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6.6 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. VI ZB 38/13
  4. vom
  5. 17. November 2015
  6. in dem Rechtsstreit
  7. -2-
  8. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 17. November 2015
  9. durch den Vorsitzenden Richter Galke, den Richter Wellner, die Richterin
  10. Diederichsen, den Richter Stöhr und die Richterin von Pentz
  11. beschlossen:
  12. Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des
  13. 14. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 2. September
  14. 2013 aufgehoben.
  15. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
  16. des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  17. Beschwerdewert: 14.331,50 €
  18. Gründe:
  19. I.
  20. 1
  21. Das klageabweisende Urteil des Landgerichts ist der Klägerin am 17. Mai
  22. 2013 zugestellt worden. Am 1. Juli 2013 hat ihr Prozessbevollmächtigter per
  23. Telefax Berufung eingelegt, sie sogleich begründet und Wiedereinsetzung in
  24. den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt.
  25. 2
  26. Zur Begründung hat die Klägerin vorgetragen, ihr Prozessbevollmächtigter habe, was dieser anwaltlich versichert hat, am 8. Juni 2013, einem Samstag,
  27. die Berufungsschrift, die das Datum 8. Juni 2013 trägt, gefertigt und am selben
  28. -3-
  29. Tag mit ausreichend frankiertem Brief in den Postkasten am Marktplatz in S.
  30. eingeworfen. Am Montag, dem 24. Juni 2013, habe er durch ein Telefonat mit
  31. einer Sachbearbeiterin des Berufungsgerichts erfahren, dass die Berufungsschrift dort nicht eingegangen sei.
  32. 3
  33. Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen
  34. und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen, weil nicht hinreichend
  35. glaubhaft gemacht sei, dass die Fristversäumung nicht auf einem Verschulden
  36. ihres Prozessbevollmächtigten beruhe. Dagegen wendet sich die Klägerin mit
  37. der Rechtsbeschwerde.
  38. II.
  39. 4
  40. 1. Die gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1
  41. Satz 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil zur Sicherung
  42. einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erforderlich ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Indem das Berufungsgericht
  43. der Klägerin zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist verweigert hat, hat es das Verfahrensgrundrecht
  44. der Klägerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG
  45. iVm dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
  46. verletzt. Es hat zudem die nachstehend wiedergegebene Rechtsprechung des
  47. Bundesgerichtshofs nicht beachtet.
  48. 5
  49. 2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
  50. -4-
  51. 6
  52. a) Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im
  53. Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe, nachdem sie auf Bedenken gegen
  54. die Richtigkeit des vorgetragenen Geschehensablaufes hingewiesen worden
  55. sei, keine weiteren erläuternden Umstände zu dem nur in äußerster Knappheit
  56. in zwei Sätzen geschilderten Geschehensablauf vorgetragen. Obwohl die Beklagten ausdrücklich darauf hingewiesen hätten, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin ausweislich der Eintragung im Fristenkalender am Tag vor der
  57. vermeintlichen Fertigung der Berufungsschrift Urlaub gehabt habe, habe er
  58. nicht erläutert, weshalb er am nächsten Tag, einem Samstag, im Büro gewesen
  59. sei. Weshalb der Rechtsmittelschriftsatz noch am Samstag erledigt worden sei,
  60. obwohl die Berufungsfrist erst über eine Woche später abgelaufen wäre, sei
  61. ebenfalls wenig nachvollziehbar. Keinesfalls erscheine es plausibel, dass der
  62. Prozessbevollmächtigte persönlich - ohne jeden Zeitdruck - zugleich auch das
  63. Fertigen der Abschriften und das Kuvertieren, Frankieren und Einliefern der
  64. Postsendung in einen ausweislich eines gängigen Routenplaners mehr als 500
  65. Meter von seiner Kanzlei entfernten Postkasten ebenfalls selbst übernommen
  66. habe. Üblicherweise würden derartige Arbeiten im Geschäftsablauf einer
  67. Rechtsanwaltskanzlei den Fachangestellten überlassen. Es hätte mehr als nahegelegen, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin - wenn er schon den
  68. Schriftsatz selbst im Computer erstellt und nicht diktiert hatte - jedenfalls die
  69. Ausfertigung der erforderlichen Abschriften und die Aufgabe zur Post am folgenden Montag von seinen Angestellten hätte erledigen lassen, wenn wie hier
  70. noch mehr als eine Woche Zeit dafür zur Verfügung gestanden habe. Eine inhaltliche Begründung für seine ungewöhnliche Verfahrensweise habe er trotz
  71. ausdrücklichen Bestreitens der Beklagten und entsprechenden Hinweises des
  72. Berufungssenats nicht gegeben.
  73. 7
  74. -5-
  75. b) Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht
  76. durfte der Klägerin aufgrund der bisherigen Feststellungen Wiedereinsetzung in
  77. den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist nicht versagen.
  78. 8
  79. aa) Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass
  80. die Umstände, die die Klägerin vorgetragen hat, eine unverschuldete Fristversäumnis rechtfertigen würden. Denn wenn ein mit vollständiger und richtiger
  81. Anschrift versehenes, ausreichend frankiertes Schriftstück am 8. Juni 2013 in
  82. einen Postkasten eingeworfen wird, darf der Absender darauf vertrauen, dass
  83. es bis zum 17. Juni 2013 beim Berufungsgericht eingeht, ohne dass er dessen
  84. Eingang bei Gericht überwachen müsste (vgl. BVerfG, NJW 1992, 38; BGH,
  85. Beschlüsse vom 12. September 2013 - V ZB 187/12, juris Rn. 9; vom 6. Mai
  86. 2015 - VII ZB 19/14, NJW 2015, 2266 Rn. 14, jeweils mwN).
  87. 9
  88. bb) Soweit das Berufungsgericht der anwaltlichen Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin keine hinreichende Glaubhaftmachung für
  89. die Absendung der Berufungsschrift am 8. Juni 2013 entnommen hat, hält dies
  90. den Angriffen der Rechtsbeschwerde hingegen nicht stand. Denn wenn das
  91. Berufungsgericht einer anwaltlichen Versicherung im Verfahren der Wiedereinsetzung keinen Glauben schenkt, muss es den Antragsteller darauf hinweisen
  92. und ihm Gelegenheit geben, entsprechenden Zeugenbeweis anzutreten (vgl.
  93. BGH, Beschlüsse vom 24. Februar 2010 - XII ZB 129/09, FamRZ 2010, 726
  94. Rn. 10 und vom 17. Januar 2012 - VIII ZB 42/11, WuM 2012, 157 Rn. 8). Das
  95. Berufungsgericht hätte auch prüfen müssen, ob nicht bereits in der Vorlage der
  96. anwaltlichen Versicherung zugleich ein Beweisangebot auf Vernehmung des
  97. Prozessbevollmächtigten als Zeugen zu den darin genannten Tatsachen gelegen hat, weil in diesem Fall die Ablehnung der Wiedereinsetzung ohne vorherige Vernehmung des Zeugen auf eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung hinausgelaufen wäre (BGH, Beschlüsse vom 24. Februar 2010
  98. -6-
  99. - XII ZB 129/09, FamRZ 2010, 726 Rn. 11 und vom 17. Januar 2012 - VIII ZB
  100. 42/11, WuM 2012, 157 Rn. 8).
  101. Galke
  102. Wellner
  103. Stöhr
  104. Diederichsen
  105. von Pentz
  106. Vorinstanzen:
  107. LG Stade, Entscheidung vom 08.05.2013 - 5 O 338/11 OLG Celle, Entscheidung vom 02.09.2013 - 14 U 101/13 -