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296 lines
8.6 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 77/14
  4. vom
  5. 4. Dezember 2014
  6. in der Abschiebungshaftsache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. ja (II.1.)
  11. BGHR:
  12. ja
  13. AufenthG § 62
  14. a) Die Haft zur Sicherung der Abschiebung darf nicht „auf Vorrat“ angeordnet
  15. werden, indem ihr Beginn an das Ende einer laufenden Straf- oder
  16. Untersuchungshaft und damit an einen in der Zukunft liegenden ungewissen
  17. Zeitpunkt geknüpft wird (Aufgabe des Senatsbeschlusses vom 9. März 1995 –
  18. V ZB 7/95, BGHZ 129, 98 ff., bestätigt durch Senatsbeschluss vom 4. März
  19. 2010 – V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 12).
  20. b) Sie kann jedoch parallel zu einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft
  21. angeordnet werden, sofern die üblichen Voraussetzungen hierfür vorliegen;
  22. obwohl die Abschiebungshaft erst nach dem Ende der Straf- oder
  23. Untersuchungshaft vollzogen werden kann, berechnet sich der Haftzeitraum
  24. von der Haftanordnung an.
  25. BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2014 - V ZB 77/14 - LG Traunstein
  26. AG Mühldorf a. Inn
  27. -2-
  28. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 4. Dezember 2014 durch die
  29. Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richter Dr. Czub und Dr. Roth, die
  30. Richterin Dr. Brückner und den Richter Dr. Kazele
  31. beschlossen:
  32. Auf die Rechtsbeschwerde wird der Beschluss der 4. Zivilkammer
  33. des Landgerichts Traunstein vom 16. April 2014 aufgehoben,
  34. soweit zum Nachteil des Betroffenen entschieden worden ist.
  35. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts
  36. Mühldorf am Inn vom 1. April 2014 den Betroffenen auch in dem
  37. Zeitraum ab dem 5. Februar 2014 in seinen Rechten verletzt hat.
  38. Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur
  39. zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen
  40. des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis
  41. Garmisch-Partenkirchen auferlegt.
  42. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  43. 5.000 €.
  44. Gründe:
  45. I.
  46. 1
  47. Der Betroffene wurde im Jahr 2009 unter Androhung der Abschiebung
  48. aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Vom 24. September 2013
  49. bis
  50. zum
  51. 13. Januar
  52. Fahrraddiebstahls
  53. in
  54. 2014
  55. befand
  56. er
  57. Untersuchungshaft.
  58. sich
  59. wegen
  60. eines
  61. Währenddessen
  62. versuchten
  63. ordnete
  64. das
  65. Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde mit Beschluss vom 1. Oktober
  66. 2013 Abschiebungshaft für die Dauer von längstens drei Monaten an, wobei
  67. diese im Anschluss an die Untersuchungshaft bzw. Strafhaft vollstreckt werden
  68. -3-
  69. sollte. Hiergegen legte der Betroffene am 20. Januar 2014 Beschwerde ein, die
  70. als unzulässig verworfen wurde; hilfsweise hat er die Aufhebung der Haft
  71. beantragt.
  72. 2
  73. Mit
  74. Beschluss
  75. vom
  76. 1.
  77. April
  78. 2014
  79. hat
  80. das
  81. Amtsgericht
  82. den
  83. Haftaufhebungsantrag zurückgewiesen. Auf die gegen diesen Beschluss
  84. gerichtete Beschwerde hat das Landgericht unter Zurückweisung des
  85. Rechtsmittels im Übrigen festgestellt, dass die Inhaftierung in dem Zeitraum
  86. vom 20. Januar bis zum 4. Februar 2014 rechtswidrig war. Mit der
  87. Rechtsbeschwerde will der Betroffene feststellen lassen, dass er auch über den
  88. 4. Februar 2014 hinaus in seinen Rechten verletzt worden ist.
  89. II.
  90. 3
  91. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
  92. 4
  93. 1. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen durfte der Beginn der
  94. Sicherungshaft nicht an das Ende der laufenden Untersuchungshaft und damit
  95. an einen in der Zukunft liegenden ungewissen Zeitpunkt geknüpft werden.
  96. 5
  97. a) Allerdings hat der Senat die Anordnung von Abschiebungshaft für drei
  98. Monate - wie hier - im Anschluss an eine bestehende Untersuchungshaft
  99. bislang gebilligt (Beschlüsse vom 9. März 1995 - V ZB 7/95, BGHZ 129, 98 ff.;
  100. vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 12; zustimmend
  101. Winkelmann in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., § 62
  102. AufenthG Rn. 353; Keidel/Budde, FamFG, 18. Aufl., § 425 Rn. 5). In der
  103. Folgezeit hat er jedoch für die Prognose, ob die Abschiebung innerhalb der
  104. nächsten drei Monate möglich erscheint, bei einer solchen „Überhaft“ auf den
  105. Erlass der Haftanordnung und nicht auf den mutmaßlichen Beginn der
  106. Abschiebungshaft
  107. abgestellt
  108. (Senat,
  109. Beschluss
  110. vom
  111. 12.
  112. Mai
  113. 2011
  114. - V ZB 309/10, juris Rn. 15; vgl. auch Senat, Beschluss vom 25. März 2010
  115. - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 Rn. 18; ebenso Prütting/Helms/Jennissen,
  116. FamFG, 3. Aufl., § 425 Rn. 11; Winkelmann in Renner/Bergmann/Dienelt,
  117. Ausländerrecht, 10. Aufl., § 62 AufenthG Rn. 146).
  118. -4-
  119. 6
  120. b) Der Begriff der Überhaft ist in diesem Zusammenhang zwar
  121. gebräuchlich, aber irreführend, weil er dem Strafprozessrecht entlehnt ist und
  122. dort die Existenz eines weiteren Haftbefehls neben einer bereits vollzogenen
  123. Haft kennzeichnet. Die Vorführung des Beschuldigten vor den Richter (§§ 115,
  124. 115a StPO) findet bei notierter Überhaft erst statt, wenn insoweit die
  125. Vollstreckung beginnt (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., vor
  126. § 112 Rn. 12 f., § 115 Rn. 12; KK/Graf, StPO, 7. Aufl., vor § 112 Rn. 17,
  127. § 115 Rn. 16). Hiervon unterscheidet sich das Freiheitsentziehungsverfahren
  128. nach den Vorschriften der §§ 415 ff. FamFG in wesentlichen Punkten. Einen
  129. Haftbefehl bzw. eine „auf Vorrat“ angeordnete Sicherungshaft sieht es gerade
  130. nicht vor (Senat, Beschluss vom 9. Juni 2011 - V ZB 26/11, juris Rn. 8). Die
  131. Anhörung des Betroffenen erfolgt vor der Anordnung der Haft. In diesem
  132. Zeitpunkt muss der Haftrichter abschließend über deren Voraussetzungen
  133. befinden.
  134. 7
  135. c) Richtigerweise kann die Haft zur Sicherung der Abschiebung daher
  136. nur parallel zu einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft angeordnet
  137. werden. Dies kann einem praktischen Bedürfnis entsprechen (vgl. Senat,
  138. Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 12), weil das
  139. vorzeitige Ende einer Strafhaft etwa bei Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe
  140. durch Zahlung der Geldstrafe eintreten (vgl. § 459e Abs. 4 Satz 1 StPO;
  141. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 459e Rn. 5) und die
  142. Untersuchungshaft
  143. ohnehin
  144. jederzeit
  145. enden
  146. kann.
  147. Obwohl
  148. die
  149. Abschiebungshaft erst nach dem Ende der Straf- oder Untersuchungshaft
  150. vollzogen wird, berechnet sich der Haftzeitraum von der Haftanordnung an
  151. (zutreffend LG Verden, InfAuslR 2012, 425 f.; ähnlich OLG Köln, OLGR 2002,
  152. 364 f.; OLG München, OLGR 2005, 439 f.; OLG Düsseldorf, InfAuslR 2008,
  153. 38 f.; im Ergebnis auch Prütting/Helms/Jennissen, FamFG, 3. Aufl., § 425 Rn.
  154. 11).
  155. -5-
  156. 8
  157. d) Für eine Anordnung von Abschiebungshaft parallel zu einer laufenden
  158. Straf- oder Untersuchungshaft müssen die üblichen formellen und materiellen
  159. Voraussetzungen vorliegen. Insbesondere muss die Haft auf die kürzest
  160. mögliche Dauer beschränkt werden (§ 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG); die Behörde
  161. darf während der Untersuchungshaft bzw. der Vollstreckung der Freiheitsstrafe
  162. nicht untätig bleiben. Es darf nicht feststehen, dass die Abschiebung aus
  163. Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, nicht innerhalb der nächsten
  164. drei Monate durchgeführt werden kann (§ 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG; vgl.
  165. Senat, Beschluss vom 12. Mai 2011 - V ZB 309/10, juris Rn. 15). Bei laufender
  166. Untersuchungshaft kann die Abschiebungshaft nur angeordnet werden, wenn
  167. das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorliegt (§ 72 Abs. 4 Satz 1
  168. AufenthG); ist dieses erteilt worden, kann davon ausgegangen werden, dass
  169. der
  170. Haftbefehl
  171. der
  172. Abschiebung
  173. nicht
  174. entgegenstehen
  175. und
  176. die
  177. Staatsanwaltschaft ggf. dessen Aufhebung beantragen wird (§ 120 Abs. 3
  178. StPO).
  179. 9
  180. 2. Daran gemessen erweist sich die Haft als rechtswidrig. Zwar hat die
  181. Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen erteilt. Der Haftbeginn war jedoch an ein
  182. künftiges Ereignis geknüpft. Dieser Fehler hat sich auch ausgewirkt, weil die
  183. Dreimonatsfrist bereits abgelaufen war, als der Vollzug der Abschiebungshaft
  184. begann.
  185. 10
  186. 3. Zudem hat das Amtsgericht unter Verletzung von § 26 FamFG die ihm
  187. obliegende Prognose (näher dazu Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB
  188. 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 22) nicht vorgenommen. Die Haftanordnung vom
  189. 1. Oktober 2013 enthält keinerlei Prognose. Die Entscheidung über den Antrag
  190. auf Haftaufhebung vom 1. April 2014 beschränkt sich auf die Wiedergabe der
  191. Einschätzung der Ausländerbehörde, der ursprüngliche Zeitplan werde
  192. eingehalten und das Beschleunigungsgebot finde Beachtung. Aus dem
  193. späteren tatsächlichen Geschehensablauf kann zwar auf den mutmaßlichen
  194. Inhalt einer gebotenen, aber unterlassenen Prognose geschlossen werden
  195. (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 – V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144
  196. Rn. 19). Hier ist die Abschiebung aber nicht während der Haftzeit erfolgt.
  197. -6-
  198. III.
  199. 11
  200. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83
  201. Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog. Die Festsetzung des
  202. Beschwerdewerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
  203. Stresemann
  204. Czub
  205. Brückner
  206. Roth
  207. Kazele
  208. Vorinstanzen:
  209. AG Mühldorf am Inn, Entscheidung vom 01.04.2014 - 1 XIV 45/14 (L)LG Traunstein, Entscheidung vom 16.04.2014 - 4 T 1352/14 -