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20 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. Urteil
  4. 4 StR 413/09
  5. vom
  6. 7. Januar 2010
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Amt
  10. -2-
  11. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung
  12. vom 17. Dezember 2009 in der Sitzung am 7. Januar 2010, an denen teilgenommen haben:
  13. Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
  14. Dr. Tepperwien,
  15. die Richter am Bundesgerichtshof
  16. Maatz,
  17. Athing,
  18. Dr. Ernemann,
  19. Dr. Mutzbauer,
  20. Staatsanwältin
  21. als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
  22. Rechtsanwalt
  23. als Verteidiger,
  24. Rechtsanwalt
  25. - in der Verhandlung -
  26. als Vertreter des Nebenklägers B.
  27. D.
  28. ,
  29. Rechtsanwältin
  30. als Vertreterin der Nebenklägerin M.
  31. D.
  32. Rechtsanwalt
  33. als Vertreter des Nebenklägers Ma.
  34. D.
  35. Justizangestellte
  36. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  37. für Recht erkannt:
  38. ,
  39. ,
  40. -3-
  41. 1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger wird das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau vom
  42. 8. Dezember 2008, soweit es den Angeklagten betrifft, mit den
  43. Feststellungen aufgehoben.
  44. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel,
  45. an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Magdeburg zurückverwiesen.
  46. Von Rechts wegen
  47. Gründe:
  48. Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf der Körperver-
  49. 1
  50. letzung mit Todesfolge im Amt zum Nachteil des in Sierra-Leone geborenen
  51. O.
  52. J.
  53. aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Mit ihren hiergegen ge-
  54. richteten Revisionen beanstanden die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger
  55. die Verletzung sachlichen Rechts. Die Nebenkläger beanstanden ferner das
  56. Verfahren. Die Rechtsmittel haben mit der Sachrüge Erfolg; einer Erörterung
  57. der Verfahrensrügen bedarf es deshalb nicht.
  58. -4-
  59. I.
  60. 1. Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage hatte
  61. 2
  62. dem Angeklagten zur Last gelegt, es als für den Gewahrsamsbereich des Polizeireviers D.
  63. verantwortlicher Dienstgruppenleiter unterlassen zu haben,
  64. sofort nach dem Ertönen des Alarmsignals des in der Gewahrsamszelle Nr. 5
  65. installierten Rauchmelders Rettungsmaßnahmen zugunsten des dort untergebrachten O.
  66. J.
  67. einzuleiten. Obwohl ihm bewusst gewesen sei, dass beim
  68. Ansprechen eines Rauchmelders stets vom Ausbruch eines Feuers auszugehen sei, habe er das Alarmsignal mehrfach abgestellt. Dabei habe er mögliche
  69. Verletzungen des in der Zelle mit Hand- und Fußfesseln auf einer Liege fixierten
  70. O.
  71. J.
  72. durch Rauch- und Feuereinwirkung billigend in Kauf genommen.
  73. Zwei Minuten und 21 Sekunden nach Ausbruch des Feuers habe auch der
  74. Rauchmelder der Lüfteranlage des Gewahrsamszellentraktes Alarm ausgelöst.
  75. Der Angeklagte habe erst, nachdem er von seiner Kollegin H.
  76. energisch
  77. aufgefordert worden sei, nach dem Rechten zu sehen, die Schlüssel ergriffen
  78. und sich auf den Weg zum Gewahrsamstrakt gemacht. Nach dem Öffnen der
  79. Zellentür sei es dem Angeklagten und anderen hinzugekommenen Polizeibeamten nicht mehr gelungen, das Leben O.
  80. J.
  81. s zu retten, der spätestens
  82. sechs Minuten nach Ausbruch des Feuers an den Folgen eines Hitzeschocks
  83. verstorben sei. Bei pflichtgemäßer, sofortiger Reaktion auf den ersten akustischen Alarm hätte der Angeklagte die Gewahrsamszelle Nr. 5 deutlich vor Ablauf von zwei Minuten nach Ausbruch des Feuers erreichen können, das Feuer
  84. mit Hilfe eines auf dem Weg zum Gewahrsamstrakt angebrachten Feuerlöschers löschen und das Leben O.
  85. 3
  86. J.
  87. s retten können.
  88. 2. Das Landgericht hat hierzu im Wesentlichen folgende Feststellungen
  89. getroffen:
  90. -5-
  91. Am frühen Morgen des 7. Januar 2005 wurde O.
  92. 4
  93. J.
  94. , der in stark
  95. angetrunkenem Zustand Frauen belästigt hatte, auf das Polizeirevier D.
  96. gebracht. Im Arztraum des Gewahrsamstrakts wurden ihm Fußfesseln angelegt, nachdem er mit Füßen nach den Polizeibeamten getreten und mehrfach
  97. versucht hatte, sich Verletzungen am Kopf zuzufügen. Ihm wurde von einem
  98. herbeigerufenen Arzt um 9.15 Uhr eine Blutprobe entnommen, deren spätere
  99. Untersuchung eine Blutkalkoholkonzentration von 2,98 ‰ ergab. Der Arzt erklärte O.
  100. J.
  101. für gewahrsamstauglich und empfahl dessen Fixierung, um
  102. zu verhindern, dass er sich selbst schädigt. Gegen 9.30 Uhr wurde O.
  103. J.
  104. in der Gewahrsamszelle Nr. 5 auf einer gefliesten und beheizten Liegefläche,
  105. auf der eine Matratze lag, an den hierfür vorgesehenen vier Halterungen fixiert.
  106. Trotz der Fixierung blieb eine gewisse Beweglichkeit seiner Extremitäten, seines Kopfes und des Körpers erhalten. In der Folgezeit wurde die Gewahrsamszelle viermal kontrolliert. Die letzte Kontrolle führten um 11.45 Uhr die Zeugin
  107. H.
  108. 5
  109. und ein weiterer Polizeibeamter durch.
  110. Danach gelang es O. J.
  111. , den Kunstlederbezug der Matratze zu öffnen
  112. und den als Füllung dienenden Schaumstoff, einen PUR-Weichschaum vom
  113. Typ Polyetherschaum, mit einem Einwegfeuerzeug, das entweder bei der vorangegangenen Durchsuchung übersehen worden war oder von ihm auf dem
  114. Weg in die Gewahrsamszelle an sich gebracht worden war, zu entzünden. Es
  115. entstand eine brennende Schmelze. Die Temperatur im Nahbereich der Flammen betrug etwa 800 Grad Celsius. Gegen 12.00 Uhr sprang im Dienstgruppenleiterbereich das Warnsignal des in der Zelle Nr. 5 installierten Ionisationsrauchmelders an. Dieser Rauchmelder löst, wie später durchgeführte Versuche
  116. ergeben haben, den Alarm spätestens 90 Sekunden nach der „Zündung“ aus.
  117. Der Angeklagte lief zu der nur wenige Schritte entfernten Bedienungsvorrichtung des Rauchmelders, wobei er mit den Gedanken an eine Fehlfunktion der
  118. Anlage, die es in der Vergangenheit gegeben hatte, äußerte: "Nicht schon wie-
  119. -6-
  120. der das Ding!". Er drückte die Resettaste und der Warnton verstummte. Anschließend meldete der Angeklagte den ausgelösten Alarm telefonisch seinem
  121. Vorgesetzten, dem Zeugen K.
  122. , und bat ihn, mit in den Gewahrsamstrakt zu
  123. gehen. Als der Angeklagte den nur wenige Schritte entfernt bereitliegenden
  124. Gewahrsamschlüsselbund ergriff, sprang der Warnton des Rauchmelders erneut an. Der Angeklagte schaltete den Alarm mit der dafür vorgesehenen Taste
  125. endgültig aus und rannte mit dem Gedanken an eine Fehlfunktion der Anlage
  126. oder auch an einen Feuchtigkeitsschaden in der Anlage in Richtung der Gewahrsamszellen. Nach wenigen Schritten kehrte er um und entnahm dem neben dem Eingang zum Dienstgruppenbereich hängenden Blechkasten den Fußfesselschlüssel. Anschließend rannte er erneut los und forderte auf dem Weg
  127. zu den Gewahrsamszellen einen Kollegen auf, ihm in den Gewahrsamsbereich
  128. zu folgen. Dieser beendete das von ihm geführte Telefongespräch und folgte
  129. dem Angeklagten, der sogleich weitergelaufen war. Als der Angeklagte die Tür
  130. der Gewahrsamszelle Nr. 5 erreichte, trat an deren seitlichen Spalten, bereits
  131. Qualm aus. Nach dem Öffnen der Tür schlug dem Angeklagten und seinem
  132. Kollegen beißender schwarzer Qualm entgegen. Der Angeklagte rief seinem
  133. Kollegen zu, dass er Hilfe hole, und benachrichtigte weitere Kollegen. Der Versuch des zurückgebliebenen Kollegen, das Feuer mittels einer herbeigeholten
  134. Decke zu ersticken, und die Rettungsversuche der hinzugekommenen Kollegen
  135. scheiterten. O.
  136. J.
  137. war zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeit-
  138. punkt innerhalb der ersten zwei Minuten nach Ausbruch des Brandes nach dem
  139. Einatmen der etwa 800 Grad Celsius heißen Gase an einem Inhalationshitzeschock gestorben.
  140. 6
  141. 3. Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Soweit ihm eine Körperverletzung mit Todesfolge im Amt zur Last
  142. gelegt worden sei, sei nicht erwiesen, dass er mit - zumindest bedingtem - Körperverletzungsvorsatz gehandelt habe. Der Angeklagte habe nicht damit ge-
  143. -7-
  144. rechnet, dass O.
  145. J.
  146. körperlichen Schaden erleiden würde. Zudem habe
  147. er dies weder gewollt noch billigend in Kauf genommen. Aus den getroffenen
  148. Feststellungen ergebe sich vielmehr, dass sich der Angeklagte bemüht habe,
  149. schnell in den Gewahrsamsbereich zu gelangen.
  150. Eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung sei ebenfalls nicht gegeben.
  151. 7
  152. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der eingetretene Todeserfolg
  153. objektiv vermeidbar gewesen wäre. Nach den zutreffenden Ausführungen der
  154. gerichtsmedizinischen Sachverständigen spreche eine größere Wahrscheinlichkeit dafür, dass O.
  155. J.
  156. bereits innerhalb von zwei Minuten nach Ausbruch
  157. des Feuers verstorben sei. Der Angeklagte hätte die Zelle aber auch dann erst
  158. nach mehr als zwei Minuten erreichen können, wenn er sogleich nach dem Ertönen des Signals des Rauchmelders zu der Gewahrsamszelle gelaufen wäre.
  159. Der
  160. Angeklagte
  161. habe
  162. im
  163. Übrigen
  164. nach
  165. dem
  166. Anspringen
  167. des
  168. Alarms nicht pflichtwidrig gehandelt.
  169. II.
  170. 8
  171. Der Freispruch des Angeklagten hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung
  172. nicht stand.
  173. 9
  174. Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an dessen
  175. Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht
  176. in der Regel hinzunehmen. Dieses hat insoweit nur zu beurteilen, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der
  177. Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die
  178. zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt
  179. worden sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03,
  180. NStZ-RR 2004, 238 f.; Senat, Urteil vom 24. Juni 2004 - 4 StR 15/04, wistra
  181. -8-
  182. 2004, 432, jew. m. w. N.). Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter
  183. solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten
  184. des
  185. Angeklagten
  186. zu
  187. beeinflussen,
  188. erkannt
  189. und
  190. in
  191. seine
  192. Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH, Urteil vom 14. August 1996 - 3 StR
  193. 183/96, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 11). Diesen Grundsätzen wird die
  194. Beweiswürdigung des Landgerichts nicht gerecht.
  195. 10
  196. 1. Im Ansatz zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass
  197. ein (pflichtwidriges) Unterlassen des Angeklagten für den konkreten Todeseintritt nur dann ursächlich geworden wäre, wenn der Tod O.
  198. J.
  199. s, so wie er
  200. konkret eingetreten ist, durch ein sofortiges und sachgerechtes Eingreifen des
  201. Angeklagten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Juni 2002 - 4 StR 51/02, NStZ-RR
  202. 2002, 303 m. N.). Das Landgericht hat dies aber nicht rechtsfehlerfrei verneint.
  203. Vielmehr erweist sich die der Annahme, der Angeklagte habe auch bei sofortiger Reaktion die Gewahrsamszelle nicht rechtzeitig erreichen können, zugrunde liegende Beweiswürdigung in mehrfacher Hinsicht als lückenhaft:
  204. 11
  205. a) Durchgreifenden Bedenken begegnet insbesondere die Annahme des
  206. Landgerichts, dass der Angeklagte erstmals durch das Alarmsignal auf die Notlage O.
  207. J.
  208. s aufmerksam werden und mit Rettungsbemühungen beginnen
  209. konnte. Nach den Feststellungen war die Wechselsprechanlage, durch die der
  210. Dienstgruppenleiterbereich mit der Gewahrsamszelle verbunden war, bereits
  211. vor der letzten Kontrolle der Zelle auf Empfang geschaltet worden. Zwar hatte
  212. der Angeklagte, der sich durch „das laute Rufen“ O.
  213. J.
  214. s bei einem Tele-
  215. fonat gestört fühlte, die Anlage leiser gestellt, aber nur für kurze Zeit. Dass der
  216. Angeklagte, nach dessen Einlassung ein „Rumschreien“ zu hören war, gleichwohl nicht schon vor dem Alarmsignal aufgrund der ihm möglichen akustischen
  217. Wahrnehmungen, insbesondere durch Schmerzensschreie, früher auf das Ge-
  218. -9-
  219. schehen in der Zelle hätte aufmerksam werden können und die sich anbahnende Gefahr hätte erkennen müssen, ist nach den bisherigen Urteilsausführungen
  220. für den Senat aus folgenden Gründen nicht nachvollziehbar:
  221. Nach den insoweit revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststel-
  222. 12
  223. lungen hat O.
  224. J.
  225. den bei seiner Einlieferung unversehrten und, wie sich
  226. dem Gesamtzusammenhang entnehmen lässt, schwer entflammbaren Kunstlederbezug geöffnet und die Matzratzenfüllung mit einem Einweggasfeuerzeug
  227. angezündet. Dieses Feuerzeug kann von dem früheren Mitangeklagten M.
  228. bei der Durchsuchung O.
  229. von O.
  230. J.
  231. J.
  232. s übersehen worden oder diesem Beamten
  233. beim Transport in die Zelle entwendet worden sein. Das Land-
  234. gericht hat sich aufgrund der Bekundungen des Zeugen F.
  235. und durch In-
  236. augenscheinnahme der Videoaufzeichnung, die bei der von diesem Zeugen
  237. durchgeführten Rekonstruktion gefertigt wurde, davon überzeugt, dass O.
  238. J.
  239. mit der Hand, die mittels einer Handschelle an der Halterung an der
  240. Wand fixiert war, das Feuerzeug aus seiner Hose oder Unterhose herausholen
  241. und mit dieser Hand an den Rand der Matratze und die dort befindliche Naht
  242. fassen konnte.
  243. Dieser im Ermittlungsverfahren durchgeführten Rekonstruktion lag er-
  244. 13
  245. sichtlich die Annahme zugrunde, dass die Naht der Matratze geöffnet werden
  246. musste, um den Schaumstoff anzünden zu können. Hiervon ging zunächst auch
  247. das Landgericht aus. Aufgrund der Bekundungen des Zeugen F.
  248. zu einem
  249. während des Laufs der Hauptverhandlung durchgeführten weiteren Versuch
  250. und der Inaugenscheinnahme des hierbei aufgenommenen Films hat sich das
  251. Landgericht aber davon überzeugt, dass der Kunststofflederbezug von O.
  252. J.
  253. aufgerissen wurde, nachdem dieser ihn mittels des Feuerzeugs erhitzt
  254. hatte. Bei einer so geschaffenen Öffnung wäre der zu entzündende Schaumstoff, im Unterschied zu einer Zündung durch die geöffnete Naht hindurch, vor
  255. - 10 -
  256. der Zündung regelrecht freigelegt worden, so dass schnell ein Vollbrand entstehen konnte.
  257. Insoweit ist das Urteil jedoch lückenhaft. Es enthält weder eine hinrei-
  258. 14
  259. chende Darstellung dieses Versuchs, noch verweist es auf Lichtbilder. Ihm lässt
  260. sich schon nicht entnehmen, ob die Situation nachgestellt worden ist, in der sich
  261. O.
  262. J.
  263. bei der Brandlegung befand. So bleibt offen, ob der Bewegungspiel-
  264. raum seiner an der Wand fixierten Hand ausreichte, um den Matratzenbezug
  265. "anzuschmoren" und in dem zum Anzünden des Schaumstoffs erforderlichen
  266. Umfang zu öffnen. Insbesondere fehlen Angaben dazu, ob es möglich war, den
  267. Matratzenbezug ohne erhebliche schmerzhafte Verletzungen an der Hand mit
  268. dem Einwegfeuerzeug zu erhitzen. Hiermit hätte sich das Landgericht schon
  269. deshalb auseinandersetzen müssen, weil es nahe liegt, dass ein Mensch, der in
  270. einer Zelle einen Brand legt, um die Lösung seiner Fesseln zu erreichen, sich
  271. frühzeitig durch Rufen bemerkbar macht und Schmerzenslaute von sich gibt,
  272. wenn er beim Legen eines Brandes Verbrennungen erleidet. Hat aber O.
  273. J.
  274. bereits vor dem Anzünden des freigelegten Schaumstoffs durch Rufe
  275. und/oder Schmerzenslaute auf seine Situation aufmerksam gemacht, stellt sich
  276. die Frage nach einer Rettungsmöglichkeit neu. Denn dann hätte der Angeklagte
  277. bereits vor dem Alarmsignal des Rauchmelders erkennen können und müssen,
  278. dass ein sofortiges Eingreifen zur Abwendung einer möglichen Gefahr für Leib
  279. und Leben O.
  280. 15
  281. J.
  282. s geboten war.
  283. b) Aber auch wenn man mit dem Landgericht davon ausgeht, dass über
  284. die Wechselsprechanlage weder Schmerzenslaute noch sonstige Hinweise auf
  285. eine Gefahrensituation zu vernehmen waren, bleiben Unklarheiten hinsichtlich
  286. der nach dem Ansprechen des Ionisationsmelders für eine Rettung verbleibenden Zeit.
  287. - 11 -
  288. 16
  289. Das Landgericht ist, was für sich genommen nicht zu beanstanden ist,
  290. den Gutachten der rechtsmedizinischen Sachverständigen folgend davon ausgegangen, dass der Tod mit hoher Wahrscheinlichkeit schon innerhalb von zwei
  291. Minuten „nach Ausbruch des Brandes“ infolge eines Inhalationshitzeschocks
  292. eingetreten ist. Die rechtsmedizinischen Sachverständigen stellten dabei ersichtlich auf einen „Vollbrand“ von Teilen der Schaumstofffüllung der Matratze
  293. ab, bei dem Temperaturen von 800 Grad Celsius herrschen, so dass schon
  294. zwei Atemzüge zu einem tödlichen Inhalationshitzeschock führen können. Das
  295. Landgericht ist ferner auf der Grundlage der von dem Brandsachverständigen
  296. durch drei im Mai 2006 durchgeführte Versuche ermittelten Ansprechzeiten des
  297. in der Zelle installierten Ionisationsrauchmelders davon ausgegangen, dass
  298. dieser spätestens 90 Sekunden nach der „Zündung“ ausgelöst worden ist. Danach könnte der Tod nach dem Zweifelsgrundsatz bereits vor der Auslösung
  299. des Alarmsignals eingetreten sein. Dies setzt jedoch voraus, dass der Brandsachverständige, der von „Zündung“ gesprochen hat, bei der Messung der Ansprechzeiten auf dieselbe Situation abgestellt hat, wie die rechtsmedizinischen
  300. Sachverständigen. Ob dies der Fall war, lässt sich aber den auch insoweit lückenhaften Urteilsausführungen nicht entnehmen, weil die Bedingungen nicht
  301. mitgeteilt werden, unter denen diese Versuche, insbesondere aber der Versuch
  302. im Januar 2005, bei dem die Ansprechzeit des Rauchmelders in der Lüftungsanlage ermittelt wurde, durchgefürt wurden.
  303. 17
  304. Danach bleibt offen, ob mit der Messung der Ansprechzeiten der
  305. Rauchmelder begonnen wurde, als eine Gasflamme an den bereits freiliegenden Schaumstoff gehalten wurde, oder erst, als dies zu einem Vollbrand des
  306. Schaumstoffs geführt hatte. Nach den Urteilsausführungen basierte „auch“ der
  307. am 23. Juni 2008 ausgeführte Versuch, bei dem im Bereich der Flammen eine
  308. Temperatur von 800 Grad Celsius herrschte, „nur“ auf einer Zündung an der
  309. geöffneten Naht. Erforderlich wäre gewesen, bei der Ermittlung der Ansprech-
  310. - 12 -
  311. zeiten der Rauchmelder die Situation, in der O.
  312. J.
  313. den Brand gelegt hat,
  314. unter Berücksichtigung auch der Möglichkeit, dass er den Matratzenbezug zunächst "angeschmort" hat, insgesamt nachzustellen. Dass dies geschehen wäre, teilt das Urteil nicht mit. Auch fehlen Ausführungen dazu, ob der Ionisationsrauchmelder schon durch beim Anschmoren des Kunststofflederbezuges freigesetzte Rußpartikel ausgelöst worden sein kann.
  315. 18
  316. c) Nicht nachvollziehbar ist die Beweiswürdigung auch, soweit das Landgericht festgestellt hat, dass der Angeklagte sich sogleich nach dem endgültigen Abschalten des Alarmsignals, das zehn Sekunden nach dem Drücken der
  317. Resettaste erneut ertönt war, auf den Weg zur Gewahrsamszelle gemacht hat.
  318. Es widerspricht schon der Lebenserfahrung, dass der Angeklagte die von ihm
  319. und der Zeugin H.
  320. beschriebenen vielfältigen Aktivitäten, einschließlich
  321. des Telefonats mit seinem Dienstvorgesetzten, innerhalb dieser kurzen Zeitspanne bewältigt haben kann. Vor diesem Hintergrund wird sich der neue Tatrichter bei der Zeugin H.
  322. , die den Angeklagten in ihrer ersten polizeilichen
  323. Vernehmung deutlich stärker belastet hatte, mit der Aussageentwicklung befassen müssen. Dabei wird nicht nur ein möglicher Gruppendruck im Kollegenkreis, sondern auch ein im Verlauf der Ermittlungen entstandenes Interesse,
  324. sich selbst zu entlasten, in den Blick zu nehmen sein. Die Frage der Kausalität
  325. zwischen dem Verhalten des Angeklagten und dem Tod O.
  326. J.
  327. s wird da-
  328. her erneut zu überprüfen sei.
  329. 19
  330. 2. Bedenken begegnen auch die Ausführungen zum pflichtgemäßen
  331. Verhalten.
  332. 20
  333. Löst der in einer Gewahrsamszelle installierte Brandmelder Alarm aus,
  334. weist das auf eine unmittelbar drohende Gefahr für Leib und Leben einer in einer verschlossenen und verriegelten Zelle (vgl. Nr. 29. 1 Polizeigewahrsams-
  335. - 13 -
  336. ordnung - RdErl. des MI vom 28. Februar 2006 – 21.11-12340/110, MBl. LSA
  337. 2006, 137) verwahrten Person hin. In einem solchen Fall sind unverzüglich, das
  338. heißt ohne schuldhaftes Zögern, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen
  339. Maßnahmen zu ergreifen. Dies gilt umso mehr, wenn – wie hier - zur Verhinderung einer drohenden Selbstschädigung die Fesselung (vgl. § 64 Nr. 3 SOG
  340. LSA) angeordnet und eine berauschte Person an Händen und Füßen angekettet in Rückenlage fixiert worden ist. Hieran ändert auch die Möglichkeit eines
  341. Fehlalarms nichts. Nur wenn die im Fall eines Brandes erforderlichen Maßnahmen unverzüglich ergriffen werden, ist sichergestellt, dass sofort mit der Rettung der verwahrten Person begonnen werden kann.
  342. Dem Angeklagten waren die Umstände bekannt, unter denen es zur In-
  343. 21
  344. gewahrsamnahme O.
  345. J.
  346. s gekommen war. Insbesondere wusste er auch,
  347. auf welche Weise dieser in der Gewahrsamszelle fixiert worden war. Der Angeklagte hätte erkennen können und müssen, dass O.
  348. J.
  349. im Falle eines
  350. Brandes in besonderem Maße gefährdet war. Unbeschadet der Frage, ob O.
  351. J.
  352. wegen seines Zustands nicht ohnehin nach Nr. 12. 7 Polizeigewahr-
  353. samsordnung nur unter ständiger Aufsicht zweier Beamter hätte untergebracht
  354. werden dürfen, hätte er deshalb unter Mitnahme des Gewahrsamsschlüsselbundes und der Fußfesselschlüssel sofort zur Gewahrsamszelle eilen müssen.
  355. - 14 -
  356. Alles weitere, insbesondere die telefonische Benachrichtigung des Dienststellenleiters und - was sinnvoll gewesen wäre - weiterer der sich in der Dienststelle
  357. aufhaltenden Kollegen, sowie das Abschalten des Alarmsignals, hätte seine
  358. Kollegin übernehmen können.
  359. Tepperwien
  360. Maatz
  361. Ernemann
  362. Athing
  363. Mutzbauer