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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. XII ZB 553/10
  4. vom
  5. 6. April 2011
  6. in der Familiensache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. ZPO § 522 Abs. 1; FamFG §§ 58 ff.; FGG-RG Art. 111 Abs. 1
  14. Entscheidet das Familiengericht statt nach dem - noch fortgeltenden - alten Verfahrensrecht nicht durch Urteil, sondern fehlerhaft nach neuem Verfahrensrecht
  15. durch Beschluss, wird auch durch die Einlegung einer Beschwerde beim Ausgangsgericht die Rechtsmittelfrist gewahrt (Grundsatz der "Meistbegünstigung",
  16. im Anschluss an Senatsbeschluss vom 17. Dezember 2008 - XII ZB 125/06 MDR 2009, 1000).
  17. BGH, Beschluss vom 6. April 2011 - XII ZB 553/10 - OLG Nürnberg
  18. AG Neumarkt i.d.OPf.
  19. -2-
  20. Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. April 2011 durch die Richter Dose, Weber-Monecke, Dr. Klinkhammer, Schilling und Dr. Nedden-Boeger
  21. beschlossen:
  22. Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des
  23. 7. Zivilsenats und Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 1. Oktober 2010 aufgehoben.
  24. Die Sache wird zur Verhandlung und erneuten Entscheidung
  25. - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das
  26. Berufungsgericht zurückverwiesen.
  27. Gegenstandswert: 12.356 €.
  28. Gründe:
  29. I.
  30. 1
  31. Die Kläger haben beantragt, den Beklagten im vereinfachten Unterhaltsverfahren zur Zahlung von Kindesunterhalt zu verpflichten. Nachdem die Anträge dem Beklagten im Juni 2009 zugestellt worden waren und dieser Einwendungen hiergegen erhoben hatte, haben die Kläger im Dezember 2009 beantragt, das streitige Verfahren durchzuführen. Mit "Endbeschluss" vom 16. Juni
  32. 2010 ist der Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von Kindesunterhalt verpflichtet worden. In der Rechtsbehelfsbelehrung heißt es, dass gegen den Beschluss
  33. das Rechtsmittel der Beschwerde statthaft und dieses binnen einer Frist von
  34. einem Monat beim Amtsgericht einzulegen sei.
  35. -3-
  36. 2
  37. Gegen diesen Beschluss, der dem Bevollmächtigten des Beklagten am
  38. 24. Juni 2010 zugestellt worden war, hat dieser mit Schriftsatz vom 20. Juli
  39. 2010 Beschwerde beim Amtsgericht eingelegt, die dort bereits am selben Tag
  40. per Telefax eingegangen ist. Nach Weiterleitung des Originals an das Berufungsgericht ist die Beschwerde dort am 28. Juli 2010 eingegangen.
  41. 3
  42. Das Berufungsgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss die "Berufung" des Beklagten als unzulässig verworfen. Nach dem hier anzuwendenden
  43. alten Recht habe der Beklagte beim Berufungsgericht Berufung einlegen müssen. Die Frist hierzu sei am 26. Juli 2010 abgelaufen, weshalb das Rechtsmittel
  44. des Beklagten verspätet sei. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei dem
  45. Beklagten nicht zu gewähren.
  46. 4
  47. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Rechtsbeschwerde.
  48. II.
  49. 5
  50. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
  51. 6
  52. 1. Zutreffend hat das Berufungsgericht allerdings darauf hingewiesen,
  53. dass auf das Verfahren gemäß Art. 111 Abs. 1 FGG-RG das bis zum
  54. 31. August 2009 geltende - alte - Verfahrensrecht anzuwenden ist, weil das
  55. Verfahren vor Inkrafttreten des FamFG zum 1. September 2009 eingeleitet worden ist (vgl. § 651 Abs. 3 ZPO aF bzw. § 255 Abs. 3 FamFG, wonach der
  56. Rechtsstreit als mit der Zustellung des Festsetzungsantrages rechtshängig geworden gilt).
  57. 7
  58. 2. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig.
  59. -4-
  60. 8
  61. Sie ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 iVm § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO
  62. statthaft.
  63. 9
  64. Die Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 1
  65. iVm Abs. 2 Nr. 2 ZPO zulässig. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Das Beschwerdegericht hat durch seine Entscheidung das Verfahrensgrundrecht des
  66. Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG
  67. iVm dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt, welches es den Gerichten verbietet, den
  68. Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz
  69. in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. Senatsbeschluss vom 2. April 2008 - XII ZB 189/07 - FamRZ 2008,
  70. 1338 Rn. 8 mwN).
  71. 10
  72. 3. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
  73. 11
  74. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es auf die - von
  75. ihm verneinte - Frage nicht an, ob dem Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Denn vorliegend hätte das Berufungsgericht nach
  76. dem Grundsatz der Meistbegünstigung das Rechtsmittel des Beklagten als zulässig erachten müssen.
  77. 12
  78. a) Nach allgemeiner Auffassung dürfen die Prozessparteien dadurch,
  79. dass das Gericht seine Entscheidung in einer falschen Form erlässt, keinen
  80. Rechtsnachteil erleiden. Ihnen steht deshalb sowohl das Rechtsmittel zu, das
  81. nach der Art der tatsächlich ergangenen Entscheidung statthaft ist, als auch das
  82. Rechtsmittel, das bei einer in der richtigen Form erlassenen Entscheidung zulässig wäre (Grundsatz der "Meistbegünstigung", st. Rspr. vgl. Senatsbeschluss
  83. vom 17. Dezember 2008 - XII ZB 125/06 - MDR 2009, 1000 Rn. 17 mwN). Der
  84. Schutzgedanke der Meistbegünstigung soll die beschwerte Partei vor Nachtei-
  85. -5-
  86. len schützen, die auf der unrichtigen Entscheidungsform beruhen. Der Grundsatz der Meistbegünstigung führt allerdings nicht dazu, dass das Rechtsmittel
  87. auf dem vom erstinstanzlichen Gericht eingeschlagenen falschen Weg weitergehen müsste; vielmehr hat das Rechtsmittelgericht das Verfahren so weiter zu
  88. betreiben, wie dies im Falle einer formell richtigen Entscheidung durch die Vorinstanz und dem danach gegebenen Rechtsmittel geschehen wäre (Senatsbeschluss vom 17. Dezember 2008 - XII ZB 125/06 - MDR 2009, 1000 Rn. 28).
  89. 13
  90. Der Grundsatz der Meistbegünstigung findet ebenso Anwendung, wenn
  91. - wie hier - das Gericht nach dem von ihm angewandten Verfahrensrecht die
  92. Entscheidungsart zwar zutreffend gewählt hat, der Fehler jedoch auf der Anwendung falschen Verfahrensrechts beruht. Denn auch in diesen Fällen ist das
  93. Vertrauen der Beteiligten auf die Richtigkeit der gewählten Entscheidungs- bzw.
  94. Verfahrensform schutzwürdig (ebenso OLG Zweibrücken Beschluss vom
  95. 21. Oktober 2010 - 6 UF 77/10 - juris Rn. 2 für den umgekehrten Fall, dass das
  96. Familiengericht noch nach altem Recht durch Urteil statt nach dem FamFG
  97. durch Beschluss entschieden hat).
  98. 14
  99. b) Gemessen an diesen Anforderungen hätte das Berufungsgericht das
  100. Rechtsmittel des Beklagten nicht als unzulässig verwerfen dürfen. Nach dem
  101. vom Amtsgericht gewählten Verfahren und der damit einhergehenden Entscheidungsform des Beschlusses (§ 38 FamFG) ist gemäß § 58 ff. FamFG die
  102. Beschwerde statthaft, die gemäß §§ 63 f. FamFG binnen einer Frist von einem
  103. Monat bei dem Gericht einzulegen ist, dessen Beschluss angefochten wird. Diesen Anforderungen wird die vom Beklagten eingelegte Beschwerde gerecht.
  104. Nach Zustellung des "Endbeschlusses" am 24. Juni 2010 ist die Beschwerde
  105. am 20. Juli 2010 per Telefax beim Amtsgericht eingegangen. Damit war die Einlegungsfrist für die Beschwerde gewahrt. Anstatt das Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen, hätte das Berufungsgericht es in das Berufungsverfahren
  106. -6-
  107. überleiten und - nach mündlicher Verhandlung - über die Beschwerde durch
  108. Urteil befinden müssen (vgl. Senatsbeschluss vom 17. Dezember 2008
  109. - XII ZB 125/06 - MDR 2009, 1000 Rn. 28).
  110. 15
  111. 4. Gemäß § 577 Abs. 4 ZPO ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur Verhandlung und erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
  112. Dose
  113. Weber-Monecke
  114. Schilling
  115. Klinkhammer
  116. Nedden-Boeger
  117. Vorinstanzen:
  118. AG Neumarkt i.d. OPf., Entscheidung vom 16.06.2010 - 3 F 671/09 OLG Nürnberg, Entscheidung vom 01.10.2010 - 7 UF 1005/10 -