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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 361/12
Verkündet am:
11. Juli 2013
Freitag
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ÜGRG § 23 Satz 1; GVG §§ 198 ff; MRK Art. 35 Abs. 1
Ist zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes über den Rechtsschutz bei
überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren
(ÜGRG) vom 24. November 2011 (BGBl. I S. 2302) hinsichtlich eines bereits
abgeschlossenen (überlangen) Verfahrens beim Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte eine Individualbeschwerde des Betroffenen anhängig, so
kommt nach Maßgabe der Übergangsvorschrift des § 23 Satz 1 ÜGRG eine
Entschädigung gemäß §§ 198, 199 GVG nur dann in Betracht, wenn die Beschwerde in zulässiger Weise erhoben worden, also insbesondere die
Sechs-Monats-Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK gewahrt worden ist.
BGH, Urteil vom 11. Juli 2013 - III ZR 361/12 - OLG Celle
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 11. Juli 2013 durch den Vizepräsidenten Schlick und die Richter Dr. Herrmann, Wöstmann, Hucke und Mayer
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 23. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Celle vom 24. Oktober 2012 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsrechtszugs zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1
Der Kläger nimmt das beklagte Land wegen der aus seiner Sicht unangemessen langen Dauer eines gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahrens auf
Zahlung einer angemessenen Entschädigung von mindestens 5.000 € in Anspruch. Das Verfahren wurde aufgrund einer Strafanzeige von der Staatsanwaltschaft H.
wegen Betrugs am 14. April 1994 eingeleitet und am
13. August 2002 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Wegen der Länge dieses
Ermittlungsverfahrens erhob der Kläger im Jahr 2006 eine Amtshaftungsklage
gegen das beklagte Land, die mit Berufungsentscheidung vom 29. Dezember
2010 rechtskräftig abgewiesen wurde. Dagegen wandte er sich mit einer Ver-
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fassungsbeschwerde, die vom Bundesverfassungsgericht mit am 13. Mai 2011
zugestellten Beschluss nicht zur Entscheidung angenommen wurde.
2
Der Kläger reichte am 11. November 2011 eine Individualbeschwerde
gegen die Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) ein und rügte die Verletzung seiner
Rechte aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK wegen der Dauer des gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahrens. Am 1. Juni 2012 erhob er, gestützt auf §§ 198, 199
GVG, gegen das beklagte Land Klage auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung. Der EGMR erklärte seine Beschwerde unter dem 19. Juli 2012 für
unzulässig und verwies den Kläger auf die Notwendigkeit der Ausschöpfung
des mit dem am 3. Dezember 2011 in Kraft getretenen Gesetz über den
Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geschaffenen Rechtsbehelfs.
3
Das Oberlandesgericht hat die Entschädigungsklage abgewiesen. Mit
der von der Vorinstanz zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Anspruch weiter.
Entscheidungsgründe
4
Die Revision des Klägers ist zulässig, in der Sache hat sie jedoch keinen
Erfolg.
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I.
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Das Oberlandesgericht hat einen Entschädigungsanspruch des Klägers
aus § 199 Abs. 1 GVG i.V.m. § 198 GVG verneint: Zwar komme ein solcher
Anspruch nach Art. 23 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen
Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren auch für zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens am 3. Dezember 2011 bereits abgeschlossene Verfahren, hier das Ermittlungsverfahren gegen den Kläger, in Betracht. Nach dem
Sinn und Zweck dieser Übergangsregelung seien jedoch nur solche bereits beendeten Verfahren von dem Anwendungsbereich des Gesetzes umfasst, deren
Dauer zu diesem Zeitpunkt Gegenstand einer zulässig erhobenen Beschwerde
beim EGMR gewesen sei oder noch habe werden können. Dies sei vorliegend
nicht der Fall, denn der Kläger habe wegen der Dauer des bereits im Jahr 2002
abgeschlossenen Ermittlungsverfahrens erst am 11. November 2011 eine Beschwerde erhoben, die aber wegen offensichtlicher Nichteinhaltung der Frist
des Art. 35 Abs. 1 EMRK (sechs Monate nach Abschluss des beanstandeten
Verfahrens) unzulässig und deshalb ohne Aussicht auf Erfolg gewesen sei. Der
Gesetzgeber habe deutlich zum Ausdruck gebracht, dass gerade im Hinblick
auf diese Frist das beanstandete Verfahren nicht länger als sechs Monate vor
Geltung des neuen Entschädigungsgesetzes abgeschlossen gewesen sein dürfe. Entgegen der Auffassung des Klägers stelle vorliegend die Beendigung des
strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens im Jahr 2002 den maßgeblichen Zeitpunkt für den Beginn der Frist für eine derartige Beschwerde dar, nicht aber die
rechtskräftige Abweisung seiner Amtshaftungsklage und die Entscheidung über
die von ihm erhobene Verfassungsbeschwerde.
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II.
6
Dies hält den Angriffen der Revision stand. Die Entschädigungsklage ist
zu Recht abgewiesen worden. Denn die auf eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer gerichteten Vorschriften des § 199 Abs. 1 in Verbindung mit § 198 GVG finden im Streitfall keine Anwendung.
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Das gegen den Kläger gerichtete Ermittlungsverfahren war zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen
Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) vom
24. November 2011 (BGBl. I S. 2302) am 3. Dezember 2011 bereits beendet.
Ein Entschädigungsanspruch kommt bei vor dem Tag des Inkrafttretens bereits
abgeschlossenen Verfahren nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen der
Übergangsvorschrift des Art. 23 ÜGRG erfüllt sind. Dies ist vorliegend nicht der
Fall.
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1.
Das gegen den Kläger geführte Ermittlungsverfahren war bereits im Jahr
2002 mit der Einstellung des Strafverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO abgeschlossen. Zwar entfaltet die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO keine Sperrwirkung und ein Strafklageverbrauch tritt nicht ein, so dass die Wiederaufnahme
der Ermittlungen sowie die Erhebung der öffentlichen Klage bis zum Eintritt der
Verjährung möglich bleiben. Der maßgebliche Zeitraum auch für die Berechnung der Dauer des Verfahrens ist jedoch beendet, wenn nicht länger angenommen werden kann, dass der Beschuldigte ernsthaft betroffen ist, wie dies
bei der Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO der Fall ist (vgl. Meyer-Ladewig,
EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 196, 197).
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9
2.
Nach der Übergangsvorschrift des Art. 23 Satz 1 ÜGRG finden die ver-
fahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Regelungen der §§ 198 bis 201
GVG auch auf Verfahren Anwendung, die bei Inkrafttreten des Gesetzes am
3. Dezember 2011 bereits anhängig waren, sowie bei solchen abgeschlossenen
Verfahren, deren Dauer zum Zeitpunkt des Inkrafttretens Gegenstand von anhängigen Beschwerden beim EGMR ist oder noch werden kann. Die Voraussetzungen dieser Übergangsbestimmung sind im Streitfall nicht erfüllt, weil die
beim EGMR eingelegte Beschwerde die Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK nicht
gewahrt hat.
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a) Der Kläger hatte zwar am 11. November 2011 und damit noch kurz
vor Inkrafttreten des Entschädigungsgesetzes eine auf die Dauer des gegen ihn
gerichteten Ermittlungsverfahrens gerichtete Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben. Auch wenn damit eine Beschwerde formal anhängig gewesen ist, war sie jedoch offensichtlich verfristet
und hatte deshalb auch nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des neuen Entschädigungsgesetzes keine Aussicht auf Erfolg. Denn das Verfahren, das Gegenstand der Beschwerde war und wegen dessen Dauer der Kläger nunmehr
Entschädigung verlangt, war länger als sechs Monate vor Eingang der Beschwerde abgeschlossen. Nach Art. 35 Abs. 1 EMRK kann sich der EGMR mit
einer Beschwerde nur befassen, wenn sie innerhalb dieser mit der endgültigen
innerstaatlichen Entscheidung beginnenden Frist eingelegt worden ist. Der Gerichtshof ist dabei an diese Frist gebunden und kann davon nicht absehen (vgl.
Leitfaden des EGMR zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde 2011, S. 20 Nr. 69).
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aa) Die Frist beginnt mit Zustellung der oder Kenntnisnahmemöglichkeit
von der die Rechtswegerschöpfung als weiterer Voraussetzung des Art. 35
Abs. 1 EMRK begründenden letztinstanzlichen Entscheidung (EGMR, NVwZ
1999, 1325 Rn. 30). Außerordentliche oder verfassungsrechtliche Rechtsbehelfe hat der Beschwerdeführer grundsätzlich einzulegen; allerdings muss er nur
die Rechtsbehelfe ausschöpfen, die sich auf die gerügten Rechtsverstöße beziehen und zugleich verfügbar, angemessen und wirksam sind (vgl. EGMR,
NVwZ 2013, 47 Rn. 35). Zwar konnte vor Inkrafttreten der §§ 198 ff GVG in laufenden Strafverfahren die überlange Verfahrensdauer grundsätzlich mit einer
Verfassungsbeschwerde beanstandet werden. Nach Abschluss des Verfahrens
kam jedoch eine solche Möglichkeit nicht mehr in Betracht. Insbesondere konnte (auch) auf dem Wege einer Verfassungsbeschwerde eine angemessene
Wiedergutmachung für die Verletzung des Gebots der angemessenen Frist in
keinem Falle erreicht werden (vgl. EGMR, NJW 2006, 2389 Rn. 105 f sowie
EGMR, Urteil vom 13. November 2008, Individualbeschwerde Nr. 26073/03,
Rn. 57, 59; Meyer-Ladewig, aaO, Art. 13 Rn. 35).
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bb) Zu Recht hat das Oberlandesgericht weiter angenommen, dass es
für die Einhaltung der Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK und die Frage der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht auf den Zeitpunkt der Beendigung des vom Kläger angestrengten Amtshaftungsprozesses nebst der
sich anschließenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ankommt.
Ein Amtshaftungsprozess zählt nicht zu den vor einer Individualbeschwerde
auszuschöpfenden Rechtsbehelfen. Der Amtshaftungsanspruch erfasst zwar
auch Fälle pflichtwidriger Verzögerung eines Rechtsstreits oder Ermittlungsverfahrens und gewährt insofern einen Anspruch auf Schadensersatz. Wegen der
Beschränkung auf schuldhafte Verzögerungen und der Ausklammerung von
Nichtvermögensschäden genügt dieser Anspruch aber nicht den Anforderungen
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an einen kompensatorischen Rechtsbehelf (vgl. BT-Drucks. 17/3802 S. 1 f, 15;
Meyer-Ladewig aaO Art. 13 Rn. 42).
13
Mithin stand dem Kläger nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens kein
tauglicher Rechtsbehelf gegen die Dauer des Verfahrens zur Verfügung. Abzustellen ist für die Fristberechnung deshalb allein auf die Verfahrenseinstellung.
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b) Die bloße (formale) Erhebung einer Beschwerde bei dem EGMR reicht
aber nicht aus, um nach §§ 198, 199 GVG in Verbindung mit Art. 23 ÜGRG einen Entschädigungsanspruch für die lange Dauer abgeschlossener Verfahren
zu begründen; vielmehr muss die Beschwerde innerhalb der Frist des Art. 35
Abs. 1 EMRK eingelegt worden sein.
15
aa) Auch wenn sich aus dem Wortlaut der Übergangsbestimmung des
Art. 23 ÜGRG eine solche Einschränkung nicht ergibt, ist sie entgegen der Auffassung der Revision dem Sinn und Zweck dieser Regelung und dem gesetzgeberischen Willen zu entnehmen. Der Gesetzesbegründung ist zu entnehmen,
dass nur bei solchen abgeschlossenen überlangen Verfahren eine Entschädigung nach Maßgabe der §§ 198 ff GVG in Betracht kommen soll, bei denen
- bezogen auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes - eine nach Art. 35
Abs. 1 EMRK zulässige Beschwerde beim EGMR bereits erhoben wurde oder
noch erhoben werden kann. Denn mit der Übergangsregelung sollen weitere
Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland verhindert und der Gerichtshof
entlastet werden. Dieser Zielsetzung würde es zuwiderlaufen, wenn mit der Einlegung verfristeter Individualbeschwerden der Weg für eine innerstaatliche Entschädigung wegen unangemessener Dauer bei längst abgeschlossenen - hier:
mehr als neun Jahre - Verfahren geebnet werden könnte. Dass mit der von der
Revision vertretenen Auffassung die gesetzgeberische Intention unterlaufen
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würde, wird auch daran deutlich, dass im Gesetzentwurf der Bundesregierung
der ausdrückliche Hinweis enthalten ist, dass der Verfahrensabschluss nicht
länger als sechs Monate zurückliegen darf, da die Beschwerdefrist des Art. 35
Abs. 1 EMRK sechs Monate betrage (vgl. BT-Drucks. 17/3802 S. 31 zu Art. 22
des Entwurfs = Art. 23 ÜGRG). Diesem Zweck entsprechend sollen diejenigen
Altverfahren aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herausfallen, bei denen eine Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland auch nach der vor Inkrafttreten des Gesetzes geltenden Rechtslage durch den EGMR ausgeschlossen war, weil die Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK nicht eingehalten war. Art. 23
ÜGRG versteht sich daher unter Einbeziehung dieser Zulässigkeitsvoraussetzung (vgl. LAG Sachsen, Beschluss vom 7. Juni 2012 - 1 Oa 2/12, juris Rn. 7;
LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 21. November 2012 - L 2 SF 436/12 EK,
juris Rn. 66 und vom 20. Februar 2013 - L 2 SF 1495/12 EK, BeckRS 2013,
67112 Rn. 37 f, 43; siehe auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 2. August 2012
- 23 SchH 5/12 EntV, juris, Rn. 3; BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 - B 10 ÜG
1/12 KL, BeckRS 2013, 69771, juris Rn. 12; LSG Hessen, NZS 2013, 472, 475 f
Rn. 6; Mayer in Kissel/Mayer, GVG, 7. Aufl., § 198 Rn. 57; Ott in SteinbeißWinkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013, Art. 23
ÜGRG Rn. 7; Marx in Marx/Roderfeld, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsund Ermittlungsverfahren, 2013, Art. 23 ÜGRG Rn. 2; Heine, MDR 2012, 327;
Söhngen, NZS 2012, 493, 497; Wenner, Soziale Sicherheit 2012, 32, 35; a.A.
LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29. November 2012 - L 10 SF 5/12 ÜG, juris
Rn. 186, 187).
16
bb) Dieser Beurteilung steht der von der Revision in den Vordergrund
gestellte Umstand nicht entgegen, dass die Übergangsregelung in der ursprünglichen Fassung des Gesetzentwurfs (vgl. BT-Drucks. 17/3802 S. 14, damals noch Art. 22) im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens dahin ergänzt wur-
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de, dass die Klage für abgeschlossene Verfahren spätestens an dem Tag erhoben werden muss, der sechs Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes liegt
(BT-Drucks. 17/7217 S. 21, also am 3. Juni 2012, vgl. BGBl. 2011 I S. 2312).
Damit sollte sichergestellt werden, dass bei Altverfahren für Betroffene ebenso
wie im Fall des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG eine einheitliche Überlegungsfrist von
sechs Monaten gilt, in der sie über die Erhebung einer Entschädigungsklage
entscheiden können (vgl. BT-Drucks. 17/7217 S. 30, 31; Ott aaO Art. 23 ÜGRG
Rn. 9). Keineswegs sollten damit die Voraussetzungen für die Erhebung einer
Beschwerde vor dem EGMR als entbehrlich angesehen werden. Im Gegenteil
belegt der Umstand, dass das angegebene Datum 3. Juni 2012 sechs Monate
nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes liegt, dass der Gesetzgeber nach wie vor die Fristenregelung des Art. 35 Abs. 1 EMRK im Blick hatte.
Dies wird darüber hinaus durch die in Art. 23 ÜGRG enthaltene weitere Voraussetzung bestätigt, wonach die Möglichkeit bestehen muss, eine Beschwerde
noch anhängig zu machen; diese Möglichkeit besteht nur, soweit der Beschwerdeführer die Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK wahren kann.
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cc) Die Richtigkeit der vom Senat vorgenommenen Auslegung des
Art. 23 ÜGRG wird entgegen der Auffassung der Revision auch nicht dadurch in
Frage gestellt, dass der EGMR die Beschwerde des Klägers wegen Nichterschöpfung des (neuen) innerstaatlichen Rechtsbehelfs für unzulässig erklärt
und ihm mitgeteilt hat, er könne sich nach Abschluss eines solchen Verfahrens
erneut mit einer Beschwerde an den Gerichtshof wenden. Dieser Umstand ist
für die Auslegung der Übergangsvorschrift des Art. 23 ÜGRG ohne Aussagekraft. Insbesondere lässt die Entscheidung des EGMR nicht darauf schließen,
dass sich der Gerichtshof mit dem Inhalt dieser Übergangsregelung und den
darin vorgesehenen Einschränkungen sowie dem Sinn und Zweck dieser Bestimmung näher befasst hat.
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18
Seit der Entscheidung über die Individualbeschwerde Nr. 69789/01
(Brusco ./. Italien, ECHR 2001-IX) vom 6. September 2001 stellt der Gerichtshof
in den Vordergrund, dass nach Einführung einer neuen innerstaatlichen Entschädigungsregelung diese zunächst geltend zu machen und auszuschöpfen
sei. Dabei hat er für das deutsche Recht in der Individualbeschwerdesache Nr.
53126/09 vom 29. Mai 2012 (NVwZ aaO S. 48 Rn. 43) wie auch in verschiedenen anderen Verfahren (Entscheidungen vom 10. Juli 2012, Individualbeschwerden Nr. 27366/07 u.a. sowie 64208/11 u.a.) der Tatsache besondere Bedeutung beigemessen, dass der Beschwerdeführer nach dem neuen Entschädigungsgesetz berechtigt sei, seine Ansprüche gemäß den Übergangsbestimmungen zu diesem Gesetz vor den innerstaatlichen Gerichten geltend zu machen, und dies den Willen des Gesetzgebers widerspiegele, den Personen, die
vor Inkrafttreten des Rechtsschutzgesetzes Beschwerde vor dem Gerichtshof
erhoben hatten, auf innerstaatlicher Ebene Wiedergutmachung zu leisten. Diese allgemeinen Ausführungen erlauben jedoch nicht den Schluss, dass der
EGMR bei diesen Entscheidungen die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 198 ff
GVG und insbesondere des Art. 23 ÜGRG einer eingehenden Prüfung unterzogen hat. Dem steht schon entgegen, dass der Gerichtshof stets zum Ausdruck
gebracht hat, dass es bei Einführung eines Rechtsbehelfs, mit dem eine Entschädigung verlangt werden kann, wichtig sei, dass die nationalen Instanzen
als erste und ohne Verzögerung solche Anträge prüften, weil sie besser in der
Lage seien, den für die Entscheidung erheblichen Sachverhalt festzustellen und
die Höhe der Entschädigung zu berechnen (NVwZ aaO).
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Der an den Kläger gerichtete Hinweis des EGMR vermag daher keinen
Aufschluss darüber zu geben, ob die §§ 198, 199 GVG nach der Übergangsregelung des Art. 23 ÜGRG auch im Falle einer Versäumung der Sechs-MonatsFrist des Art. 35 Abs. 1 EMRK zum Zuge kommen können.
Schlick
Herrmann
Hucke
Wöstmann
Mayer
Vorinstanz:
OLG Celle, Entscheidung vom 24.10.2012 - 23 SchH 10/12 -