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25 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. VI ZR 208/15
  5. Verkündet am:
  6. 29. November 2016
  7. Olovcic
  8. Justizangestellte
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk:
  13. ja
  14. BGHZ:
  15. ja
  16. BGHR:
  17. ja
  18. SGB VII § 34 Abs. 1, 3; GG Art. 34; BGB § 839 (Fc)
  19. a) Wegen des regelmäßig gegebenen inneren Zusammenhangs der Diagnosestellung und der sie vorbereitenden Maßnahmen mit der Entscheidung über
  20. die richtige Heilbehandlung sind jene Maßnahmen ebenfalls der öffentlichrechtlichen Aufgabe des Durchgangsarztes zuzuordnen mit der Folge, dass
  21. die Unfallversicherungsträger für etwaige Fehler in diesem Bereich haften
  22. (Aufgabe der Rechtsprechung zur "doppelten Zielrichtung", vgl. Senatsurteil
  23. vom 9. Dezember 2008 - VI ZR 277/07, BGHZ 179, 115 Rn. 23; BGH, Urteil
  24. vom 9. Dezember 1974 - III ZR 131/72, BGHZ 63, 265, 273 f.).
  25. b) Eine Erstversorgung durch den Durchgangsarzt ist ebenfalls der Ausübung
  26. eines öffentlichen Amtes zuzurechnen mit der Folge, dass die Unfallversicherungsträger für etwaige Fehler in diesem Bereich haften (Aufgabe BGH, Urteil vom 9. Dezember 1974 - III ZR 131/72, BGHZ 63, 265).
  27. c) Bei der Bestimmung der Passivlegitimation ist regelmäßig auf den Durchgangsarztbericht abzustellen, in dem der Durchgangsarzt selbst die "Art der
  28. Erstversorgung (durch den D-Arzt)" dokumentiert.
  29. BGH, Urteil vom 29. November 2016 - VI ZR 208/15 - OLG Frankfurt am Main
  30. LG Limburg
  31. ECLI:DE:BGH:2016:291116UVIZR208.15.0
  32. - 2 -
  33. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  34. vom 20. September 2016 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter
  35. Stöhr und Offenloch und die Richterinnen Dr. Oehler und Dr. Roloff
  36. für Recht erkannt:
  37. Die Revision gegen den Beschluss des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 5. März 2015 wird zurückgewiesen.
  38. Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsrechtszuges einschließlich der Kosten der Streithelferin, letztere bis zum 26. Juni 2016;
  39. ab dem Zeitpunkt des Beitrittswechsels am 27. Juni 2016 trägt die
  40. Streithelferin des Klägers ihre Kosten selbst.
  41. Von Rechts wegen
  42. Tatbestand:
  43. 1
  44. Der Kläger macht Schadensersatzansprüche nach einem Arbeitsunfall
  45. am 3. März 2010 gegen den Beklagten geltend, der Chefarzt des W.-Krankenhauses und Durchgangsarzt (künftig: D-Arzt) der Berufsgenossenschaft
  46. (künftig: Streithelferin) ist.
  47. 2
  48. Nach dem Arbeitsunfall wurde der Kläger in das W.-Krankenhaus eingeliefert. Die Behandlung in der Ambulanz erfolgte durch eine Ärztin, durch die
  49. sich der Beklagte in seiner Funktion als D-Arzt vertreten ließ, ohne dass sie zur
  50. ständigen Vertreterin des D-Arztes bestellt war. Diese untersuchte den Kläger.
  51. - 3 -
  52. Im D-Arztbericht ist nach Fertigung von Röntgenaufnahmen die Erstdiagnose
  53. "Prellung BWS" angegeben. Unter "Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt)"
  54. heißt es: "Symptomatisch, Voltaren Resinat 1-0-1, Pantozol 20 mg 1-0-0, kühlen, schonen". Als Art der Heilbehandlung wurde "allgemeine Heilbehandlung
  55. durch anderen Arzt" angeordnet. Der Kläger wurde als "arbeitsfähig" erachtet.
  56. Eine Nachschau sollte am 14. März 2010 erfolgen, sofern dann noch Arbeitsunfähigkeit oder Behandlungsbedürftigkeit vorliegen sollte, bei Verschlimmerung
  57. sofort.
  58. 3
  59. Der Kläger begab sich am 12. März 2010 in die ambulante Behandlung
  60. eines anderen D-Arztes. Dieser stellte nach Fertigung weiterer Röntgenaufnahmen die Diagnose einer Fraktur LWK-I mit Hinterkantenbeteiligung. Der
  61. Kläger wurde in die dortige unfallchirurgische Klinik aufgenommen und am
  62. 16. März 2010 operiert. Die Streithelferin gewährte ihm Verletztengeld und eine
  63. vorläufige Erwerbsminderungsrente (20 %) für die Zeit vom 17. August 2010 bis
  64. Ende Februar 2013.
  65. 4
  66. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat
  67. die Berufung des Klägers durch den angefochtenen Beschluss gemäß § 522
  68. Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen
  69. Revision verfolgt der Kläger seine Schadensersatzansprüche weiter.
  70. Entscheidungsgründe:
  71. I.
  72. 5
  73. Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist der Beklagte nicht passivlegitimiert. D-Ärzte handelten bei ihrer Entscheidung, ob und in welcher Weise ein
  74. Verletzter in die berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung übernommen wer-
  75. - 4 -
  76. den soll, öffentlich-rechtlich im Sinne des Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB. Zur
  77. durchgangsärztlichen Tätigkeit zählten die Untersuchung zur Diagnosestellung
  78. und die Überwachung des Heilerfolgs; sie erfolgten mithin in Ausübung eines
  79. öffentlichen Amtes. Bestehe der Fehler in der falschen Diagnose (wie hier vom
  80. Kläger behauptet) und setze sich dieser Fehler in der weiteren Behandlung fort,
  81. stelle er eine Folge der öffentlich-rechtlichen Fehldiagnose dar. Passivlegitimiert
  82. sei in diesen Fällen die Berufsgenossenschaft und nicht der D-Arzt. Erst wenn
  83. dieser die Weiterbehandlung übernehme und ihm dabei ein Behandlungsfehler
  84. unterlaufe, komme seine eigene zivilrechtliche Haftung in Betracht. Eine solche
  85. Konstellation liege nicht vor.
  86. 6
  87. Dass sich der Beklagte in seiner Funktion als D-Arzt durch eine Ärztin
  88. habe vertreten lassen, ohne dass diese zur ständigen Vertreterin des D-Arztes
  89. bestellt gewesen sei, begründe kein Behandlungsverhältnis zwischen ihm und
  90. dem Kläger für den 3. März 2010. Sollte dieses Vorgehen als Pflichtverletzung
  91. des Beklagten als D-Arzt zu werten sein, so betreffe dies seine entsprechende
  92. Funktion und wäre gegebenenfalls in einem gegen die Berufsgenossenschaft
  93. gerichteten Verfahren beachtlich.
  94. II.
  95. 7
  96. Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
  97. Das Berufungsgericht hat mit Recht die Passivlegitimation des Beklagten verneint, weil im Streitfall die Berufsgenossenschaft gemäß Art. 34 GG i.V.m.
  98. § 839 BGB passivlegitimiert ist.
  99. - 5 -
  100. 8
  101. 1. Die ärztliche Heilbehandlung ist allerdings regelmäßig nicht Ausübung
  102. eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG (vgl. Senatsurteile vom
  103. 9. Dezember 2008 - VI ZR 277/07, BGHZ 179, 115 Rn. 14; vom 9. März 2010
  104. - VI ZR 131/09, VersR 2010, 768 Rn. 8; vom 21. Januar 2014 - VI ZR 78/13,
  105. VersR 2014, 374 Rn. 15; BGH, Urteil vom 9. Dezember 1974 - III ZR 131/72,
  106. BGHZ 63, 265, 270 f.). Auch die ärztliche Behandlung nach einem Arbeitsunfall
  107. ist keine der Berufsgenossenschaft obliegende Aufgabe. Die Heilbehandlung
  108. als solche stellt keine der Berufsgenossenschaft obliegende Pflicht dar. Der
  109. Arzt, der die Heilbehandlung durchführt, übt deshalb kein öffentliches Amt aus
  110. und haftet für Fehler persönlich (vgl. Senatsurteile vom 28. Juni 1994 - VI ZR
  111. 153/93, BGHZ 126, 297, 301; vom 9. Dezember 2008 - VI ZR 277/07, aaO; vom
  112. 9. März 2010 - VI ZR 131/09, aaO; BGH, Urteil vom 9. Dezember 1974 - III ZR
  113. 131/72, aaO, 271 f.).
  114. 9
  115. Die Tätigkeit eines D-Arztes wird jedoch nicht in vollem Umfang dem Privatrecht zugeordnet. Ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung
  116. erforderlich ist, entscheidet grundsätzlich der D-Arzt nach Art und Schwere der
  117. Verletzung. Bei dieser Entscheidung erfüllt er eine der Berufsgenossenschaft
  118. obliegende Aufgabe und übt damit ein öffentliches Amt aus. Ist seine Entscheidung über die Art der Heilbehandlung fehlerhaft und wird der Verletzte dadurch
  119. geschädigt, haftet in diesem Fall für Schäden nicht der D-Arzt persönlich, sondern die Berufsgenossenschaft nach Art. 34 Satz 1 GG i.V.m. § 839 BGB (vgl.
  120. Senatsurteile vom 28. Juni 1994 - VI ZR 153/93, aaO, 300; vom 9. Dezember
  121. 2008 - VI ZR 277/07, aaO Rn. 17; vom 9. März 2010 - VI ZR 131/09, aaO Rn. 9;
  122. Senatsbeschluss vom 4. März 2008 - VI ZR 101/07, juris; BGH, Urteil vom
  123. 9. Dezember 1974 - III ZR 131/72, aaO, 272 ff.). Dies gilt auch, soweit die Überwachung des Heilerfolgs lediglich als Grundlage der Entscheidung dient, ob der
  124. Verletzte in der allgemeinen Heilbehandlung verbleibt oder in die besondere
  125. Heilbehandlung überwiesen werden soll (vgl. Senatsurteil vom 9. März 2010
  126. - 6 -
  127. - VI ZR 131/09, aaO Rn. 12; sogenannte Nachschau gemäß § 29 Abs. 1 des
  128. gemäß § 34 Abs. 3 SGB VII abgeschlossenen Vertrags, bei dem im Streitfall die
  129. ab 1. April 2008 geltende Fassung maßgeblich ist, veröffentlicht in DÄ 2008,
  130. A 285 [künftig: Vertrag 2008]).
  131. 10
  132. 2. Der Kläger macht geltend, der behandelnden Ärztin sei am 3. März
  133. 2010 ein Behandlungsfehler unterlaufen, weil sie eine Fraktur nicht erkannt habe. Die Fraktur hätte durch Ruhigstellung ohne Operation ausheilen können.
  134. Folgen seien dauerhafte Minderung der Erwerbsfähigkeit und Minderbeweglichkeit der Wirbelsäule. Der Beklagte sei als D-Arzt und Chefarzt für die Fehlbehandlung bei der Eingangsdiagnose und Erstversorgung verantwortlich. Dieses
  135. Vorbringen führt nicht zur Passivlegitimation des Beklagten.
  136. 11
  137. a) Die Frage, ob der D-Arzt auch bei der Untersuchung zur Diagnosestellung und bei der Diagnosestellung ein öffentliches Amt ausübt, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt (vgl. Senatsurteile vom 9. Dezember 2008 - VI ZR
  138. 277/07, BGHZ 179, 115 Rn. 17 und vom 9. März 2010 - VI ZR 131/09, VersR
  139. 2010, 768 Rn. 10).
  140. 12
  141. aa) In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird bei der Einordnung eines Diagnosefehlers teilweise darauf abgestellt, dass sich die Pflichten des
  142. D-Arztes bei der Ausübung seines öffentlichen Amtes mit denen aus einem privatrechtlichen ärztlichen Behandlungsvertrag mit dem Patienten überschneiden
  143. können ("doppelte Zielrichtung"; vgl. Senatsurteil vom 9. Dezember 2008
  144. - VI ZR 277/07, BGHZ 179, 115 Rn. 23; Senatsbeschluss vom 4. März 2008
  145. - VI ZR 101/07, juris Rn. 1; BGH, Urteil vom 9. Dezember 1974 - III ZR 131/72,
  146. BGHZ 63, 265, 273 f.). Mithin sei es für die Frage der Haftung entscheidend, in
  147. welchem Bereich sich der Fehler bei der Untersuchung auswirke. Komme es
  148. aufgrund dessen zu einer fehlerhaften Entscheidung der Frage, ob eine beson-
  149. - 7 -
  150. dere Heilbehandlung einzuleiten sei, und werde der Patient dadurch geschädigt, so sei die Tätigkeit des D-Arztes als hoheitlich zu qualifizieren und es hafte
  151. der Unfallversicherungsträger. Wirke sich der Diagnosefehler hingegen so aus,
  152. dass es zu einer unsachgemäßen Heilbehandlung durch den D-Arzt komme, so
  153. hafte er persönlich nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen (vgl. OLG
  154. Bremen, MedR 2010, 502, 503; OLG Hamm, GesR 2010, 137, juris Rn. 18 ff.;
  155. OLG Oldenburg, VersR 2010, 1654, juris Rn. 33 ff.).
  156. 13
  157. Teilweise wird allerdings eine Haftung der Berufsgenossenschaft für die
  158. Folgen eines Diagnosefehlers dann bejaht, wenn die Diagnose der Entscheidung des Arztes dient, ob die besondere Heilbehandlung einzuleiten sei, und
  159. sich dieser Fehler in der weiteren Behandlung fortsetzt, weil eine einheitliche
  160. Aufgabe nicht in haftungsrechtlich unterschiedlich zu beurteilende Tätigkeitsbereiche aufgespalten werden dürfe (vgl. OLG Schleswig, GesR 2007, 207; LG
  161. Karlsruhe, MedR 2006, 728; wohl auch LG Dresden, MedR 2016, 71, 72 f.).
  162. 14
  163. bb) Auch im Schrifttum ist umstritten, wie Diagnose- oder Befunderhebungsfehler des D-Arztes im Rahmen der Eingangsuntersuchung zu beurteilen
  164. sind.
  165. 15
  166. (a) Teilweise wird die Auffassung vertreten, der Arzt hafte für Fehler bei
  167. der Untersuchung zur Diagnosestellung und bei der Diagnosestellung persönlich (vgl. Schlaeger, Die BG 2008, 19, 21 und ZAP Fach 2, 523, 524 ff.; Spickhoff/Greiner, Medizinrecht, 2. Aufl., Kap. 70 Rn. 357; Ziegler, GesR 2014, 65,
  168. 69). Der gesetzliche Unfallversicherungsträger sei nur verpflichtet, das durchgangsärztliche Verfahren zu organisieren und zur Verfügung zu stellen. Er habe
  169. keine gesetzliche Verpflichtung, den jeweiligen Versicherten selbst zu untersuchen, sondern schulde nur eine unfallmedizinische Versorgung im Sinne des
  170. Vorhaltens einer entsprechenden Infrastruktur. Hierfür sei das D-Arztverfahren
  171. - 8 -
  172. eingeführt worden, welches sicherstellen solle, dass die Unfallverletzten im Regelfall von einem besonders qualifizierten und sachlich ausgestatteten Arzt untersucht würden. Sowohl Diagnose als auch Befunderhebung seien elementare
  173. ärztliche Aufgaben, welche nicht zu einer öffentlichen Aufgabe würden. Daher
  174. komme eine Haftung des gesetzlichen Unfallversicherungsträgers allenfalls in
  175. Betracht, wenn die Fehler sich in der Weise auswirkten, dass der Verletzte aufgrund seiner Verletzungen nicht einer adäquaten Form der Heilbehandlung zugeführt werde. Über mehr müsse der D-Arzt in Erfüllung seiner Amtspflichten
  176. nicht entscheiden (vgl. Schlaeger, aaO; Ziegler, aaO).
  177. 16
  178. (b) Hinsichtlich eines Fehlers bei der durchgangsärztlichen Eingangsuntersuchung zur Diagnosestellung sowie der Diagnosestellung selbst wird die
  179. Auffassung des Oberlandesgerichts Schleswig, dass hierfür die Berufsgenossenschaft einzustehen habe, von anderen Meinungen im Schrifttum geteilt (vgl.
  180. Frahm/Nixdorf/Walter, Arzthaftungsrecht, 5. Aufl., Rn. 5; Jorzig, GesR 2009,
  181. 400, 404; Martis/Winkhart-Martis, Arzthaftungsrecht, 3. Aufl., A 487; HK-AKMLissel, 1540, Stichwort: D-Arzt [Mai 2015], Rn. 28; Nußstein, VersR 2015, 165,
  182. 166 f.; Olzen, MedR 2002, 132, 135, 137; Olzen/Kaya, MedR 2010, 504, 505;
  183. Wank, SGb 1995, 316, 317). Dies soll auch dann gelten, wenn der Fehler in der
  184. falschen Diagnose besteht und sich in der weiteren Behandlung durch den
  185. D-Arzt fortsetzt. Auch in diesem Fall stelle er eine Folge der öffentlichrechtlichen Fehldiagnose dar und bleibe dem öffentlich-rechtlichen Bereich zuzuordnen. Die durchgangsärztlichen Untersuchungen mit anschließender Diagnosestellung seien unabdingbarer und damit auch "inhaltlicher" Teil der öffentlich-rechtlich geprägten Entscheidung des D-Arztes über die weitere Heilbehandlung. Eine haftungsrechtliche Aufspaltung dieses einheitlichen Entscheidungsvorgangs sei weder interessengerecht noch rechtlich überzeugend. Aufgrund des inneren Zusammenhangs mit der Entscheidung über das "Ob und
  186. Wie" der Heilbehandlung müssten die dafür geltenden Grundsätze auch für die
  187. - 9 -
  188. zur Entscheidung führenden Untersuchungen zur Diagnosestellung und für die
  189. Diagnosestellung gelten (vgl. Frahm/Nixdorf/Walter, aaO S. 12 mwN; HK-AKMLissel, aaO; Olzen, MedR 2002, 132, 137; Wank, SGb 1995, 316, 317).
  190. 17
  191. cc) Diese Auffassung ist vorzugswürdig.
  192. 18
  193. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger
  194. bei der Durchführung der Heilbehandlung alle Maßnahmen zu treffen, durch die
  195. eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung und, soweit erforderlich, besondere unfallmedizinische
  196. oder Berufskrankheiten-Behandlung gewährleistet wird. Schon dies spricht dafür, nicht nur die Entscheidung, ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich ist, sondern auch die sie vorbereitenden Maßnahmen als
  197. Ausübung eines öffentlichen Amtes zu betrachten (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 1974 - III ZR 131/72, BGHZ 63, 265, 272). Maßgeblich für eine solche
  198. Zuordnung sind aber auch inhaltliche Überlegungen. Durchgangsärztliche Untersuchungen, insbesondere notwendige Befunderhebungen zur Stellung der
  199. richtigen Diagnose und die anschließende Diagnosestellung, sind regelmäßig
  200. unabdingbare Voraussetzungen für die Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung oder eine besondere Heilbehandlung erfolgen soll. Ein Fehler in
  201. diesem Stadium wird regelmäßig der Vorgabe des § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB VII
  202. entgegenstehen, eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung zu gewährleisten. Mithin bilden die
  203. Befunderhebung und die Diagnosestellung die Grundlage für die der Berufsgenossenschaft obliegende, in Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgende
  204. Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung ausreicht oder wegen der
  205. Schwere der Verletzung eine besondere Heilbehandlung erforderlich ist. Dies
  206. wird auch im Streitfall daran deutlich, dass der Kläger wegen der behaupteten
  207. fehlerhaften ersten Diagnose als arbeitsfähig angesehen und erst nach der Ent-
  208. - 10 -
  209. scheidung des anderen D-Arztes in die dortige unfallchirurgische Klinik aufgenommen und am 16. März 2010 operiert wurde. Die Befunderhebung im Rahmen der Eingangsuntersuchung und die zunächst gestellte Diagnose hat sich
  210. notwendigerweise auch dahingehend ausgewirkt, dass die Notwendigkeit der
  211. Operation und die Erforderlichkeit einer besonderen Heilbehandlung verneint
  212. wurden.
  213. 19
  214. In Anbetracht des regelmäßig gegebenen inneren Zusammenhangs zwischen der Diagnosestellung und den sie vorbereitenden Maßnahmen und der
  215. Entscheidung über die richtige Heilbehandlung sind jene Maßnahmen ebenfalls
  216. der öffentlich-rechtlichen Aufgabe des D-Arztes zuzuordnen. Auch wenn die
  217. richtige Diagnose zugleich eine Bedeutung für die spätere Heilbehandlung haben kann, wäre es eine unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs, wenn man diese Maßnahmen - je nach dem Vortrag des Klägers zugleich als öffentlich-rechtlich und als privatrechtlich einstufen würde. Im Hinblick darauf, dass die vorbereitenden Maßnahmen zur Diagnosestellung und die
  218. Diagnosestellung durch den D-Arzt in erster Linie zur Erfüllung seiner sich aus
  219. dem öffentlichen Amt ergebenden Pflichten vorgenommen werden, sind auch
  220. diese Maßnahmen diesem Amt zuzuordnen, mit der Folge, dass die Unfallversicherungsträger für etwaige Fehler in diesem Bereich haften. Soweit aus der
  221. Rechtsprechung des Senats zur "doppelten Zielrichtung" (vgl. Senatsurteil vom
  222. 9. Dezember 2008 - VI ZR 277/07, BGHZ 179, 115 Rn. 23; Senatsbeschluss
  223. vom 4. März 2008 - VI ZR 101/07, juris Rn. 1) etwas anderes abgeleitet werden
  224. kann, hält der Senat daran für die vorbereitenden Maßnahmen zur Diagnosestellung und die Diagnosestellung nicht fest. Auf Anfrage hat der III. Zivilsenat
  225. des Bundesgerichtshofs mitgeteilt, dass er an einer insoweit etwa abweichenden Auffassung (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 1974 - III ZR 131/72, BGHZ
  226. 63, 265, 273 f.) ebenfalls nicht festhält (BGH, Beschluss vom 10. November
  227. 2016 - III ARZ 2/16).
  228. - 11 -
  229. 20
  230. b) Auch das Vorbringen des Klägers zur Erstversorgung führt nicht zur
  231. Passivlegitimation des Beklagten.
  232. 21
  233. aa) Der Bundesgerichtshof hat allerdings entschieden, dass ein von einer
  234. Berufsgenossenschaft bestellter D-Arzt bei der ärztlichen Erstversorgung eines
  235. Unfallverletzten nicht in Ausübung eines öffentlichen Amtes handelt (BGH, Urteil vom 9. Dezember 1974 - III ZR 131/72, BGHZ 63, 265, 273 f.).
  236. 22
  237. Im Hinblick auf diese Entscheidung wurde in der Rechtsprechung angenommen, der Bundesgerichtshof fasse den Amtspflichtbereich, für den nicht der
  238. D-Arzt, sondern der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung hafte, eng. Der
  239. D-Arzt hafte nicht nur für Fehler bei der übernommenen Heilbehandlung, sondern auch für Fehler bei der ärztlichen Erstversorgung. Der vom Träger der gesetzlichen Unfallversicherung eingesetzte D-Arzt übe Funktionen im Rahmen
  240. seiner öffentlich-rechtlichen Beziehungen nur hinsichtlich der Entscheidung aus,
  241. ob für den durch den Arbeitsunfall Verletzten die allgemeine Heilbehandlung
  242. ausreicht oder ob eine besondere Heilbehandlung zu erbringen ist (vgl. OLG
  243. Bremen MedR 2010, 502, 503; OLG Hamm, GesR 2010, 137, juris Rn. 18 ff.
  244. und OLGR Hamm 2004, 269; OLG München, AHRS 0180/111). Insoweit sei die
  245. "doppelte Zielrichtung" der Tätigkeit des D-Arztes zu beachten.
  246. 23
  247. Auch im Schrifttum wird hinsichtlich der Erstversorgung überwiegend
  248. ausgeführt, diese sei - wie in BGHZ 63, 265 entschieden - privatrechtlich geprägt, so dass der Durchgangsarzt für ein fehlerhaftes "Wie" der Erstversorgung
  249. von Unfallverletzungen persönlich hafte (vgl. Frahm/Nixdorf/Walter, Arzthaftungsrecht, 5. Aufl. Rn. 5; HK-AKM-Lissel, 1540, Stichwort: Durchgangsarzt
  250. [Mai 2015], Rn. 29; Laufs/Kern/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., Kap. 39
  251. Rn. 38; Olzen/Kaya, MedR 2010, 504 f.; Pauge, Arzthaftungsrecht, 13. Aufl.,
  252. Rn. 13; Spickhoff/Greiner, Medizinrecht, 2. Aufl., Kap. 70 Rn. 357; aA Kreft, LM
  253. - 12 -
  254. Art. 34 GG Nr. 99a, Bl. 70, 71 f.; Klaus Müller, SGb 1975, 511 f.; Nußstein,
  255. VersR 2015, 165, 166 f.; Wolber, Die Sozialversicherung 1982, 263, 264).
  256. 24
  257. bb) Nach Auffassung des erkennenden Senats ist eine Erstversorgung
  258. durch den D-Arzt der Ausübung eines öffentlichen Amtes zuzurechnen. Auf Anfrage hat der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs mitgeteilt, dass er an seiner
  259. gegenteiligen Auffassung nicht festhält (BGH, Beschluss vom 10. November
  260. 2016 - III ARZ 2/16).
  261. 25
  262. (1) Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger - wie bereits ausgeführt - bei der Durchführung der Heilbehandlung alle
  263. Maßnahmen zu treffen, durch die eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung und, soweit erforderlich, besondere unfallmedizinische oder Berufskrankheiten-Behandlung gewährleistet wird. Dabei handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Pflicht. Die Einzelheiten werden in einem Vertrag zwischen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, dem Spitzenverband der landwirtschaftlichen Sozialversicherung und der kassenärztlichen Bundesvereinigung geregelt (Vertrag gemäß
  264. § 34 Abs. 3 SGB VII, hier: Vertrag 2008). Gemäß § 27 Abs. 1 SGB VII umfasst
  265. die Heilbehandlung insbesondere die Erstversorgung (Nr. 1) sowie die ärztliche
  266. Behandlung und zahnärztliche Behandlung (Nr. 2, 3). In § 6 (Heilbehandlung)
  267. des Vertrags 2008 wird auf die gesetzliche Verpflichtung nach § 34 Abs. 1
  268. Satz 1 SGB VII hingewiesen. Zudem heißt es, bei Arbeitsunfällen wird die Heilbehandlung als allgemeine Heilbehandlung oder als besondere Heilbehandlung
  269. durchgeführt. Gemäß §§ 10, 11 des Vertrags 2008 wird die Heilbehandlung
  270. grundsätzlich als allgemeine Heilbehandlung erbracht. Zur Einleitung besonderer Heilbehandlung berechtigt sind nur der Unfallversicherungsträger, der
  271. Durchgangsarzt oder in besonderen Fällen der H-Arzt oder Handchirurg. Ge-
  272. - 13 -
  273. mäß § 9 des Vertrags 2008 umfasst die Erstversorgung die ärztlichen Leistungen, die den Rahmen des sofort Notwendigen nicht überschreiten.
  274. 26
  275. (2) Das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren wird beherrscht von
  276. dem Grundsatz, bei den Verletzungsfolgen, die eine fachärztliche Versorgung
  277. erfordern, möglichst in unmittelbarem zeitlichem Anschluss an den Unfall eine
  278. Versorgung durch den besonders qualifizierten D-Arzt sicherzustellen (vgl.
  279. Lauterbach/Dahm, UV-SGB VII [Januar 2015], § 34 Rn. 4). Deshalb wird der
  280. Verletzte verpflichtet, zunächst zum D-Arzt zu gehen, der entscheiden muss,
  281. welche Art der Weiterbehandlung erfolgen soll, und auch die sofort notwendige
  282. Erstversorgung durchzuführen hat. Beides hat seine Grundlage in der Verpflichtung der Berufsgenossenschaften, eine schnelle und sachgemäße Heilbehandlung zu gewährleisten (vgl. Kreft, aaO; Klaus Müller, aaO, 511). Da der D-Arzt
  283. regelmäßig in engem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der Entscheidung über das "Ob" und "Wie" der Heilbehandlung und der diese vorbereitenden Maßnahmen auch als Erstversorger tätig wird, sind bei dieser Tätigkeit
  284. unterlaufende Behandlungsfehler der Berufsgenossenschaft zuzurechnen.
  285. Denn diese Tätigkeiten gehen ineinander über, können nicht sinnvoll auseinander gehalten werden und stellen auch aus Sicht des Geschädigten einen einheitlichen Lebensvorgang dar, der nicht in haftungsrechtlich unterschiedliche
  286. Tätigkeitsbereiche aufgespaltet werden kann (vgl. Kreft, aaO; Nußstein, aaO,
  287. 167).
  288. 27
  289. Dem steht nicht entgegen, dass die ärztliche Heilbehandlung regelmäßig
  290. nicht Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG ist. Die Erstversorgung wird in § 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII getrennt von der ärztlichen und
  291. zahnärztlichen Behandlung aufgeführt. Dies gilt auch für die §§ 6, 9, 10, 11 des
  292. Vertrags 2008, wonach bei Arbeitsunfällen die Heilbehandlung als allgemeine
  293. Heilbehandlung oder als besondere Heilbehandlung durchgeführt und die Erst-
  294. - 14 -
  295. versorgung davon unterschieden wird. Dies ist ein Indiz, dass an sie andere
  296. Rechtsfolgen geknüpft werden können als an die nach der Erstversorgung folgenden ärztlichen Behandlungen (vgl. Nußstein, aaO, 166).
  297. 28
  298. Die Betrachtung der von dem D-Arzt zu treffenden Maßnahmen als einheitlicher Lebensvorgang vermeidet die in der Praxis beklagten Schwierigkeiten
  299. bei der Bestimmung der Passivlegitimation. Denn in dem Durchgangsarztbericht dokumentiert der D-Arzt selbst die "Art der Erstversorgung (durch den
  300. D-Arzt)".
  301. 29
  302. c) Soweit die Revision geltend macht, der dem Beklagten zuzurechnende
  303. Fehler liege auch darin, dass der Kläger als arbeitsfähig beurteilt worden sei,
  304. kommt dem keine eigenständige Bedeutung zu. Diese Beurteilung folgt
  305. zwangsläufig aus den hinsichtlich der Diagnose und Erstversorgung behaupteten Behandlungsfehlern.
  306. 30
  307. 3. Auch der Umstand, dass die Behandlung in der Ambulanz durch eine
  308. Ärztin erfolgte, durch die sich der Beklagte in seiner Funktion als D-Arzt vertreten ließ, ohne dass sie zur ständigen Vertreterin des D-Arztes bestellt worden
  309. war, führt nicht zur Passivlegitimation des Beklagten. Denn die Tätigkeit der
  310. Vertreterin ist der Streithelferin zuzurechnen. Der Beklagte ließ sie nämlich im
  311. Rahmen des ihm von der Streithelferin anvertrauten öffentlichen Amtes tätig
  312. werden und die damit verbundenen Befugnisse wahrnehmen. Dass der Beklagte entgegen § 24 Abs. 3 des Vertrags 2008 die Tätigkeit nicht persönlich ausgeübt hat und die Ärztin auch nicht nach § 24 Abs. 4 des Vertrags 2008 zur
  313. ständigen Vertreterin des D-Arztes bestellt war, ist nicht hinsichtlich der Passivlegitimation, sondern nur im Innenverhältnis des Durchgangsarztes zum Unfall
  314. - 15 -
  315. versicherungsträger für einen etwaigen eigenen Regressanspruch des Unfallversicherungsträgers von Bedeutung.
  316. Galke
  317. Stöhr
  318. Oehler
  319. Offenloch
  320. Roloff
  321. Vorinstanzen:
  322. LG Limburg, Entscheidung vom 13.06.2014 - 4 O 418/13 OLG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 05.03.2015 - 8 U 129/14 -