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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. KVR 9/11
  4. vom
  5. 18. Oktober 2011
  6. in der Kartellverwaltungssache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. Niederbarnimer Wasserverband
  14. GWB § 59 Abs. 1
  15. Eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die Trinkwasser auf der Grundlage eines Anschluss- und Benutzungszwangs und einer Gebührensatzung liefert, ist im
  16. Sinne des § 59 Abs. 1 GWB Unternehmen und nach dieser Vorschrift zur Auskunft
  17. über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse verpflichtet.
  18. BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2011 - KVR 9/11 - OLG Düsseldorf
  19. -2-
  20. Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat am 18. Oktober 2011 durch den
  21. Präsidenten des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Tolksdorf und die Richter Prof.
  22. Dr. Meier-Beck, Dr. Raum, Dr. Strohn und Dr. Löffler
  23. beschlossen:
  24. Auf die Rechtsbeschwerde des Bundeskartellamts wird der Beschluss
  25. des 2. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 8. Dezember 2010 aufgehoben.
  26. Der Antrag des Betroffenen, die aufschiebende Wirkung seiner Beschwerde gegen den Auskunftsbeschluss des Bundeskartellamts vom
  27. 19. August 2010 anzuordnen, wird abgelehnt.
  28. Die Kosten des Verfahrens auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung
  29. der Beschwerde und des Rechtsbeschwerdeverfahrens trägt der Betroffene.
  30. Der Streitwert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 5.000 € festgesetzt.
  31. Gründe:
  32. I.
  33. 1
  34. Das Bundeskartellamt führt gegen die Berliner Wasserbetriebe A.ö.R. ein
  35. Verfahren wegen des Verdachts missbräuchlich überhöhter Trinkwasserpreise.
  36. Um Informationen über Entgelte, Kosten und Erlöse in möglichen Vergleichsgebie-
  37. -3-
  38. ten zu erlangen, hat das Amt Auskunftsbeschlüsse gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1
  39. Nr. 1 GWB gegen 45 Trinkwasserversorgungsunternehmen erlassen, darunter
  40. den Niederbarnimer Wasser- und Abwasserzweckverband (nachfolgend: Zweckverband). Der Zweckverband erhebt für die Versorgung mit Trinkwasser Gebühren
  41. auf der Grundlage einer kommunalen Gebührensatzung. Nach der von ihm erlassenen Satzung über die Wasserversorgung sind die Eigentümer der in seinem
  42. Gebiet liegenden Grundstücke grundsätzlich verpflichtet, diese an die öffentliche
  43. Wasserversorgungsanlage anzuschließen und ihren gesamten Wasserbedarf
  44. ausschließlich aus dieser Anlage zu decken (Anschluss- und Benutzungszwang).
  45. 2
  46. Der Zweckverband hat gegen den Auskunftsbeschluss vom 19. August 2010
  47. Beschwerde eingelegt. Das Oberlandesgericht hat auf Antrag des Zweckverbandes gemäß § 65 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. Satz 1 Nr. 2 GWB die aufschiebende Wirkung der Beschwerde angeordnet und diese Entscheidung im Wesentlichen wie
  48. folgt begründet (OLG Düsseldorf, WuW/E DE-R 3170):
  49. 3
  50. Es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen
  51. Auskunftsbeschlusses, weil der Zweckverband nicht als Unternehmen im Sinne
  52. des § 59 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GWB anzusehen sei. Dem stehe zwar nach dem
  53. maßgeblichen funktionalen, allein auf die wirtschaftliche Betätigung abstellenden
  54. Unternehmensbegriff nicht bereits entgegen, dass es sich bei dem Zweckverband
  55. um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts handele. Die Versorgungstätigkeit
  56. des Zweckverbandes sei aber als hoheitlich zu qualifizieren und damit dem Anwendungsbereich des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen entzogen.
  57. Ob dies allein aus der öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung des Benutzungsverhältnisses folge, könne offen bleiben. Jedenfalls ergebe sich diese Beurteilung aus
  58. dem satzungsmäßigen Anschluss- und Benutzungszwang. Denn dadurch sei jedweder Wettbewerb Dritter von vornherein ausgeschlossen. In einem solchen Fall
  59. -4-
  60. sei das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen nicht anwendbar, denn es
  61. setze zumindest potenzielle Wettbewerbsbeziehungen zu Dritten voraus.
  62. 4
  63. Eine abweichende Beurteilung sei auch im Rahmen des Auskunftsverfahrens
  64. nach § 59 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GWB nicht angezeigt. Für einen solchermaßen "gespaltenen" Unternehmensbegriff fehle es an hinreichenden gesetzlichen Anhaltspunkten.
  65. 5
  66. Dagegen wendet sich das Bundeskartellamt mit seiner vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde.
  67. II.
  68. 6
  69. Die Rechtsbeschwerde, über die der Senat ohne mündliche Verhandlung
  70. entscheiden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 6. September 2007 - KVR 31/06,
  71. WuW/E DE-R 2035 Rn. 12 f. - Lotto im Internet), hat Erfolg. Sie führt unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur Ablehnung des Antrags auf Anordnung
  72. der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde.
  73. 7
  74. 1. Gemäß § 65 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. Satz 1 Nr. 2 und 3 GWB kann das Beschwerdegericht die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen eine Entscheidung der Kartellbehörde anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung bestehen oder wenn die Vollziehung für den
  75. Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
  76. 8
  77. 2. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Der - hier allein geltend gemachte und in Betracht kommende - Anordnungsgrund der ernstlichen
  78. -5-
  79. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung ist nicht gegeben.
  80. Auch bei der in dem Eilverfahren nach § 65 GWB auf dem Maßstab rechtlicher
  81. Plausibilität beschränkten Überprüfung der Entscheidung des Beschwerdegerichts
  82. (BGH, Beschluss vom 6. September 2007 - KVR 31/06, WuW/E DE-R 2035
  83. Rn. 17 - Lotto im Internet) erweist sich die Ansicht des Oberlandesgerichts, der
  84. Zweckverband sei wegen der öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung der Benutzungsverhältnisse zu den Wasserabnehmern kein Unternehmen im Sinne des
  85. § 59 Abs. 1 GWB und deshalb nach dieser Vorschrift nicht zur Auskunftserteilung
  86. verpflichtet, als unzutreffend.
  87. 9
  88. a) Dies ergibt sich unabhängig davon, ob der Auffassung des Bundeskartellamts zu folgen ist, öffentlich-rechtlich organisierte Wasserversorger seien auch bei
  89. öffentlich-rechtlicher Ausgestaltung der Leistungsbeziehung zu ihren Abnehmern
  90. als Unternehmen im Sinne des § 19 GWB anzusehen - mit der Folge, dass die
  91. von ihnen erhobenen Gebühren für die Wasserversorgung einer kartellrechtlichen
  92. Missbrauchskontrolle unterzogen werden könnten (ebenso Wolf, BB 2011, 648,
  93. 650 ff.; Lange, WuW 2002, 953, 958; s. auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom
  94. 19. Mai 2005 - 1 L 40/04, juris Rn. 31).
  95. 10
  96. Der Bundesgerichtshof nimmt zwar - ausgehend davon, dass dem Gesetz
  97. gegen Wettbewerbsbeschränkungen ein funktionaler Unternehmensbegriff zugrunde liegt - an, dass grundsätzlich jede Person und jeder Verband, der sich im
  98. geschäftlichen Verkehr, d.h. wirtschaftlich betätigt, als Unternehmen anzusehen
  99. ist. Dementsprechend können nach seiner Rechtsprechung, die sich im Übrigen
  100. auf die Klarstellung in § 130 Abs. 1 GWB stützen kann - auch Körperschaften des
  101. öffentlichen Rechts Unternehmen im Sinne des Kartellrechts sein, wenn und soweit sie wirtschaftlich tätig sind (BGH, Beschluss vom 14. März 1990 - KVR 4/88,
  102. BGHZ 110, 371, 379 f. - Sportübertragungen; Beschluss vom 9. März 1999
  103. - KVR 20/97, WuW/E DE-R 289, 293 - Lottospielgemeinschaft). Das ist aber - wie
  104. -6-
  105. weiter entschieden ist - nicht der Fall, wenn die Körperschaft ihre Leistungsbeziehung zu den Abnehmern öffentlich-rechtlich organisiert - also etwa durch eine öffentlich-rechtliche Satzung geregelt - hat; dann ist sie nach der Rechtsprechung
  106. grundsätzlich dem Anwendungsbereich des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen entzogen (BGH, Urteil vom 26. Oktober 1961 - KZR 1/61, BGHZ
  107. 36, 91, 101 - Gummistrümpfe; BGH, Urteil vom 25. Juni 1964 - KZR 4/63, GRUR
  108. 1965, 110, 114 - EU-MED; WuW/E DR-R 2144, 2145 - Rettungsleitstelle).
  109. 11
  110. Ob dieser Grundsatz auch dann Geltung beanspruchen kann, wenn die öffentlich-rechtliche und die privatrechtliche Ausgestaltung der Leistungsbeziehung
  111. - wie im Fall der Wasserversorgung - weitgehend austauschbar sind (offen gelassen in BGH, Beschluss vom 22. März 1976 - GSZ 2/75, BGHZ 67, 81, 91 - AutoAnalyzer), oder ob wegen dieser Besonderheit öffentlich-rechtlich organisierte
  112. Wasserversorger auch bei öffentlich-rechtlicher Ausgestaltung der Leistungsbeziehungen zu ihren Abnehmern in Übereinstimmung mit der Auffassung des Bundeskartellamts grundsätzlich als Unternehmen im kartellrechtlichen Sinne anzusehen sind, ist aber bislang nicht geklärt. Es kann auch hier offen bleiben.
  113. 12
  114. b) Denn die öffentlich-rechtliche Ausgestaltung des Leistungsverhältnisses
  115. eines Wasserversorgers zu seinen Abnehmern steht jedenfalls seiner Einordnung
  116. als Unternehmen im Sinne des § 59 Abs. 1 GWB nicht entgegen.
  117. 13
  118. Der im Kartellrecht geltende funktionale Unternehmensbegriff ist "relativ" (W.H. Roth, FS Bechtold, 2006, S. 393, 394; Bornkamm, FS Hirsch, 2008, S. 231,
  119. 232 f.; MünchKomm.EuWettbR/Säcker/Herrmann, Einl. 1598). So hat der Senat
  120. entschieden, dass eine öffentlich-rechtliche Körperschaft, die hoheitlich tätig ist, im
  121. Sinne einer "Doppelqualifikation" (Wolf, BB 2011, 648, 651) als Unternehmen anzusehen ist, wenn und soweit sie daneben in einer Wettbewerbsbeziehung zu anderen Unternehmen steht (BGHZ 36, 91, 101 ff. - Gummistrümpfe; BGHZ 67, 81,
  122. -7-
  123. 89 - Auto-Analyzer; BGH, Urteil vom 23. Oktober 1979 - KZR 22/78, WuW/E 1661,
  124. 1662 - Berliner Musikschule; BGHZ 110, 371, 380 f. - Sportübertragungen;
  125. MünchKomm.GWB/Reif, § 131 Rn. 49; Weisser in FK, § 130 Rn. 39).
  126. 14
  127. Danach ist ein Wasserversorger, auch wenn er in Bezug zu seinen Abnehmern in den Formen des öffentlichen Rechts tätig ist, Unternehmen im Sinne des
  128. § 59 Abs. 1 GWB. Mit dieser Norm soll sichergestellt werden, dass sich die Kartellbehörden ausreichende Informationen beschaffen können, um ihre gesetzlichen Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen. Dazu kommt es im vorliegenden Zusammenhang darauf an, dass die Behörden Aufschluss über die Erlöse und Kosten von Wasserversorgern erhalten, die mit demjenigen Unternehmen, dessen
  129. Preisgestaltung untersucht werden soll - hier die Berliner Wasserbetriebe A.ö.R. -,
  130. gleichartig sind im Sinne des § 103 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 GWB in der Fassung der
  131. 5. GWB-Novelle 1990 (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Februar 2010 - KVR 66/08,
  132. BGHZ 184, 168 ff. - Wasserpreise Wetzlar). Dagegen geht es nicht darum, die
  133. Angemessenheit der Wasserpreise des in den Formen des öffentlichen Rechts tätigen Wasserversorgers zu überprüfen. Eine Auskunft kann deshalb unabhängig
  134. davon erteilt werden, ob der jeweilige Wasserversorger sein Leistungsverhältnis
  135. öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich ausgestaltet hat. Seine öffentlich-rechtliche
  136. -8-
  137. Tätigkeit wird dadurch nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil steht er insoweit auf einer
  138. Stufe mit allen anderen Wasserversorgern, die ebenfalls zu Auskünften nach § 59
  139. Abs. 1 GWB verpflichtet sind.
  140. Tolksdorf
  141. Meier-Beck
  142. Strohn
  143. Raum
  144. Löffler
  145. Vorinstanz:
  146. OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 08.12.2010 - VI-2 Kart 1/10 (V) -