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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 294/17
vom
31. August 2017
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr zur Herbeiführung eines
Unglücksfalls u.a.
ECLI:DE:BGH:2017:310817B4STR294.17.0
-2-
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 31. August 2017 gemäß §§ 44, 45 Abs. 2 Satz 3, § 346 Abs. 2, § 349 Abs. 1 StPO beschlossen:
1. Nach Versäumung der Frist für den Antrag auf Entscheidung
des Revisionsgerichts gegen den Verwerfungsbeschluss des
Landgerichts Düsseldorf vom 16. Mai 2017 wird dem Angeklagten von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand gewährt.
2. Auf den Antrag des Angeklagten auf Entscheidung des Revisionsgerichts wird der vorbezeichnete Beschluss des Landgerichts Düsseldorf aufgehoben.
3. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 22. März 2017 sowie der Antrag des
Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist werden als
unzulässig verworfen.
4. Es wird davon abgesehen, dem Beschwerdeführer die Kosten der Wiedereinsetzung und die Kosten und Auslagen des
Revisionsverfahrens aufzuerlegen (§ 74 JGG).
-3-
Gründe:
I.
1
Das Landgericht hat den Angeklagten mit Urteil vom 22. März 2017 von
den Vorwürfen des vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr
zur Herbeiführung eines Unglücksfalls in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und der Beleidigung freigesprochen, weil er im jeweiligen Tatzeitpunkt
im Zustand der Schuldunfähigkeit handelte. Es hat indes unter Einbeziehung
des Urteils vom 18. März 2016, durch das der Angeklagte wegen versuchter
schwerer Brandstiftung in zwei Fällen verurteilt und die Verhängung einer Jugendstrafe gemäß § 27 JGG vorbehalten worden war, die Unterbringung des
Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
2
Mit am 21. April 2017 beim Landgericht eingegangenem Schreiben hat
der Angeklagte „Einspruch“ gegen das Urteil vom 22. März 2017 eingelegt und
„Wiedereinsetzung“ begehrt.
3
Das Landgericht hat die Begehren des Angeklagten als Revision gegen
das Urteil vom 22. März 2017 und als Gesuch um Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand wegen der Versäumung der Rechtsmittelfrist ausgelegt. Es hat
beide Rechtsmittel durch Beschluss vom 16. Mai 2017, dem Verteidiger des
Beschuldigten zugestellt am 19. Mai 2017, als unzulässig verworfen.
Der Beschluss enthielt – auszugsweise – folgende Rechtsmittelbeleh-
4
rung:
-4-
5
„Der Verurteilte kann gegen diesen Beschluss binnen einer Woche nach
Zustellung der schriftlichen Beschlussgründe auf Entscheidung des Revisionsgerichts antragen. (…)“
6
Dem Angeklagten wurde der Beschluss unter dem 18. Mai 2017 formlos
übersandt, ohne dass sich das Datum des Zugangs nachvollziehen lässt. Die
Übersendung erfolgte unter dem Hinweis, dass die förmliche Zustellung des
Beschlusses an den Verteidiger des Angeklagten erfolgt sei. Eine gesonderte
Belehrung über die fristauslösende Wirkung der Zustellung an den Verteidiger
erfolgte nicht.
7
Gegen die Verwerfung seiner Begehren durch das Landgericht wendet
sich der Angeklagte persönlich mit mehreren im Zeitraum vom 30. Mai bis zum
8. Juni 2017 bei Gericht eingegangenen Schreiben, in denen er wiederum „Einspruch“ erhebt.
II.
8
Der Senat hat über die Anträge des Angeklagten wie aus der Beschlussformel ersichtlich entschieden.
9
Der Generalbundesanwalt hat in seiner Zuschrift vom 7. Juli 2017 dazu
das Folgende ausgeführt:
„Dem Beschwerdeführer ist gemäß §§ 44, 45 Abs. 2 Satz 3 StPO von
Amts wegen Wiedereinsetzung in die versäumte Frist des § 346 Abs. 2
StPO zu gewähren.
-5-
Er hat die Frist des § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO versäumt, weil er nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Wochenfrist, die durch Zustellung
an den Verteidiger am 19. Mai 2017 in Lauf gesetzt worden war (§ 145a
Abs. 1 StPO), auf die Entscheidung des Revisionsgerichts angetragen
hat.
Die konkreten Umstände des Einzelfalls gebieten es indes, dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in die versäumte Frist des § 346
Abs. 2 StPO zu gewähren.
Dem Beschwerdeführer ist in einem psychiatrischen Krankenhaus die
Freiheit entzogen. Er wird als psychisch Kranker angesehen, der psychiatrischer Behandlung bedarf, und der aus diesem Grund für die ihm zur
Last gelegten Handlungen nicht verantwortlich war. Er leidet insbesondere an einer Intelligenzminderung, die nach den Feststellungen des Landgerichts Düsseldorf den Grad eines Schwachsinns im Sinne des § 20
[StGB] aufweist (UA S. 10). Diese Umstände begründen eine besondere
Schutzbedürftigkeit des Beschwerdeführers (vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 1. September 2016 – 24062/13, juris
Rn. 39).
Unter Berücksichtigung dessen vermindern die besonderen Umstände
des Einzelfalles das Ausmaß des Verschuldens, das dem psychisch
kranken Beschwerdeführer zuzurechnen ist.
Die formalistisch im Beschluss vom 16. Mai 2017 ergangene Belehrung
über die Möglichkeit eines Antrags nach § 346 Abs. 2 StPO war für den
Beschwerdeführer unter Berücksichtigung dessen bestehender Intelligenzminderung möglicherweise irreführend. Sie spricht davon, dass der
Verurteilte gegen den Beschluss binnen einer Woche nach Zustellung
auf Entscheidung des Revisionsgerichts antragen kann. Im Begleitschreiben zur Übersendung des Beschlusses vom 18. Mai 2017 (SA
Bd. VI, Bl. 925) ist lediglich der Hinweis erfolgt, dass der Beschluss dem
Verteidiger förmlich zugestellt worden sei. Ein besonderer Hinweis darauf, dass diese Zustellung für den Lauf der im Beschluss vom 16. Mai
2017 dargelegten Rechtsmittelfrist maßgeblich ist, erging nicht.
-6-
Es kann indes nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer
als juristischer Laie den Rechtsbegriff der Zustellung und die Wirkungen
des § 145a StPO verkannt hat und davon ausging, dass er („der Verurteilte“) eine Frist von einer Woche ab eigener Kenntniserlangung zu
wahren habe, zumal er an einer Intelligenzminderung im Grade des
Schwachsinns leidet. Für diese Annahme spricht insbesondere der Inhalt
seines Schreibens vom 24. Mai 2017 (SA Bd. VI, Bl. 907). Darin führt er
an, dass er den Beschluss vom 16. Mai 2017 erhalten habe und wisse,
dass er eine Woche Zeit habe, „Einspruch“ einzulegen.
Die besondere Schutzbedürftigkeit wird auch nicht dadurch kompensiert,
dass der Beschwerdeführer von einem Rechtsanwalt verteidigt wurde.
Der Verteidiger hat seine Aufgabe nach Erlass des Beschlusses vom
16. Mai 2017 und dessen Zustellung am 19. Mai 2017 faktisch nicht mehr
wahrgenommen. Er hat den Beschwerdeführer eigenen Angaben zufolge
weder von dem Beschluss in Kenntnis gesetzt noch über die für den Lauf
der Rechtsmittelfrist relevanten Wirkungen der am 19. Mai 2017 erfolgten
Zustellung belehrt (vgl. Vermerk vom 7. Juli 2017, SA Bd. VI, Bl. 920).
Ebenso wenig hat er seinerseits Initiative ergriffen, die Rechtsmittelfrist
des § 346 Abs. 2 StPO zu wahren. Zwar muss ein Verteidiger nicht
proprio motu Rechtsmittel einlegen. Er kann dies nur, wenn es dem Willen des Beschuldigten nicht zuwiderläuft (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt,
StPO, 60. Aufl. 2017, § 297 Rn. 3 mwN). Spätestens durch Zustellung
des Beschlusses vom 16. Mai 2017 hatte der Verteidiger jedoch Kenntnis
davon erlangt, dass der Beschwerdeführer offensichtlich das Urteil des
Landgerichts Düsseldorf vom 22. März 2017 anfechten wolle. Dies hätte
Anlass dazu geboten, die Belange des Beschwerdeführers erneut zu eruieren und dessen Rechte, zumindest durch Beratung und Belehrung, zu
wahren. Dies ist unterblieben (vgl. Vermerk vom 7. Juli 2017, SA Bd. VI,
Bl. 920), sodass eine Verteidigung, die im Hinblick auf die bei dem Angeklagten bestehende Intelligenzminderung sowie dessen Unterbringung
besonderer Fürsorge bedurfte, effektiv nicht stattfand.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer von
dem ihm formlos übersandten Beschluss des Landgerichts Düsseldorf
vom 16. Mai 2017 erst am 24. Mai 2017 Kenntnis erlangt hat. Eine Rekonstruktion des Postlaufs ist nicht möglich (vgl. Vermerk vom 7. Juli
2017, SA Bd. VI, Bl. 920). Der Verteidiger des Beschwerdeführers, dem
der Beschluss am 19. Mai 2017 zugestellt worden ist, hat den Beschwerdeführer eigenen Angaben zufolge von dem Beschluss zu keinem Zeit-
-7-
punkt in Kenntnis gesetzt (vgl. Vermerk vom 7. Juli 2017, SA Bd. VI,
Bl. 920).
Eigener, unverschuldet irrtümlicher Vorstellung nach hätte der Beschwerdeführer in diesem Fall durch sein am 30. Mai 2017 beim Landgericht Düsseldorf eingegangenes Schreiben die Frist des § 346 Abs. 2
StPO gewahrt.
Zur Wahrung des Rechts des Beschwerdeführers auf Zugang zu einem
Gericht gebieten diese Umstände unter Berücksichtigung der Garantien
des Art. 6 Abs. 1 MRK die Gewährung einer Wiedereinsetzung von Amts
wegen. Die dargelegten besonderen Umstände fallen zwar nicht in die
alleinige Verantwortung des Landgerichts Düsseldorf. Dies steht der Gewährung einer Wiedereinsetzung indes nicht entgegen (vgl. dazu auch
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 1. September
2016 – 24062/13, juris Rn. 43). Sie vermindern das Ausmaß des Verschuldens, das dem psychisch kranken Beschwerdeführer zuzurechnen
ist, der sich nicht nur mit einer rechtlich wie persönlich schwierigen Lage,
mit der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, konfrontiert sah, sondern darüber hinaus auch nicht mehr aktiv von einem Verteidiger unterstützt wurde, in einem solchen Maße, dass die Versagung
einer Wiedereinsetzung das Recht des Beschwerdeführers auf Zugang
zu einem Gericht in seinem Kerngehalt beeinträchtigen würde (vgl. dazu
auch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 1. September 2016 – 24062/13, juris Rn. 43).
Da den im Zeitraum vom 30. Mai bis zum 8. Juni 2017 bei Gericht eingegangenen Schreiben des Beschwerdeführers (SA Bd. VI, Bl. 904 ff.) dessen Begehren um gerichtliche Überprüfung des Beschlusses vom
16. Mai 2017 hinreichend entnommen werden kann, hat er den nach
§ 346 Abs. 2 StPO erforderlichen Antrag, wenn auch formal verspätet,
gestellt, mithin die versäumte Rechtshandlung nachgeholt.
Infolge der zu gewährenden Wiedereinsetzung in den vorigen Stand [hat]
der Senat auf den Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 346 Abs. 2
StPO über den Beschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 16. Mai
2017, durch den das Gesuch des Angeklagten um Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Frist zur
Einlegung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Düsseldorf
-8-
vom 22. März 2017 und das gegen dieses Urteil selbst gerichtete
Rechtsmittel als unzulässig verworfen worden sind, zu befinden […].
Der Beschluss ist aufzuheben. Wegen des zugleich mit dem Revisionsbegehren gestellten Wiedereinsetzungsantrags war das Landgericht zu
einer Verwerfung der Revision gemäß § 346 Abs. 1 StPO nicht mehr befugt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. März 2014 – 4 StR 553/13, juris
Rn. 3; vom 18. Dezember 2012 – 3 StR 461/12, juris Rn. 2; MeyerGoßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 346 Rn. 16). Auch die Entscheidung
über die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war
gemäß § 46 Abs. 1 StPO dem Landgericht entzogen.
Das Revisionsgericht ist damit berufen, in eigener Zuständigkeit sowohl
über das Wiedereinsetzungsgesuch (§ 46 Abs. 1 StPO) als auch die Zulässigkeit des als Revision auszulegenden Rechtsmittels zu entscheiden
(§ 349 Abs. 1 StPO).
Das Wiedereinsetzungsgesuch ist statthaft, aber im Übrigen unzulässig.
Der Beschwerdeführer hat die Wochenfrist zur Einlegung der Revision
(§ 341 Abs. 1 StPO) versäumt. Diese begann für das in Anwesenheit des
Angeklagten und seines Verteidigers verkündete Urteil am Tag der Verkündung, dem 22. März 2017, und endete damit am 29. März 2017 um
24:00 Uhr. Das Schreiben des Beschwerdeführers, mit dem erstmals das
Begehren um Anfechtung des Urteils zum Ausdruck gebracht wurde,
ging erst am 21. April 2017 beim Landgericht Düsseldorf ein.
Ein auf Wiedereinsetzung gerichteter Antrag muss indes Angaben nicht
nur über die versäumte Frist und die Gründe enthalten, auf Grund derer
die Rechtsmittelfrist nicht eingehalten werden konnte, sondern auch den
Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses darlegen. Diese Angaben sind
Zulässigkeitsvoraussetzung und müssen innerhalb der Wochenfrist des
§ 45 Abs. 1 Satz 1 StPO vorgebracht werden (BGH NStZ-RR 1996, 338),
woran es vorliegend gänzlich fehlt. Einer Belehrung über die Möglichkeit
und die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung bedarf es nicht (BGH,
Beschluss vom 13. Mai 1997 – 1 StR 142/97).
-9-
Bezogen auf die versäumte Frist zur Einlegung der Revision aus § 341
Abs. 1 StPO sind auch keine Umstände gegeben, die zur Gewährung
einer Wiedereinsetzung von Amts wegen Anlass geben. Der Beschwerdeführer wurde durch den Vorsitzenden des Tatgerichts in Anwesenheit
seines Verteidigers und der zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung bestellten Ergänzungspflegerin über die Möglichkeit und die Voraussetzungen
des Rechtsmittels der Revision belehrt (vgl. SA Bd. VI, Bl. 901 sowie PB
Bl. 11).
Im Nachgang der Urteilsverkündung erörterten der Verteidiger des Beschwerdeführers und dessen Ergänzungspflegerin den Inhalt und die
Folgen der ergangenen Entscheidung sowie die Möglichkeit der Anfechtung erneut mit dem Beschwerdeführer, ohne dass das Ansinnen formuliert wurde, Rechtsmittel einzulegen (vgl. Vermerk vom 7. Juli 2017, SA
Bd. VI, Bl. 920).
Dies führt zur Verwerfung der entgegen § 341 Abs. 1 StPO verspätet
eingelegten Revision als unzulässig gemäß § 349 Abs. 1 StPO durch das
nach § 46 Abs. 1 StPO zur Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag berufene Revisionsgericht (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2012 – 3 StR 461/12, juris Rn. 2).“
10
Dem schließt sich der Senat an. Mit Blick darauf, dass den Eltern des
Verurteilten das Sorgerecht entzogen, Rechtsanwältin N.
für die Dauer von
dessen Minderjährigkeit zur Ergänzungspflegerin bestellt worden war und die
Zustellung des Verwerfungsbeschlusses des Landgerichts vom 16. Mai 2017
auch an diese erfolgt ist, bemerkt der Senat mit Blick auf § 37 Abs. 2 StPO lediglich ergänzend:
11
Abgesehen davon, dass ein Betreuer bzw. gesetzlicher Vertreter nicht
per se als empfangsberechtigt im Sinne von § 37 Abs. 2 StPO anzusehen ist
(vgl. LR-StPO/Graalmann-Scheerer, 27. Aufl., § 37 Rn. 105; Meyer-Goßner/
Schmitt, § 37 Rn. 3, jeweils mwN), war die Ergänzungspflegschaft von Rechts-
- 10 -
anwältin N.
durch Eintritt der Volljährigkeit des Verurteilten bereits am
11. April 2017 erloschen.
Sost-Scheible
RinBGH Roggenbuck ist urlaubsabwesend und deshalb gehindert
zu unterschreiben.
Franke
Sost-Scheible
Quentin
Feilcke