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10 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. II ZB 6/07
  4. vom
  5. 21. April 2008
  6. in dem Rechtsstreit
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. ja
  11. BGHR:
  12. ja
  13. KapMuG § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1
  14. a) Ein Musterverfahren ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KapMuG einzuleiten, wenn
  15. bis zum Ablauf der dort genannten Frist zehn gleichgerichtete Musterfeststellungsanträge gestellt worden sind. Diese Anträge müssen nicht in zehn getrennten Prozessen gestellt worden sein. Es reicht vielmehr aus, wenn zehn einfache
  16. Streitgenossen jeweils einen auf die Durchführung des Musterverfahrens gerichteten Antrag gestellt haben. Die Möglichkeit einer Zurückweisung dieser Anträge
  17. wegen Prozessverschleppung nach § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KapMuG bleibt unberührt.
  18. b) In das Klageregister ist gemäß § 2 Abs. 1 KapMuG jeder einzelne Musterfeststellungsantrag einzutragen, auch wenn mehrere Streitgenossen jeweils gleichlautende Anträge gestellt haben.
  19. BGH, Beschluss vom 21. April 2008 - II ZB 6/07 - OLG München
  20. LG Augsburg
  21. -2-
  22. Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 21. April 2008 durch
  23. den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Goette und die Richter Dr. Kurzwelly,
  24. Dr. Strohn, Dr. Reichart und Dr. Drescher
  25. beschlossen:
  26. Auf die Rechtsbeschwerde der Kläger zu 3, 9, 12 und 13 wird
  27. der Beschluss des Senats für Kapitalanleger-Musterverfahren
  28. des Oberlandesgerichts München vom 9. Februar 2007 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zu Ungunsten der
  29. Rechtsbeschwerdeführer entschieden worden ist.
  30. Im Umfang der Aufhebung wird der Rechtsstreit zur neuen Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
  31. Der Streitwert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf
  32. 10.000,00 € festgesetzt.
  33. Gründe:
  34. 1
  35. I. Die vierzehn Kläger des bei dem Landgericht Augsburg anhängigen
  36. Ausgangsverfahrens (1 O 4341/04) verlangen von den Beklagten Schadensersatz wegen fehlerhafter Ad-hoc-Mitteilungen. Neun Kläger haben dazu jeweils
  37. einen Musterfeststellungsantrag gestellt. Im Klageregister ist daraufhin "ein"
  38. Antrag bekannt gemacht worden. Innerhalb von vier Monaten nach der Bekanntmachung sind gleichgerichtete Musterfeststellungsanträge in vier weiteren
  39. Verfahren von insgesamt 60 Klägern gestellt worden.
  40. -3-
  41. 2
  42. Das Landgericht hat "den" Musterfeststellungsantrag zurückgewiesen.
  43. Die dagegen von den Klägern zu 3, 9, 12 und 13 eingelegte sofortige Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben (OLG München, ZIP 2007, 649). Dagegen
  44. richtet sich die von dem Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde
  45. der Kläger zu 3, 9, 12 und 13.
  46. 3
  47. II. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
  48. 4
  49. 1. Das Beschwerdegericht hat allerdings zutreffend angenommen, dass
  50. gegen die Zurückweisung eines Musterfeststellungsantrags nach § 4 Abs. 4
  51. KapMuG die sofortige Beschwerde gemäß § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO statthaft ist
  52. (ebenso Möllers/Weichert, NJW 2005, 2737, 2739; a.A. Fullenkamp in Vorwerk/
  53. Wolf, KapMuG § 4 Rdn. 36). Danach findet die sofortige Beschwerde gegen
  54. Entscheidungen statt, die eine mündliche Verhandlung nicht erfordern und
  55. durch die ein das Verfahren betreffendes Gesuch zurückgewiesen worden ist.
  56. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, § 128 Abs. 4 ZPO.
  57. 5
  58. 2. Dem Beschwerdegericht ist aber nicht zu folgen in der Annahme, "der"
  59. Musterfeststellungsantrag - richtig: die Musterfeststellungsanträge - sei(en) vom
  60. Landgericht zu Recht nach § 4 Abs. 4 KapMuG zurückgewiesen worden.
  61. 6
  62. Zur Begründung hat das Beschwerdegericht ausgeführt: Innerhalb von
  63. vier Monaten nach der Bekanntmachung des Antrags seien nicht in mindestens
  64. neun weiteren Verfahren gleichgerichtete Musterfeststellungsanträge gestellt
  65. worden, wie es § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KapMuG für den Erlass eines Vorlagebeschlusses voraussetze. Dass in vier Verfahren von insgesamt 60 Klägern
  66. derartige Anträge gestellt worden seien, reiche nicht aus. Es komme nicht auf
  67. -4-
  68. die Zahl der Antragsteller an, sondern auf die Zahl der Verfahren, in denen Anträge gestellt worden seien.
  69. 7
  70. Das beruht auf einer einseitig formale Gesichtspunkte in den Vordergrund stellenden fehlerhaften Auslegung des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KapMuG.
  71. 8
  72. Nach § 4 Abs. 1 KapMuG führt das Prozessgericht durch Beschluss einen Musterentscheid herbei, wenn in dem bei ihm anhängigen Verfahren der
  73. zeitlich erste Musterfeststellungsantrag gestellt worden ist und innerhalb von
  74. vier Monaten nach seiner Bekanntmachung in mindestens neun weiteren Verfahren gleichgerichtete Musterfeststellungen beantragt worden sind. Der Wortlaut dieser Norm ist - entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts - nicht eindeutig. Erheben mehrere Personen gemeinsam eine Klage, ohne dass - wie
  75. auch hier nicht - die Voraussetzungen der notwendigen Streitgenossenschaft
  76. nach § 62 ZPO vorliegen, so kommt für jeden Kläger gemäß § 61 ZPO ein selbständiges Prozessrechtsverhältnis zustande. Die mehreren Prozessrechtsverhältnisse sind durch die - einfache - Streitgenossenschaft lediglich zu einem
  77. äußerlich einheitlichen Verfahren miteinander verbunden. Der Sache nach handelt es sich aber um selbständige Verfahren (BGHZ 8, 72, 78; BGH, Urt. v.
  78. 17. März
  79. 1989
  80. - V ZR 233/87,
  81. WM 1989,
  82. 997,
  83. 998;
  84. v.
  85. 26. Mai
  86. 1994
  87. - IX ZR 39/93, ZIP 1994, 1121, 1122, insoweit in BGHZ 126, 138 nicht abgedruckt; MünchKommZPO/Schilken, 3. Aufl. § 59 Rdn. 22; Zöller/Vollkommer,
  88. ZPO 26. Aufl. § 61 Rdn. 8).
  89. 9
  90. Der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG spricht für eine Berücksichtigung jedes einzelnen von mehreren einfachen Streitgenossen gestellten Musterfeststellungsantrags. Danach wird durch den Musterfeststellungsantrag das
  91. Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz in Gang gesetzt,
  92. -5-
  93. das bei Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen zu dem Vorlagebeschluss nach § 4 KapMuG führt. Die Textteile "in einem … Verfahren" umschreiben lediglich einen Teil der materiellen Voraussetzungen der Klageverfahren, in denen überhaupt nach dem Gesetz ein Musterbescheid in Betracht
  94. kommt, enthalten aber keine Aussage über die Zahl der notwendigen Prozesse,
  95. wie das Beschwerdegericht meint. Stellen demnach zwei oder mehr Streitgenossen jeweils einen solchen Antrag, handelt es sich um eigenständige Anträge, über die auch jeweils gesondert entschieden werden muss.
  96. 10
  97. Auch nach Sinn und Zweck des Gesetzes ist § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
  98. KapMuG so auszulegen, dass bei einer Streitgenossenschaft unter "Verfahren"
  99. das jeweilige einzelne Prozessrechtsverhältnis zu verstehen ist, die Voraussetzungen für einen Vorlagebeschluss also schon dann erfüllt sind, wenn insgesamt mindestens zehn Kläger jeweils einen zulässigen Musterfeststellungsantrag gestellt haben (ebenso LG Stuttgart, ZIP 2006, 1731, 1732 siehe dazu
  100. Sen.Beschl. v. 25. Februar 2008 - II ZB 9/07 z.V.b.; LG Berlin, Beschl. v.
  101. 28. November 2006 - 10a O 119/05, veröffentlicht im Klageregister; LG Frankfurt am Main, Verfügung v. 13. Februar 2007, unveröffentlicht; Reuschle, Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz 2005, S. 33; Schneider, BB 2005, 2249,
  102. 2252; D. Assmann in Festschrift Vollkommer, 2006, S. 119, 130; Gundermann/
  103. Härle, VuR 2006, 457, 458; Gängel/Gansel in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht
  104. 2. Aufl.
  105. §4
  106. KapMuG
  107. Rdn. 2;
  108. a.A.
  109. KG,
  110. Hinweisbeschl.
  111. v.
  112. 18. September 2007 - 4 SCH 2/06 KapMuG, veröffentlicht im Klageregister;
  113. Fullenkamp aaO § 4 Rdn. 11).
  114. 11
  115. Mit der Einführung des Musterverfahrens hat der Gesetzgeber die Möglichkeit schaffen wollen, in Verfahren, die Kapitalmarktinformationen oder Angebote nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz zum Gegenstand
  116. -6-
  117. haben und damit i.d.R. eine Vielzahl von Personen betreffen, verallgemeinerungsfähige Tatsachen- und Rechtsfragen in einem möglichst frühen Stadium
  118. mit Bindungswirkung für alle Verfahren zu klären und dadurch den Schutz der
  119. Kapitalanleger
  120. zu
  121. verbessern
  122. (Begr.
  123. zum
  124. Regierungsentwurf,
  125. BT-
  126. Drucks. 15/5091, S. 35 ff.; Sen.Beschl. v. 3. Dezember 2007 - II ZB 15/07,
  127. ZIP 2008, 137). Ein Bedürfnis für eine derartige Klärung besteht unabhängig
  128. davon, ob die Anleger jeweils gesondert Klage erhoben haben oder in einfacher
  129. Streitgenossenschaft klagen. Die Entscheidung für den einen oder anderen
  130. Weg hängt häufig von Zufälligkeiten ab. Eine subjektive Klagenhäufung in Anlegerschutzsachen ist - trotz der jeweils auf den Einzelfall abzustellenden Prüfung der Ursächlichkeit etwaiger fehlerhafter Kapitalmarktinformationen (vgl.
  131. Sen.Urt. v. 9. Mai 2005 - II ZR 287/02, ZIP 2005, 1270, 1274 - EM.TV) - zwar
  132. häufig, aber nicht stets unzweckmäßig. Letztlich nimmt dies auch das Beschwerdegericht an, indem es darauf hinweist, es stehe den Klägern frei, nach
  133. Zurückweisung ihres Musterfeststellungsantrags eine Prozesstrennung nach
  134. § 145 ZPO zu beantragen und dann, wenn die Prozesse getrennt sind, neue
  135. Musterfeststellungsanträge zu stellen. Damit fordert es unzutreffend die Einhaltung bestimmter Formalien, missachtet jedoch das berechtigte Interesse der
  136. Kläger, in Streitgenossenschaft zu klagen und sich damit Kostenvorteile zunutze zu machen.
  137. 12
  138. Die Systematik des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes steht diesem Auslegungsergebnis nicht entgegen. Allerdings werden nach § 2 Abs. 1
  139. KapMuG die Musterfeststellungsanträge im Klageregister öffentlich bekannt
  140. gemacht, ohne dass dabei Angaben zu der Person des jeweiligen Antragstellers zu machen sind. Das ist indessen nicht erforderlich, weil nach dem Wortlaut
  141. des § 2 Abs. 1 KapMuG und den allgemeinen Grundsätzen des Prozessrechts
  142. jeder zulässige Musterfeststellungsantrag gesondert einzutragen ist. Deshalb
  143. -7-
  144. kann - anders als das Beschwerdegericht meint - nicht die Gefahr entstehen,
  145. dass unklar bliebe, wie viele Personen derartige Anträge gestellt haben.
  146. 13
  147. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts muss bei dieser Auslegung ein Musterverfahren nicht notwendigerweise schon dann durchgeführt
  148. werden, wenn in einem einzigen (Gesamt-)Verfahren zehn Streitgenossen - im
  149. Übrigen zulässige - Musterfeststellungsanträge stellen. In einem solchen Fall
  150. können die Musterfeststellungsanträge vielmehr wegen Prozessverschleppung
  151. nach § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KapMuG zurückgewiesen werden, wenn die
  152. Durchführung eines Musterverfahrens zu einer unnötigen Verfahrensausweitung statt einer Verfahrensvereinfachung führen würde. Der Sinn des Musterverfahrens liegt nämlich darin, Massenverfahren zu vereinfachen, nicht dagegen Einzelverfahren unnötig zu verzögern.
  153. Goette
  154. Kurzwelly
  155. Reichart
  156. Strohn
  157. Drescher
  158. Vorinstanzen:
  159. LG Augsburg, Entscheidung vom 16.10.2006 - 1 O 4341/04 OLG München, Entscheidung vom 09.02.2007 - W (KAPMU) 1/06 -