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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 3 StR 345/05
  4. vom
  5. 3. November 2005
  6. Nachschlagewerk: ja
  7. BGHSt:
  8. nein
  9. Veröffentlichung: ja
  10. __________________
  11. StPO § 275 a Abs. 1
  12. Zur Rücknahme eines Antrags auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung sowie zu den Mindestanforderungen an einen solchen Antrag.
  13. BGH, Beschl. vom 3. November 2005 - 3 StR 345/05 - LG Hannover
  14. in der Strafsache
  15. gegen
  16. wegen
  17. schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.;
  18. hier: Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
  19. -2-
  20. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 3. November 2005 beschlossen:
  21. Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft gegen die
  22. Entscheidung des Landgerichts Hannover vom 26. April 2005 und
  23. die dem Verurteilten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
  24. Gründe:
  25. 1
  26. Der Verurteilte verbüßt derzeit eine vierjährige Gesamtfreiheitsstrafe aus
  27. einem Urteil des Landgerichts Hannover wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen und wegen Körperverletzung. Das Strafende
  28. ist für den 21. November 2005 notiert. Die Staatsanwaltschaft hat beantragt,
  29. "vorbehaltlich des Ergebnisses der einzuholenden Gutachten" die nachträgliche
  30. Sicherungsverwahrung anzuordnen. In einem nach Antragstellung erstatteten
  31. Bericht hat die Justizvollzugsanstalt mitgeteilt, der 43 Jahre alte, zuvor unbestrafte Erstverbüßer habe ein beanstandungsfreies Vollzugsverhalten gezeigt
  32. und sich um die Aufarbeitung seiner Sexualstraftat im Rahmen der therapeutischen Ambulanz bemüht.
  33. 2
  34. Durch Beschluss vom 26. April 2005 hat das Landgericht die Anordnung
  35. der nachträglichen Sicherungsverwahrung abgelehnt, weil keine neuen Tatsachen erkennbar geworden seien, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des
  36. Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen würden.
  37. 3
  38. Gegen die Ablehnung ihres Antrags hat die Staatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt. Das Oberlandesgericht Celle hat sich zu einer Entschei-
  39. -3-
  40. dung darüber als nicht berufen angesehen, weil über einen Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung nur aufgrund einer Hauptverhandlung entschieden werden könne und der Beschluss des Landgerichts deshalb als ein
  41. Urteil anzusehen sei. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel als
  42. Revision weiterverfolgt und die Sache über den Generalbundesanwalt dem Senat vorgelegt. Im Hinblick darauf, dass das Rechtsmittel nicht innerhalb einer
  43. Woche nach Zustellung beim Landgericht eingegangen war, hat sie zugleich
  44. einen Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt. Zur Begründung hat sie unter Hinweis auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 13. Januar 2005
  45. (NStZ-RR 2005, 109) vorgetragen, sie habe jedenfalls bis zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 1. Juli 2005 (NJW 2005, 3079; zur Veröffentlichung in
  46. BGHSt vorgesehen) die Beschwerde als das zulässige Rechtsmittel ansehen
  47. können und deshalb die Frist zur Einlegung der Revision unverschuldet versäumt. Nach Eingang der Vorgänge beim Senat hat die Staatsanwaltschaft
  48. "den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b StGB" zurückgenommen.
  49. 4
  50. 1. Der Senat muss über den Wiedereinsetzungsantrag nicht mehr entscheiden, weil das Verfahren auf andere Weise beendet ist.
  51. 5
  52. a) Die Beendigung des Verfahrens ist allerdings nicht dadurch eingetreten, dass die Staatsanwaltschaft ihren Antrag zurückgenommen hat.
  53. 6
  54. Die Frage, ob, unter welchen Voraussetzungen und bis zu welchem
  55. Fortgang des Verfahrens eine Rücknahme des Antrags auf Anordnung der
  56. nachträglichen Sicherungsverwahrung rechtlich möglich ist, war - soweit ersichtlich - noch nicht Gegenstand veröffentlichter Gerichtsentscheidungen.
  57. -4-
  58. 7
  59. aa) Nach Auffassung des Senats stehen der Annahme, die Staatsanwaltschaft könne einen solchen Antrag zurücknehmen, keine grundsätzlichen
  60. Bedenken entgegen. Für diese Annahme sprechen Gesichtspunkte der Verfahrensökonomie und allgemeine Prozessgrundsätze. Auch sonst können die Verfahrensbeteiligten und insbesondere die Staatsanwaltschaft Anträge und Prozesshandlungen zurücknehmen. Ausnahmen und Beschränkungen gelten nur,
  61. wenn und soweit sie gesetzlich angeordnet sind, so etwa für die Rücknahme
  62. der Anklage, die regelmäßig nur bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens möglich
  63. ist (§ 156 StPO; vgl. § 153 c Abs. 4, § 153 d Abs. 2 StPO), oder etwa für die
  64. Rücknahme eines Rechtsmittels, die - abhängig vom Stand des Verfahrens - zur Wirksamkeit der Zustimmung eines anderen Verfahrensbeteiligten
  65. bedarf (vgl. § 302 Abs. 1 Satz 2, § 303 StPO), oder für die Rücknahme des
  66. Strafbefehlsantrags (vgl. § 411 Abs. 3 StPO).
  67. 8
  68. Solche Ausnahmen oder Beschränkungen sieht das Gesetz in § 275 a
  69. Abs. 1 StPO für die Rücknahme eines Antrags der Staatsanwaltschaft auf
  70. Durchführung des gerichtlichen Verfahrens zur Anordnung der nachträglichen
  71. Sicherungsverwahrung nicht vor. Ein Vergleich mit anderen Verfahrensnormen,
  72. insbesondere mit § 156 StPO, der die Rücknahme der Anklage nur zulässt, bis
  73. das Gericht das Hauptverfahren eröffnet hat, spricht sogar gegen eine Beschränkung der Rücknahmemöglichkeit: Ein Zwischenverfahren, in dem das
  74. Gericht - wie dies bezüglich der Anklage in §§ 201 ff. StPO geregelt ist - über
  75. die Zulassung des Antrags zur Hauptverhandlung entscheiden könnte, ist nicht
  76. vorgesehen. Vielmehr schließt sich dem Eingang des staatsanwaltschaftlichen
  77. Antrags unmittelbar die gerichtliche Vorbereitung der Hauptverhandlung an (vgl.
  78. § 275 a Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 StPO). Sollte das Gericht dabei feststellen, dass
  79. der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht mehr zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen (wie insbesondere das Fehlen formeller
  80. -5-
  81. Voraussetzungen, etwa einer der von § 66 b Abs. 1 oder 2 StGB bzw. § 66
  82. Abs. 3 StGB vorausgesetzten Katalogtaten, einer Vorverurteilung oder einer
  83. Vorverbüßung), dann erscheint es unter verfahrensökonomischen Gesichtspunkten zwingend, dass die Staatsanwaltschaft nach einem entsprechenden
  84. gerichtlichen Hinweis das Verfahren durch Rücknahme des Antrags zum Abschluss bringen kann, zumal Interessen des Verurteilten nicht entgegen stehen.
  85. Dies gilt umso mehr, als eine Beendigung des Verfahrens durch Beschluss, wie
  86. sie zur Vermeidung unnötigen Verfahrensaufwands zweckmäßig sein könnte
  87. (was auch dem Landgericht vor Augen gestanden haben mag), aufgrund der
  88. eindeutigen gesetzgeberischen Entscheidung ausgeschlossen ist.
  89. 9
  90. Nimmt die Staatsanwaltschaft ihren Antrag trotz gerichtlicher Bedenken
  91. nicht zurück, muss eine Hauptverhandlung durchgeführt und durch Urteil entschieden werden, selbst wenn - was allerdings kaum denkbar erscheint - der
  92. Mangel an einer formellen Voraussetzung für die Anordnung der Maßregel evident ist. Um den zeitlichen und materiellen Aufwand für das Verfahren gering zu
  93. halten, ist es in einem solchen Fall denkbar, die Hauptverhandlung durchzuführen, ohne vorher Sachverständigengutachten einzuholen.
  94. 10
  95. bb) Hinsichtlich der Frage, bis zu welchem Stadium des Verfahrens und
  96. unter welchen Voraussetzungen die Staatsanwaltschaft ihren Antrag noch zurücknehmen kann, könnte nach Auffassung des Senats eine sachgerechte
  97. Antwort dahin gehen, eine Rücknahme bis zur Entscheidung des Gerichts zu
  98. ermöglichen, sie nach Beginn der Hauptverhandlung aber von der Zustimmung
  99. des Verurteilten abhängig zu machen. Eine solche Regelung, wie sie - freilich
  100. für eine andere Verfahrensgestaltung - in § 411 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. § 303
  101. StPO getroffen ist, würde nicht nur das Verfahren beschleunigen, was sowohl
  102. die Rechtspflege als auch den Verurteilten entlastet; durch sie würde auch dem
  103. -6-
  104. daneben bestehenden Interesse des Verurteilten an einer endgültigen Entscheidung über die Maßregel ausreichend Rechnung tragen: Da die Rücknahme des Antrags keinen unbedingten Schutz gegen eine erneute Antragstellung
  105. auf unveränderter Tatsachengrundlage bietet, kann der Verurteilte, sobald die
  106. Hauptverhandlung begonnen hat, durch die Verweigerung seiner Zustimmung
  107. zur Antragsrücknahme dafür sorgen, dass das Verfahren mit einem den Antrag
  108. ablehnenden und nach Rechtskraft eine neue Antragstellung auf gleicher Basis
  109. verhindernden Urteil abgeschlossen wird.
  110. 11
  111. Der Senat muss diese Frage indes nicht abschließend entscheiden, weil
  112. die Staatsanwaltschaft hier ihren Antrag nicht mehr wirksam zurücknehmen
  113. kann, nachdem das Landgericht über ihn entschieden hat. Von da an besteht
  114. für die Staatsanwaltschaft nur noch die Wahl, die Entscheidung rechtskräftig
  115. werden zu lassen oder ein Rechtsmittel einzulegen.
  116. 12
  117. b) Das Verfahren ist hier indes dadurch zum Abschluss gekommen, dass
  118. die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel zurückgenommen hat.
  119. 13
  120. Dies ergibt eine Auslegung der Erklärung der Beschwerdeführerin. Die
  121. Staatsanwaltschaft erstrebt nicht länger die Unterbringung des Verurteilten in
  122. der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Das zeigt sich nicht nur in der inzwischen erklärten Rücknahme ihres Antrags, sondern auch darin, dass sie im
  123. Rechtsmittelverfahren nur den formellen Aspekt der gesetzeswidrigen Entscheidungsweise beanstandet und sich nicht gegen die Ansicht des Landgerichts gewandt hat, es fehle an neuen Tatsachen i. S. v. § 66 b Abs. 1 StGB. Ihr
  124. Ziel, das Verfahren zu beenden, kann die Staatsanwaltschaft jetzt nur noch
  125. durch die Rücknahme der Revision gegen die Entscheidung des Landgerichts
  126. erreichen. Eine solche Rücknahme ist möglich. Sie wird insbesondere nicht da-
  127. -7-
  128. durch gehindert, dass das Rechtsmittel - bei Erfolglosigkeit des Wiedereinsetzungsantrags - wegen Versäumung der Einlegungsfrist als unzulässig verworfen werden müsste. Die Zustimmung des Verurteilten zur Rücknahme ist nicht
  129. erforderlich, da eine Hauptverhandlung noch nicht begonnen hat (vgl. § 303
  130. StPO).
  131. 14
  132. 2. Nach Rücknahme des Rechtsmittels war nur noch die aus § 473
  133. Abs. 1 und 2 StPO folgende Kostenentscheidung zu treffen.
  134. 15
  135. 3. Der Verfahrensablauf gibt angesichts der teilweise noch ungeklärten
  136. Fragen im Zusammenhang mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung Anlass zu folgenden Bemerkungen:
  137. 16
  138. a) Die Staatsanwaltschaft kann den nach § 275 a Abs. 1 StPO erforderlichen Antrag erst stellen, nachdem sie in einem Vorprüfungsverfahren zu dem
  139. Ergebnis gekommen ist, dass die formellen Voraussetzungen der Maßregel
  140. (vgl. im Einzelnen § 66 b i. V. m. § 66 StGB) vorliegen. Zu ihnen gehört insbesondere, dass neue Tatsachen (Nova) erkennbar sind, die auf eine erhebliche
  141. Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. Nur wenn in einem ersten Schritt das Vorliegen neuer Faktoren festgestellt worden ist, besteht
  142. ein sachlicher Grund für die Einleitung des Verfahrens nach § 275 a StPO (vgl.
  143. OLG Koblenz StV 2004, 665, 668).
  144. 17
  145. b) Der Antrag der Staatsanwaltschaft darf sich nicht in der pauschalen
  146. Behauptung, die formellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung lägen vor, erschöpfen. Zwar nennt das Gesetz keine Einzelheiten,
  147. die der Antrag enthalten muss. Dieser ist aber, insoweit vergleichbar mit einer
  148. Anklageschrift im Strafverfahren, die Grundlage für das gerichtliche Nachver-
  149. -8-
  150. fahren, in dem es um die Anordnung einer einschneidenden, die im Ursprungsverfahren verhängte Sanktion regelmäßig übertreffenden Maßregel geht. Er
  151. muss deshalb die Entschließung der Staatsanwaltschaft nachvollziehbar machen und die formellen Voraussetzungen der von der Staatsanwaltschaft jeweils für gegeben erachteten Variante des § 66 b StGB im Einzelnen darlegen
  152. (vgl. OLG Rostock StV 2005, 279, 281). Dabei kommt für Anträge nach § 66 b
  153. Abs. 1 und 2 StGB der Darstellung der Nova hinsichtlich ihrer Erkennbarkeit
  154. und ihrer Aussagekraft für die Gefährlichkeit des Verurteilten besondere Bedeutung zu. Der Antrag muss die Behauptung enthalten, dass nach vorläufiger Einschätzung der Staatsanwaltschaft die materiellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung im weiteren Verfahren festgestellt werden,
  155. also eine unter sachverständiger Hilfestellung (§ 275 a Abs. 4 Satz 2
  156. -9-
  157. StPO) erfolgende Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs dessen besondere Gefährlichkeit (hohe Wahrscheinlichkeit erheblicher Straftaten) ergeben wird.
  158. Tolksdorf
  159. Miebach
  160. von Lienen
  161. Pfister
  162. Hubert