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11 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. X ZB 18/07
  4. vom
  5. 22. April 2008
  6. in dem Rechtsstreit
  7. Nachschlagewerk: ja
  8. BGHZ:
  9. nein
  10. BGHR:
  11. ja
  12. ZPO § 85 Abs. 2, § 233 A
  13. Ist die vom Prozessbevollmächtigten eingelegte Berufung unwirksam, weil er
  14. nicht mehr als Rechtsanwalt zugelassen und aus der beim Berufungsgericht
  15. geführten Rechtsanwaltsliste gelöscht ist, muss sich die Partei die schuldhafte
  16. Unkenntnis des Prozessbevollmächtigten von der Löschung nicht zurechnen
  17. lassen (im Anschluss an BAG, Urt. v. 18.7.2007 - 5 AZR 848/06, NJW 2007,
  18. 3226; Abgrenzung zu BVerwG, Beschl. v. 10.6.2005 - 1 B 149/04, NJW 2005,
  19. 3018).
  20. BGH, Beschl. v. 22. April 2008 - X ZB 18/07 - OLG Köln
  21. LG Köln
  22. -2-
  23. Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. April 2008 durch den
  24. Vorsitzenden Richter Dr. Melullis und die Richter Scharen, Keukenschrijver,
  25. Prof. Dr. Meier-Beck und Gröning
  26. beschlossen:
  27. Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des
  28. 12. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 21. Mai 2007 aufgehoben.
  29. Der Klägerin wird gegen die Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
  30. Beschwerdewert: 34.063,48 €.
  31. Gründe:
  32. 1
  33. I. Das Landgericht hat die von der Klägerin erhobene Klage durch Urteil
  34. vom 27. Oktober 2006 abgewiesen. Die schriftlich abgefasste Entscheidung ist
  35. am 8. November 2006 im Büro der klägerischen Prozessbevollmächtigten zugegangen. Mit am 8. Dezember 2006 beim Berufungsgericht eingegangenem
  36. Schriftsatz hat die Klägerin durch den früheren Rechtsanwalt Dr. K.
  37. Berufung gegen das Urteil eingelegt. Durch Mitteilung vom 12. Januar 2007
  38. -3-
  39. machte die Rechtsanwaltskammer Köln das Oberlandesgericht darauf aufmerksam,
  40. dass
  41. Dr. K.
  42. seit
  43. dem
  44. 11. Januar
  45. 2005
  46. nicht
  47. mehr
  48. als
  49. Rechtsanwalt zugelassen und am 4. Juli 2006 aus der Liste der beim Berufungsgericht zugelassenen Rechtsanwälte gelöscht worden war. Am 29. Januar
  50. 2007 hat Rechtsanwalt G.
  51. für die Klägerin erneut Berufung eingelegt und
  52. zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist mit der Begründung beantragt, seiner Sozietät und Dr. K.
  53. sei
  54. dessen Löschung aus der Anwaltsliste erst am 24. Januar 2007 bekannt geworden.
  55. Das Berufungsgericht hat das Wiedereinsetzungsgesuch zurückgewie-
  56. 2
  57. sen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Zur Begründung
  58. hat es ausgeführt: Die Frist zur Einlegung der Berufung sei versäumt, weil
  59. Dr. K.
  60. mit seinem Schriftsatz vom 8. Dezember 2006 keine wirksame
  61. Berufung eingelegt habe. Die Frist sei schuldhaft versäumt, weil er das Weiterbestehen seiner Zulassung sowie der Eintragung in die Rechtsanwaltsliste nicht
  62. überprüft habe, obwohl dafür durch das ihm bekannte Verfahren auf Widerruf
  63. der Zulassung hinreichend Veranlassung bestanden habe und die Prüfung der
  64. Prozesshandlungsvoraussetzungen zu den wesentlichen Aufgaben eines
  65. Rechtsanwalts gehöre. Handlungen des von ihr bevollmächtigten Vertreters
  66. müsse sich die Partei gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Dagegen
  67. richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin.
  68. 3
  69. II. 1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 1, § 238 Abs. 2
  70. Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil
  71. das Berufungsgericht das Wiedereinsetzungsgesuch der Klägerin aus Gründen
  72. zurückgewiesen hat, die zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine
  73. Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordern. Die Verfahrensgrund-
  74. -4-
  75. rechte auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit
  76. dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie
  77. der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Justizgewährungsanspruch gebieten, den
  78. Zugang zu den Gerichten einschließlich der höheren Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.4.2004 - 1 BvR 1819/00, NJW 2004, 2583;
  79. BGHZ 151, 221; BGH, Beschl. v. 18.7.2007 - XII ZB 32/07, NJW 2007, 2778).
  80. Diese Verfahrensgrundrechte sind hier berührt.
  81. 4
  82. 2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
  83. 5
  84. a) Die Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumung einer Frist zur Einlegung oder Begründung eines Rechtsmittels setzt
  85. voraus, dass die Frist versäumt ist (BGH, Beschl. v. 17.1.2007 - VIII ZB 75/06,
  86. NJW 2007, 1457). So verhält es sich hier. Zwar trägt die Klägerin mit der
  87. Rechtsbeschwerde erstmals vor, das Empfangsbekenntnis über die Zustellung
  88. des angefochtenen Urteils habe Dr. K.
  89. erteilt, obwohl er seinerzeit
  90. auch in der Liste der beim Landgericht Köln zugelassenen Rechtsanwälte gelöscht gewesen sei, weshalb diese Zustellung unwirksam sei. Mit diesem neuen
  91. Vorbringen kann die Klägerin im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht gehört werden. Die Rechtsbeschwerde gegen einen Verwerfungsbeschluss des Berufungsgerichts kann grundsätzlich nicht auf Tatsachen gestützt werden, die belegen sollen, dass die Berufungsbegründungsfrist gewahrt war, wenn sie in der
  92. Berufungsinstanz nicht vorgetragen worden sind (BGH, Beschl. vom 18.9.2003
  93. - IX ZB 40/03, MDR 2004, 107). Es ist im Rechtsbeschwerdeverfahren deshalb
  94. davon auszugehen, dass die Berufungsfrist am 8. November 2006 in Gang gesetzt worden ist und dementsprechend bei Eingang der von Rechtsanwalt G.
  95. unterzeichneten Berufungsschrift abgelaufen war.
  96. -5-
  97. 6
  98. b) Das Oberlandesgericht geht unausgesprochen davon aus, dass ein
  99. die Klägerin an der Versäumung der Berufungsfrist treffendes eigenes Verschulden nicht in Betracht kommt. Dagegen bestehen nach Lage der Dinge keine rechtlichen Bedenken. Ein Verschulden von Dr. K.
  100. muss die
  101. Klägerin sich entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht nach § 85 Abs.
  102. 2 ZPO zurechnen lassen.
  103. 7
  104. aa) Ob § 85 Abs. 2 ZPO nicht anwendbar ist, weil der Verlust der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zugleich die einem Rechtsanwalt erteilte Vollmacht entfallen lasse, wird in der Fachliteratur unterschiedlich beurteilt (bejahend etwa: Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 66. Aufl., § 86 Rdn. 6; Zöller/Vollkommer, ZPO, 26. Aufl., § 86 Rdn. 5; verneinend: Musielak/Weth, ZPO,
  105. 5. Aufl., § 86 Rdn. 7; Stein/Jonas/Bork, ZPO, 22. Aufl., § 86 Rdn. 10).
  106. 8
  107. bb) Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat, ohne die Frage entscheiden zu müssen, zu der Ansicht geneigt, dass der Fortbestand der Prozessvollmacht mit Blick auf das Bedürfnis, die Mandanten vor ungeeigneten
  108. Rechtsvertretern zu schützen, zu verneinen sei (BGHZ 166, 117 Tz. 17). Das
  109. Bundesarbeitsgericht hat in seinem Urteil vom 18. Juli 2007 (5 AZR 848/06,
  110. NJW 2007, 3226) die Frage ebenfalls offengelassen, jedoch ausgesprochen,
  111. die Partei müsse sich Handeln ihres Prozessbevollmächtigten nach Widerruf
  112. seiner Zulassung zur Anwaltschaft und Anordnung der sofortigen Vollziehung
  113. dieser Verfügung im überwiegenden öffentlichen Interesse nicht nach § 85
  114. Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Diese Bestimmung sei eine den besonderen
  115. Verhältnissen und Bedürfnissen des Prozesses Rechnung tragende Sondervorschrift, die gewährleisten solle, dass die Partei, die ihren Rechtsstreit durch einen Vertreter führen lasse, in jeder Weise so behandelt werde, als wenn sie
  116. den Prozess selbst geführt hätte. Dürfe der Prozessbevollmächtigte aufgrund
  117. -6-
  118. eines Berufsausübungsverbots nicht mehr tätig werden, gehe es nicht um die
  119. von § 85 Abs. 2 ZPO umfassten, zu einer ordnungsgemäßen Prozessführung
  120. gehörenden Handlungen oder Unterlassungen. Vielmehr dürfe der Anwalt aus
  121. Gründen der Gefahrenabwehr überhaupt nicht mehr für die Partei tätig werden
  122. (§ 155 Abs. 2 und 4 BRAO). Eine Zurechnung der Gründe für das Berufsausübungsverbot würde den Rahmen des § 85 Abs. 2 ZPO sprengen und auch den
  123. Schutzzweck der §§ 244, 249 ZPO, 155, 156 Abs. 2 BRAO in sein Gegenteil
  124. verkehren.
  125. 9
  126. c) Dieser Ansicht tritt der Senat bei. Sie steht in Einklang mit den Zwecken des in § 78 ZPO verankerten Anwaltszwangs im Anwaltsprozess. Der Anwaltszwang dient einer geordneten Rechtspflege und zugleich den Interessen
  127. der Prozessparteien, die sich vor den Land- und Oberlandesgerichten nur durch
  128. einen bei einem Amts- oder Landgericht bzw. einem Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen können. § 78 ZPO ist eine formale
  129. Ordnungsvorschrift, die zwingend und strikt regelt, wann und in welcher Weise
  130. sich die Parteien eines Rechtsstreits durch Prozessbevollmächtigte vertreten
  131. lassen und welche Voraussetzungen diese - nach rein formalen Gesichtspunkten - erfüllen müssen (Sen.Beschl. v. 20.6.2000 - X ZB 11/00, NJW 2000,
  132. 3357). Es erschiene als ein schwer verständlicher Widerspruch, eine Partei einerseits zu verpflichten, sich zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung
  133. eines zugelassenen Rechtsanwalts zu bedienen, ihr aber andererseits das Verschulden einer Person zuzurechnen, die ohne Zulassung zur Anwaltschaft lediglich noch als Rechtsanwalt auftritt und deren Rechtshandlungen wegen der
  134. Löschung in der Liste der zugelassenen Anwälte unwirksam sind (vgl. § 36
  135. Abs. 2 BRAO; Henssler/Prütting, BRAO 2. Aufl. § 36 Rdn. 4; vgl. auch BGHZ
  136. 90, 249, 253; BGH, Beschl. v. 8.10.1986 - VIII ZB 41/86, NJW 1987, 327). § 85
  137. Abs. 2 ZPO bürdet der Partei im Anwaltsprozess das Risiko auf, dass der von
  138. -7-
  139. ihr bevollmächtigte Rechtsanwalt im Rahmen der Prozessvollmacht bei seinen
  140. Prozesshandlungen seine Pflichten schuldhaft verletzt. Das Risiko dafür, dass
  141. der als Rechtsanwalt beauftragte Prozessbevollmächtigte überhaupt noch Prozesshandlungen vor einem Gericht vornehmen kann und vornimmt, obwohl er
  142. nicht mehr als Rechtsanwalt zugelassen ist und seine Postulationsfähigkeit verloren hat, kann jedenfalls der von diesem Prozessbevollmächtigten gutgläubig
  143. vertretenen Partei dagegen nicht auferlegt werden. Die unter dem Gesichtspunkt der eingetretenen Rechtskraft des unwirksam angefochtenen Urteils berührte Rechtssicherheit muss in einem solchen Fall zurücktreten (vgl. BGH
  144. NJW 1986, 327).
  145. 10
  146. d) Dieser Entscheidung des Senats steht der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juni 2005 (1 B 149/04, NJW 2005, 3018) nicht entgegen. Demzufolge führt der Verlust der Postulationsfähigkeit des Prozessbevollmächtigten eines Beteiligten im Verlauf des Verfahrens infolge Widerrufs seiner
  147. Zulassung zur Anwaltschaft nicht dazu, dass der Beteiligte nicht (mehr) nach
  148. Vorschrift des Gesetzes i. S. von § 138 Nr. 4 VwGO vertreten ist. Damit ist nicht
  149. zugleich beantwortet, ob eine Partei sich zurechnen lassen muss, dass der
  150. Prozessbevollmächtigte schuldhaft für sie ein infolge des Wegfalls seiner Postulationsfähigkeit unwirksames Rechtsmittel einlegt. Dazu hat das Bundesverwaltungsgericht nicht in den tragenden Gründen seiner Entscheidung Stellung genommen.
  151. 11
  152. e) Die Klägerin hat glaubhaft gemacht, dass sie an der Versäumung der
  153. Berufungsfrist kein zurechenbares Verschulden eines von ihr beauftragten
  154. Rechtsanwalts trifft. Sie hat durch die eidesstattliche Versicherung von Rechtsanwalt S.
  155. glaubhaft gemacht, dass dieser und Rechtsanwalt G.
  156. erst
  157. am 24. Januar 2007 durch eine telefonische Mitteilung der Rechtsanwaltskam-
  158. -8-
  159. mer Köln von Dr. K.
  160. Streichung aus der Liste der zugelassenen An-
  161. wälte erfahren haben und dass die Anwaltskammer sich zur Begründung für
  162. diese späte Mitteilung auf ihre Verschwiegenheitsverpflichtung berufen hat.
  163. 12
  164. Das Berufungsgericht wird deshalb in der Sache über das eingelegte
  165. Rechtsmittel zu entscheiden haben.
  166. Melullis
  167. Scharen
  168. Meier-Beck
  169. Keukenschrijver
  170. Gröning
  171. Vorinstanzen:
  172. LG Köln, Entscheidung vom 27.10.2006 - 7 O 462/05 OLG Köln, Entscheidung vom 21.05.2007 - I-12 U 138/06 -