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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. Xa ZR 68/06
  4. vom
  5. 29. Juli 2010
  6. in der Patentnichtigkeitssache
  7. -2-
  8. Der Xa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. Juli 2010 durch die
  9. Richter Prof. Dr. Meier-Beck und Keukenschrijver, die Richterin Mühlens und
  10. die Richter Gröning und Dr. Bacher
  11. beschlossen:
  12. Die Anhörungsrüge gegen das Urteil des Senats vom 15. April 2010
  13. wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
  14. Gründe:
  15. 1
  16. Die Anhörungsrüge ist teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet.
  17. 2
  18. 1.
  19. Dass der Senat die Frage der erfinderischen Tätigkeit anders beur-
  20. teilt hat als der gerichtliche Sachverständige, stellt entgegen der Auffassung der
  21. Beklagten keine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG dar. Ob sich der Gegenstand einer Erfindung für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem
  22. Stand der Technik ergibt, ist eine Rechtsfrage (BGH, Urteil vom 7. März 2006 X ZR 213/01, BGHZ 166, 305, 311 - Vorausbezahlte Telefongespräche mwN).
  23. 3
  24. 2.
  25. Soweit die Beklagte geltend macht, der Senat habe eine Überra-
  26. schungsentscheidung getroffen und sei abrupt von der etablierten Entscheidungspraxis abgewichen, ist ihre Rüge bereits unzulässig. Die Beklagte zeigt
  27. nicht auf, was sie ergänzend vorgetragen hätte, wenn sie auf die von ihr geltend
  28. gemachte Abweichung von früheren Entscheidungen aufmerksam gemacht
  29. worden wäre. Unabhängig davon ist der Senat in seinem Urteil von denselben
  30. Grundsätzen zur Beurteilung der Patentfähigkeit ausgegangen, die auch den
  31. von der Beklagten angeführten Entscheidungen zu Grunde liegen.
  32. -3-
  33. 4
  34. 3.
  35. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der Senat bei der Ermitt-
  36. lung der tatsächlichen Grundlagen kein entscheidungserhebliches Vorbringen
  37. der Beklagten übergangen.
  38. 5
  39. a)
  40. Der Senat hat berücksichtigt, dass es bei der Internet-Telefonie als
  41. nicht akzeptabel angesehen wird, wenn die Verzögerungszeit bei der Übertragung von Datenpaketen mehr als eine halbe Sekunde beträgt (Rn. 18, 95 f.).
  42. Seine Beurteilung, dass nach der Lehre des Streitpatents auch Störungen hinnehmbar sein können, die einige Sekunden dauern (Rn. 42), steht dazu nicht in
  43. Widerspruch. Diese Erwägungen beruhen auf der - ausdrücklich wiederholten Annahme, dass bei Telefongesprächen schon geringfügige Zeitverzögerungen
  44. zu hörbaren Qualitätseinbußen führen können. Sie befassen sich mit der davon
  45. zu unterscheidenden Frage, wie lange eine solche Störung - beispielsweise die
  46. Übertragung von Datenpaketen mit einer Verzögerungszeit von 600 Millisekunden - andauert, bevor auf eine zuverlässigere, aber teurere Verbindung gewechselt wird.
  47. 6
  48. b)
  49. Der Senat hat in diesem Zusammenhang auch berücksichtigt, dass
  50. die anderen von ihm angeführten Methoden zur Ermittlung der Qualität der Datenübertragung weniger genau sind und nur grobe Anhaltspunkte liefern
  51. (Rn. 42). Dass er auf dieser Grundlage Patentanspruch 1 des Streitpatents abweichend von der Auffassung der Beklagten und des gerichtlichen Sachverständigen ausgelegt hat, stellt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.
  52. 7
  53. c)
  54. Der Senat hat den Vortrag der Beklagten, was als individuelle Kom-
  55. munikationsverbindung im Sinne des Streitpatents zu verstehen ist, berücksichtigt (Rn. 35). Entgegen der Auffassung der Beklagten hat er festgestellt, dass im
  56. Stand der Technik Lösungen bekannt waren, bei denen während einer solchen
  57. Verbindung zwischen paket- und leitungsorientierter Übertragung gewechselt
  58. wird (Rn. 47).
  59. -4-
  60. 8
  61. d)
  62. Der Senat hat berücksichtigt, dass die Datenübertragung nach der
  63. Lehre des Streitpatents zwischen zwei bestimmten Telekommunikationseinrichtungen erfolgt. Er hat ausdrücklich dargelegt, wie der Ausdruck " Telekommunikationseinrichtung" im Sinne des Streitpatents zu verstehen ist (Rn. 26), und ist
  64. auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis gelangt, dass eine solche Einrichtung
  65. auch bei der in NK18 offenbarten Lösung eingesetzt wird (Rn. 74). Dass dies
  66. von der Bewertung durch die Beklagte und den gerichtlichen Sachverständigen
  67. abweicht, stellt keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar. Die Auslegung
  68. eines Patentanspruchs ist eine Rechtsfrage (BGH, Urteil vom 13. Februar 2007
  69. - X ZR 74/05, BGHZ 171, 120 Rn. 18 - Kettenradanordnung mwN).
  70. 9
  71. e)
  72. Der Senat hat berücksichtigt, dass es zwischen Praktikern aus dem
  73. Bereich der öffentlichen Fernmeldenetze einerseits und dem Bereich der Internet- und LAN-Technologie andererseits traditionell eine Kluft gab, die am Prioritätstag noch nicht überwunden war (Rn. 84, 91). Seine Beurteilung, dass am
  74. Prioritätstag dennoch Anlass bestand, sich mit vorhandenen Lösungen aus dem
  75. jeweils anderen Bereich zu befassen (Rn. 85), ist entgegen der Auffassung der
  76. Beklagten keine Tatsachenfeststellung, sondern die rechtliche Bewertung des
  77. maßgeblichen Sachverhalts. Der Senat hat dabei nicht übersehen, dass die
  78. Internet-Telefonie ausschließlich im IP-Bereich erfolgte.
  79. 10
  80. f)
  81. Der Senat hat das Vorbringen der Beklagten berücksichtigt, dass bei
  82. der in NK18 offenbarten Lösung nur das Verkehrsaufkommen des paketvermittelten Netzes insgesamt, nicht aber die Qualität einer individuellen Kommunikationsverbindung betrachtet wird (Rn. 87). Er hat diesem Umstand bei der Beurteilung der Patentfähigkeit keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen
  83. und damit eine von der Auffassung der Beklagten abweichende rechtliche Bewertung vorgenommen.
  84. -5-
  85. 11
  86. g)
  87. Der Senat hat das Vorbringen der Beklagten berücksichtigt, dass die
  88. X.25-Übertragung über den D-Kanal nicht die für Internet-Telefonie erforderliche Bandbreite bietet (Rn. 92). Er hat aus diesem Umstand abweichende rechtliche Schlussfolgerungen gezogen, weil in NK10 und NK20 auch für die paketvermittelte Übertragung ein ISDN-B-Kanal eingesetzt wird (Rn. 55) und weil das
  89. entscheidende Kriterium für das Wechseln zur leitungsvermittelten Übertragung
  90. nach der Lehre des Streitpatents nicht die zur Verfügung stehende Bandbreite,
  91. sondern eine Änderung hinsichtlich Zeitverzögerung oder Rauschanteil darstellt
  92. (Rn. 92).
  93. 12
  94. h)
  95. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der Senat nicht unter-
  96. stellt, dass der maßgebliche Fachmann keine umfangreiche Berufserfahrung
  97. hat. Dieser Aspekt bedurfte im Urteil keiner ausdrücklichen Erwähnung, weil er
  98. zwischen den Parteien nicht in Streit stand und auch aus Sicht des Senats
  99. selbstverständlich war.
  100. 13
  101. i)
  102. Die im Beweisbeschluss und im Gutachten des gerichtlichen Sach-
  103. verständigen aufgeführten Hilfskriterien zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bedurften im Streitfall keiner ausdrücklichen Erwähnung. Diese Hilfskriterien können eine erfinderische Tätigkeit für sich genommen weder begründen
  104. noch ersetzen. Sie können lediglich im Einzelfall Anlass geben, die im Stand
  105. der Technik bekannten Lösungen besonders kritisch darauf zu überprüfen, ob
  106. sie vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens hinreichende Anhaltspunkte für ein Naheliegen des Gegenstands der Erfindung bieten und nicht erst
  107. aus Ex-post-Sicht eine zur Erfindung führende Anregung zu enthalten scheinen
  108. (BGH, Urteil vom 30. Juli 2009 - Xa ZR 22/06, GRUR 2010, 44 Rn. 29 - Dreinahtschlauchfolienbeutel mwN). Im Streitfall bestand ein solcher Anlass nicht.
  109. 14
  110. j)
  111. Der Senat hat nicht übersehen, dass in Patentanspruch 13 unter an-
  112. derem auch eine Einrichtung zur Komprimierung und Dekomprimierung von
  113. -6-
  114. Daten vorgesehen ist. Er hat diesem Merkmal keine ausschlaggebende Bedeutung für die Beurteilung der Patentfähigkeit beigemessen. Einer besonderen
  115. Erwähnung dieses Merkmals in den Entscheidungsgründen bedurfte es nicht.
  116. Auch die Anhörungsrüge zeigt keinen Tatsachenvortrag auf, der Anlass zu einer eingehenderen Erörterung hätte geben können.
  117. Meier-Beck
  118. Keukenschrijver
  119. Gröning
  120. Mühlens
  121. Bacher
  122. Vorinstanz:
  123. Bundespatentgericht, Entscheidung vom 05.04.2006 - 4 Ni 60/04 -