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9.9 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 205/14
  4. vom
  5. 9. Juli 2015
  6. in dem Rechtsstreit
  7. -2-
  8. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. Juli 2015 durch die
  9. Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch,
  10. den Richter Dr. Roth, die Richterin Dr. Brückner und den Richter Dr. Göbel
  11. beschlossen:
  12. Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss der
  13. 13. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom
  14. 14. Oktober 2014 aufgehoben.
  15. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
  16. des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  17. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  18. 22.176 €.
  19. Gründe:
  20. I.
  21. 1
  22. Der Beklagte ist Mitglied der klagenden Wohnungseigentümergemeinschaft. Die Klage ist darauf gerichtet, den Beklagten zu verurteilen, den Mitarbeitern der Firma C.
  23. Zugang zu der in seinem Eigentum stehenden Wohnung
  24. zu gewähren, um dort das Durchbohren der Decke und des Bodens im Wohnzimmer zur Installation des senkrecht verlaufenden Kabelstrangs der neu zu
  25. installierenden Breitbandkabelanlage zu dulden. Das Amtsgericht hat die Klage
  26. durch das der Klägerin am 2. Oktober 2013 zugestellte Urteil abgewiesen.
  27. -3-
  28. 2
  29. Am 22. Oktober 2013 ist bei dem Landgericht eine auf dem Briefpapier
  30. des Prozessbevollmächtigten der Klägerin geschriebene Berufungsschrift eingegangen. Der Schriftsatz schließt mit dem maschinenschriftlichen Namenszusatz „(W. )“ und darunter „Rechtsanwalt“. Unmittelbar über diesem Text befinden sich an der für die Unterschrift vorgesehenen Stelle zwei nicht miteinander
  31. verbundene Linien, von denen die eine senkrecht und die andere waagerecht
  32. verläuft. Nach Hinweis des Vorsitzenden des Berufungsgerichts, es liege mangels Unterschrift keine ordnungsgemäße Berufung vor, hat die Klägerin wegen
  33. der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und am 30. Dezember 2013 eine Berufungsbegründung eingereicht.
  34. Das Landgericht hat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Mit
  35. ihrer Rechtsbeschwerde will sie die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses
  36. und die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht erreichen.
  37. II.
  38. 3
  39. Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist die Berufung unzulässig, weil die
  40. Berufungsschrift nicht ordnungsgemäß unterzeichnet sei. Der Schriftzug bestehe aus leicht bogenförmigen Strichen, die zueinander nahezu im rechten Winkel
  41. gesetzt worden seien. An individuellen Merkmalen fehle es vollständig. Der
  42. Klägerin sei auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren,
  43. da auch dieser Antrag nicht ordnungsgemäß unterzeichnet sei. Zudem mangele
  44. es an der Nachholung der versäumten Prozesshandlung innerhalb der Antragsfrist. Auch die am 30. Dezember 2013 eingegangene Berufungsbegründung
  45. weise als Unterschrift nur zwei nicht individualisierbare Linien auf, die den Anforderungen an eine Unterschrift nicht genügten. Dass es sich nicht um einen
  46. wenngleich abgeschliffenen - individualisierbaren Schriftzug des Namens
  47. „W.
  48. “ handele, zeige sich bereits daran, dass er weder dem unter der eides-
  49. -4-
  50. stattlichen Versicherung noch den vorangegangenen vermeintlichen Unterzeichnungen der Schriftsätze ähnele.
  51. III.
  52. 4
  53. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
  54. 5
  55. 1. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen
  56. Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert
  57. (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die auf der unzutreffenden Annahme einer
  58. nicht ordnungsgemäß unterzeichneten Berufungsschrift beruhende Verwerfung
  59. der Berufung als unzulässig verletzt die Klägerin in ihren Verfahrensgrundrechten auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG und auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung
  60. mit dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2015
  61. - VI ZB 71/14, juris Rn. 4).
  62. 6
  63. 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Entgegen der Auffassung
  64. des Berufungsgerichts ist die Berufungsschrift ordnungsgemäß.
  65. 7
  66. a) Die Berufungsschrift muss als bestimmender Schriftsatz im Anwaltsprozess grundsätzlich von einem bei dem Berufungsgericht postulationsfähigen
  67. Rechtsanwalt eigenhändig unterschrieben sein (§ 130 Nr. 6, § 519 Abs. 4 ZPO).
  68. Eine diesen Anforderungen genügende Unterschrift verlangt einen die Identität
  69. des Unterzeichnenden ausreichend kennzeichnenden Schriftzug, der individuelle, charakteristische Merkmale, die die Nachahmung erschweren, aufweist, sich
  70. ohne lesbar sein zu müssen, als Wiedergabe eines Namens darstellt und die
  71. Absicht einer vollen Unterschrift erkennen lässt, selbst wenn er nur flüchtig nie-
  72. -5-
  73. dergelegt und von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet ist.
  74. Unter diesen Voraussetzungen kann selbst ein vereinfachter und nicht lesbarer
  75. Namenszug als Unterschrift anzuerkennen sein, wobei von Bedeutung ist, ob
  76. der Unterzeichner auch sonst in gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt.
  77. Dabei ist in Anbetracht der Variationsbreite, die selbst Unterschriften ein- und
  78. derselben Person aufweisen, jedenfalls bei gesicherter Urheberschaft ein großzügiger Maßstab anzulegen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2015
  79. - VI ZB 71/14, juris Rn. 7 f.; Senat, Beschluss vom 22. Januar 2009
  80. - V ZB 165/08, juris Rn. 3).
  81. 8
  82. b) Diesen Anforderungen genügt der Schriftzug des Prozessbevollmächtigten der Klägerin unter der Berufungsschrift. Dies hat der Senat ohne Bindung
  83. an die Ausführungen des Berufungsgerichts von Amts wegen zu prüfen (vgl.
  84. BGH, Beschluss vom 3. März 2015 - VI ZB 71/14, juris Rn. 10 mwN). An der
  85. Urheberschaft von Rechtsanwalt W. gibt es keinen Zweifel. Sie ergibt sich aus
  86. dem unter dem Schriftzug befindlichen maschinenschriftlichen Zusatz. Dem
  87. Schriftzug fehlt es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch nicht
  88. an der erforderlichen Individualität und der erkennbaren Absicht einer vollen
  89. Unterschriftsleistung.
  90. 9
  91. aa) Das erste Element der Unterschrift beginnt rechts oben mit einem
  92. kleinen Haken und setzt sich als gekrümmte Linie nach links unten fort. Aufgrund der Kenntnis des maschinenschriftlich mitgeteilten Namens lässt sich die
  93. Linie als vereinfachte Form des Buchstabens „W“ und damit des ersten Buchstabens des nur aus vier Buchstaben bestehenden Familiennamens von
  94. Rechtsanwalt W.
  95. deuten. Das zweite Element beginnt etwas höher als das
  96. Ende des ersten Elements mit einer kurzen Abwärtsbewegung und setzt sich
  97. mit deutlich kräftigerer Strichführung als beim ersten Element im Wesentlichen
  98. horizontal nach rechts fort und kann als Andeutung der übrigen Buchstaben
  99. -6-
  100. verstanden werden. Dass diese Buchstaben nicht lesbar sind, ist für die Annahme einer wirksamen Unterschrift unerheblich.
  101. 10
  102. Beide Elemente sind von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet, weisen jedoch besondere Merkmale auf, die keinen ernsthaften Zweifel daran aufkommen lassen, dass es sich um eine von ihrem Urheber zum
  103. Zwecke der Individualisierung und Legitimierung geleistete Unterschrift handelt.
  104. Sie entsprechen ausweislich der Akten der Art, in der Rechtsanwalt W.
  105. von
  106. ihm gefertigte Schriftsätze üblicherweise unterschreibt bzw. bislang unterschrieben hat (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Mai 2014 - IV ZB 32/14, juris
  107. Rn. 11). Dass sich die Unterschriften auf dem Wiedereinsetzungsgesuch und
  108. der Berufungsbegründung hiervon unterscheiden, gebietet keine abweichende
  109. Beurteilung, weil es sich hierbei erkennbar nur um eine Reaktion auf den Hinweis des Berufungsgerichts auf die unzureichende Unterschrift unter der Berufungsschrift handelte.
  110. 11
  111. bb) Die Linien können auch nicht als bloße Namensabkürzung (Handzeichen, Paraphe) gewertet werden. Abgesehen davon, dass bei einem nur aus
  112. wenigen Buchstaben bestehenden Namen eine Unterscheidung zwischen bloßer Paraphe und vollem Namenszug ohnehin nur schwer zu treffen ist, spricht
  113. vorliegend der Umstand, dass das zweite Element des Schriftzuges deutlich
  114. mehr Raum einnimmt als das unter der Namenswiedergabe befindliche Wort
  115. „Rechtsanwalt“ eindeutig für den Willen, eine volle Unterschrift zu leisten. Eine
  116. einzelne leicht gekrümmte bzw. geschwungene Linie genügt zur Darstellung
  117. des dem Anfangsbuchstaben folgenden Rests des Namens (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Februar 2010 - VIII ZB 67/09, juris Rn. 12).
  118. 12
  119. 3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 577 Abs. 3 ZPO).
  120. -7-
  121. 13
  122. Dass die Berufungsbegründung erst am 30. Dezember 2013 bei dem Berufungsgericht eingegangen ist, während die zweimonatige Berufungsbegründungsfrist des § 520 Abs. 2 ZPO aufgrund der am 2. Oktober 2013 erfolgten
  123. Zustellung des angegriffenen Urteils bereits mit dem 2. Dezember 2013 abgelaufen war, macht die Berufung nicht unzulässig. Auch dies hat der Senat von
  124. Amts wegen zu prüfen. Ausweislich der Akten hat die Klägerin am 2. Dezember
  125. 2013 und damit innerhalb der Berufungsbegründungsfrist einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 2. Januar 2014 gestellt. Ob
  126. über diesen Antrag, der unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen
  127. - ebenso wie die Berufungsbegründung vom 30. Dezember 2013 - eine ordnungsgemäße Unterschrift aufweist, entschieden worden ist, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Zwar hat sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin
  128. eingangs der Berufungsbegründung für die „gewährte Fristverlängerung“ bedankt. Eine Dokumentation in den Akten findet sich jedoch nicht. Fehlt es an
  129. einer Entscheidung über den Fristverlängerungsantrag, muss dies von dem
  130. hierfür gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO zuständigen Vorsitzenden nachgeholt
  131. -8-
  132. werden (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2001 - VII ZB 37/00, NJW-RR 2001,
  133. 931; Senat, Beschluss vom 29. April 2004 - V ZB 33/03, FamRZ 2004, 1189).
  134. Stresemann
  135. Schmidt-Räntsch
  136. Brückner
  137. Roth
  138. Göbel
  139. Vorinstanzen:
  140. AG Gießen, Entscheidung vom 20.09.2013 - 46 C 12/13 LG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 14.10.2014 - 2-13 S 194/13 -