533
Zur prozessualen Behandlung einer auf erstinstanzlichen Vortrag gestützten Klageerweiterung in der Berufungsinstanz.
BGH, Urteil vom 22. April 2010 - IX ZR 160/09 - OLG Frankfurt/Main
LG Gießen
-2-
Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 22. April 2010 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Ganter und die Richter
Raebel, Prof. Dr. Kayser, Dr. Pape und Grupp
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 3. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 30. Juli 2009 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil des Klägers
erkannt worden ist.
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 3.027,25 € zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 1. Juli 2005 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Beklagten auferlegt.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1
Der Kläger ist Verwalter in dem auf Antrag vom 11. März 2005 am 1. Juli
2005 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der P.
-
GmbH (fortan: Schuldnerin). Die Schuldnerin bot ihren Kunden die Möglichkeit an, am Erfolg oder Misserfolg von Optionsgeschäften teilzunehmen. Sie
warb mit jährlich zu erzielenden Renditen zwischen 8,7 vom Hundert und
14,07 vom Hundert. Der Beklagte erklärte am 25. Mai 1999 seinen Beitritt zu
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der Anlegergemeinschaft. Tatsächlich erlitt die Schuldnerin im Zeitraum der Beteiligung des Beklagten Verluste. Um diese zu verschleiern, leitete sie den Anlegern Kontoauszüge zu, in denen frei erfundene Gewinne ausgewiesen waren.
Die Gelder der Anleger wurden nur zu einem geringen Teil und später
überhaupt nicht mehr in Termingeschäften angelegt. Die Einlagen von Neukunden verwendete die Schuldnerin in der Art eines "Schneeballsystems" für Ausund Rückzahlungen an Altkunden. Der Beklagte leistete ab Juni 1999 Einlagen
von insgesamt 23.660,82 €, von denen 1.547,90 € als Agio gebucht wurden. Er
erhielt zwischen August 2003 und September 2004 Gewinnausschüttungen von
insgesamt 29.083,51 €.
2
Der Kläger hat die Auszahlungen angefochten. Mit seiner Klage hat er
zunächst den Differenzbetrag zwischen den geleisteten Auszahlungen und der
Einlage
(6.970,59 €)
sowie
Ersatz
vorgerichtlicher
Rechtsanwaltskosten
(559,21 €) verlangt, jeweils zuzüglich Zinsen. Das Landgericht hat die Klage
abgewiesen. In der Berufungsinstanz hat der Beklagte nach Bekanntwerden
des Senatsurteils vom 11. Dezember 2008 (BGHZ 179, 137 ff) die Klageforderung anerkannt. Der Kläger hat die Hauptforderung um 3.027,25 € auf
9.997,84 € zuzüglich Zinsen erweitert und sich hierbei auf seine bereits mit der
Klagebegründung vorgelegte "Neuberechnung des Kontostandes des Beklagten unter Berücksichtigung aller Handelsergebnisse" bezogen. Das Berufungsgericht hat den Beklagten dem Anerkenntnis gemäß verurteilt und die weitergehende Klage abgewiesen. Mit der insoweit vom Berufungsgericht zugelassenen
Revision verfolgt der Kläger den im Berufungsrechtszug geltend gemachten
Erhöhungsbetrag weiter.
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Entscheidungsgründe:
3
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zu einer Verurteilung des Beklagten in
voller Höhe.
I.
4
Das Berufungsgericht hat gemeint: Hinsichtlich des Erhöhungsbetrages
sei keine Sachentscheidung zu treffen gewesen, weil die Klageerweiterung unzulässig sei. Sie scheitere jedenfalls an § 531 Abs. 2 ZPO. Die Behandlung der
"Zulassungsproblematik" hänge letztlich davon ab, ob die Klageerweiterung
neuen Tatsachenvortrag zum Gegenstand habe, der bereits im ersten Rechtszug hätte geltend gemacht werden können, was in vorwerfbarer Weise (vgl.
§ 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO) nicht geschehen sei. Dies sei hier zu bejahen.
Die Neuberechnung des Scheingewinns sei trotz der Vorlage der maßgeblichen
Berechnung nicht zum Gegenstand des erstinstanzlichen Rechtsstreits gemacht worden, was schon daraus folge, dass der sich hieraus ergebende höhere Betrag in erster Instanz nicht eingeklagt worden sei. Die in der Klageschrift
vorbehaltene Klageerweiterung nehme auf die "Neuberechnung" nicht Bezug.
Deren Funktion sei in erster Instanz nicht nachvollziehbar, zumal der Kläger die
Klageforderung auch nicht hilfsweise auf sie gestützt habe. Erst in der Berufungsinstanz sei sie als eine im Vergleich zu der erstinstanzlichen Abrechnung
"völlig neue Berechnungsmethode" in den Rechtsstreit eingeführt worden. Sie
sei, wie der Schriftsatz des Klägers vom 22. Dezember 2006 belege, erläuterungsbedürftig gewesen; deren Richtigkeit könne voraussichtlich nur nach Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens beurteilt werden. Die
Klageerweiterung sei mithin unzulässig. Über die mit dem Erweiterungsantrag
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verfolgte Forderung müsse gegebenenfalls in einem neuen Rechtsstreit entschieden werden.
II.
Diese Begründung hält rechtlicher Prüfung in mehreren Punkten nicht
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stand.
6
1. Zu Unrecht hält das Berufungsgericht die Klageerweiterung in Höhe
von 3.027,25 € für unzulässig. Bei prozessordnungsgemäßer Behandlung hätte
das Gericht über diesen Teil der Klageforderung sachlich entscheiden müssen,
weil die Erhöhung des Klagebetrages nach § 264 Nr. 2 ZPO nicht als Änderung
der Klage anzusehen ist. Es liegt daher kein Fall des § 263 ZPO vor. Nur auf
diese Vorschrift bezieht sich § 533 ZPO, der die Zulässigkeit einer Klageänderung in der Berufungsinstanz einschränkt (BGHZ 158, 295, 305 f; BGH, Urt. v.
8. Dezember 2005 - VII ZR 138/04, VersR 2006, 1361, 1362 f Rn. 25; v.
27. Februar 2007 - XI ZR 56/06, ZIP 2007, 718, 721 Rn. 30). Die unbeschränkte
Zulässigkeit einer Modifizierung des Klageantrags gemäß § 264 Nr. 2 oder 3
ZPO auch in der Berufungsinstanz entspricht dem Zweck der Vorschrift, der die
prozessökonomische und endgültige Erledigung des Rechtsstreits zwischen
den Parteien fördern will. Demgegenüber verkehrt das Berufungsgericht den
Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit in sein Gegenteil, indem es den
Kläger auf die Möglichkeit einer neuen Klage verweist. Der Bundesgerichtshof
hat in seiner Leitentscheidung eingehend dargelegt, dass auch der Sinn und
Zweck des § 533 ZPO dessen Anwendung auf § 264 ZPO im Berufungsverfahren nicht fordert (BGHZ 158, 295, 307). Der Senat teilt diese Auffassung.
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7
Das Berufungsgericht durfte deshalb von einer Sachentscheidung über
den Gegenstand der Klageerweiterung nicht absehen.
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2. Das Urteil des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen
Gründen als richtig dar (vgl. § 561 ZPO). Die Insolvenzanfechtung ist vielmehr
in vollem Umfang begründet.
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a) Es spricht bereits vieles dafür, dass der Kläger den erweiterten Antrag
mit der Bezugnahme auf die neue Berechnung auf Tatsachen gestützt hat, die
das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung ohnehin nach
§ 529 ZPO zugrunde zu legen hatte.
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aa) Mit dem zulässigen Rechtsmittel der Berufung gelangt grundsätzlich
der gesamte aus den Akten ersichtliche Sachvortrag erster Instanz ohne weiteres in die Berufungsinstanz. Das gilt auch für solches Vorbringen, das vom Gericht erster Instanz für unerheblich gehalten worden ist und im Tatbestand keine
ausdrückliche Erwähnung gefunden hat (BGH, Urt. v. 27. September 2006
- VIII ZR 19/04, NJW 2007, 2414, 2416 Rn. 16; v. 16. Oktober 2008 - IX ZR
183/06, WM 2009, 117, 120 Rn. 30). Für das in der Berufungsinstanz zusätzlich
geltend gemachte Zahlungsbegehren gibt es keinen neuen Sachvortrag des
Klägers, der nicht bereits in der Klageschrift enthalten und dort in Bezug auf die
mit der Klage vorgelegten Anlagen erläutert ist. Davon geht im Übrigen auch
das Berufungsgericht aus, indem es zu den Darlegungen des Klägers in der
Klagebegründung und den mit der Klageschrift vorgelegten Anlagen ausführt,
daraus ergebe sich bereits der im Berufungsrechtszug verfolgte Gesamtbetrag
von 9.997,84 €.
-7-
11
bb) Demgegenüber hält die Revisionserwiderung mit dem Berufungsgericht für ausschlaggebend, der Kläger habe diesen Sachvortrag erster Instanz
nicht (auch nicht hilfsweise) zur Stützung der Klageforderung verwandt. Da er in
erster Instanz zwar vorgetragen, jedoch nicht als Angriffsmittel verwendet worden sei, stelle er in der Berufungsinstanz ein neues Angriffsmittel dar. Die Berechnung der Klageforderung nach den realen Handelsverlusten sei im Übrigen
schon in erster Instanz nicht unstreitig gewesen. In der Berufungsinstanz habe
der Beklagte das Bestreiten wiederholt und substantiierte Einwendungen gegen
die Forderungsberechnung erhoben.
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Diese Gegenrüge ist unbegründet. Gehaltener Sachvortrag einer Partei
kann niemals versäumt sein (vgl. § 531 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 ZPO). Auf seine
Entscheidungserheblichkeit aus der Sicht des Vorderrichters kann es ebenso
wenig ankommen wie auf die Einbindung des Vortrags in die Begründung des
Anspruchs. Ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel ist nicht "neu", weil es sich zu
einem in der ersten Instanz unbeachtet gebliebenen rechtlichen Gesichtspunkt
verhält oder erst in zweiter Instanz beweisbedürftig geworden ist. Rechtlich bedeutungslos ist es deshalb auch, dass der Kläger es in der Hand hatte, der von
ihm in erster Instanz dargelegten neuen Berechnungsmethode durch eine Erhöhung der Klageforderung aus seiner Sicht Entscheidungserheblichkeit beizulegen. Wäre dies anders, würde die Entscheidung des Gesetzgebers konterkariert, Klageerweiterungen und -umstellungen gemäß § 264 Nr. 2 und 3 ZPO
nicht an die besonderen Voraussetzungen des § 533 ZPO zu knüpfen. Für echte Klageänderungen verhindert § 533 Nr. 2 ZPO, dass ein Berufungsgericht
eine Klageänderung gemäß § 533 Nr. 1 ZPO zwar zulassen müsste, an einer
der materiellen Rechtslage entsprechenden Entscheidung über die geänderte
Klage aber nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gehindert wäre. Diese Gefahr besteht
bei einer Antragsänderung gemäß § 264 Nr. 2 und 3 ZPO nur dann nicht, wenn
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das Berufungsgericht bei der Beurteilung des modifizierten Klageantrags zumindest auf den gesamten in erster Instanz angefallenen Prozessstoff zurückgreifen kann (vgl. BGHZ 158, 295, 308).
13
b) Ob die Klageforderung, wie der Kläger meint, auf der Basis der Neuberechnung der Scheingewinne schon jetzt voll umfänglich gerechtfertigt ist,
weil der entsprechende Sachvortrag erster Instanz unstreitig war und in zweiter
Instanz durch den Kläger nur verdeutlicht und erläutert worden ist (vgl. BGH,
Urt. v. 16. Oktober 2007 - VI ZR 173/06, NJW-RR 2008, 335, 337 Rn. 29), oder
ob die Neuberechnung des Scheingewinns durch den Kläger durchgängig streitig war und ohne eine Beweisaufnahme einer Entscheidung nicht zugrundegelegt werden kann, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Der Anfechtungsanspruch aus § 134 Abs. 1 ZPO ist schon deshalb begründet, weil der Beklagte
von den angefochtenen Auszahlungen die erbrachte Einlage nicht nach § 143
Abs. 2 Satz 1 InsO im Wege einer Verrechnung in Abzug bringen darf. Dies
kann der Senat auf der Grundlage des festgestellten Sachverhältnisses selbst
entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO).
14
aa) Nach der Rechtsprechung des Senats stehen dem Insolvenzverwalter eines Schuldners, der in der anfechtungsrelevanten Zeit Auszahlungen von
in "Schneeballsystemen" erzielten Scheingewinnen veranlasst hat, Anfechtungsansprüche aus § 134 Abs. 1 InsO zu (BGHZ 179, 137, 140 ff Rn. 6 ff;
BGH, Urt. v. 25. Juni 2009 - IX ZR 157/08, Rn. 6 f zitiert nach juris). Der Anspruch erfasst alle "Ausschüttungen", die der Schuldner auf die getätigte "Einlage" erbracht hat (vgl. BGHZ 179, 137, 145 Rn. 16). Als unentgeltliche Leistung zurückzugewähren (§ 143 Abs. 2 Satz 1 InsO) ist somit die Summe der
Auszahlungen, welche die Schuldnerin im Anfechtungszeitraum auf die vermeintlichen Gewinnansprüche geleistet und sie damit dem (fiktiven) Schuldver-
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hältnis zugeordnet hat (vgl. BGHZ 113, 98, 104 f; 179, 137, 145 Rn. 19). Im
Streitfall hat die Schuldnerin an den Beklagten in dieser Zeit 29.083,51 € ausgeschüttet.
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bb) Da der Schutz des getäuschten Anlegers es nicht gebietet, den
Rückgewähranspruch nach § 242 BGB einzuschränken (vgl. hierzu BGHZ 179,
137, 144 f Rn. 16 f, 146 Rn. 21), kann die Klage nur an § 143 Abs. 2 Satz 1 InsO scheitern. Nach dieser Bestimmung hat der Empfänger einer unentgeltlichen
(rechtsgrundlosen) Leistung diese nur zurückzugewähren, soweit er durch sie
bereichert ist.
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(1) In seinem Urteil vom 25. Juni 2009 (aaO Rn. 11 f) konnte der Senat
offenlassen, ob von der Summe der Auszahlungen auch das Agio abzusetzen
ist, welches auf dem bei der Schuldnerin geführten Verrechnungskonto der dortigen Beklagten zuvor ins Soll gestellt worden war. Denn die in jenem Fall zurückgeforderte "Leistungsspitze" wurde hierdurch nicht berührt. Entsprechendes
gilt für den vorliegenden Fall, in welchem der Kläger auf der Grundlage der von
ihm vorgenommenen "Neuberechnung des Scheingewinns unter Berücksichtigung der realen Handelsergebnisse" von den auf den Rückgewähranspruch
angerechneten verlorenen Einlagen Teilbeträge abgezogen hat, was - bei unverändert gebliebenen Auszahlungen - eine rechnerische Erhöhung des
Scheingewinns nach sich zieht.
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(2) Allerdings kommt es im Zusammenhang mit der Entreicherung auf die
neue Abrechnung nur dann nicht an, wenn die verlorene Einlage als solche
nach § 143 Abs. 2 Satz 1 InsO nicht als Abzugsposten von den Auszahlungen
abzusetzen ist. Insoweit fehlte es bislang an einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Wie der Senat mit Urteil vom heutigen Tage (IX ZR 163/09) klarge-
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stellt hat, ist die Einlage des Anlegers kein saldierungsfähiger Abzugsposten,
welcher die Bereicherung infolge der ausgezahlten Scheingewinne mindert (vgl.
insbesondere BGHZ 149, 326, 333 f; 150, 138, 146 ff; 161, 241, 253 f). Weitere
Abzugsposten, welche die Klageforderung - vorausgesetzt die Leistung des Insolvenzschuldners ist in Natur nicht mehr vorhanden - in Frage stellen könnten,
hat der insoweit darlegungs- und beweispflichtige Beklagte (vgl. BGH, Urt. v.
17. Dezember 2009 - IX ZR 16/09, ZIP 2010, 531, 533 Rn. 17) nicht geltend
gemacht.
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Unter diesen Umständen sind die insgesamt zurückgeforderten knapp
10.000 € als unentgeltliche Ausschüttungen anfechtbar.
Ganter
Raebel
Pape
Kayser
Grupp
Vorinstanzen:
LG Gießen, Entscheidung vom 30.08.2007 - 4 O 238/07 OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 30.07.2009 - 3 U 218/07 -