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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 2 StR 82/04
  5. vom
  6. 30. Juni 2004
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen fahrlässiger Tötung
  10. -2-
  11. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung
  12. vom 23. Juni 2004 in der Sitzung am 30. Juni 2004, an denen teilgenommen
  13. haben:
  14. Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
  15. Dr. Rissing-van Saan,
  16. die Richterin am Bundesgerichtshof
  17. Dr. Otten,
  18. die Richter am Bundesgerichtshof
  19. Rothfuß,
  20. Prof. Dr. Fischer,
  21. die Richterin am Bundesgerichtshof
  22. Roggenbuck
  23. als beisitzende Richter,
  24. Bundesanwalt
  25. und
  26. Staatsanwalt
  27. in der Verhandlung,
  28. Bundesanwalt
  29. bei der Verkündung
  30. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  31. als Nebenkläger,
  32. - nur in der Verhandlung Rechtsanwalt
  33. als Vertreter des Nebenklägers
  34. - nur in der Verhandlung -
  35. ,
  36. Justizangestellte
  37. in der Verhandlung,
  38. Justizangestellte
  39. bei der Verkündung
  40. als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,
  41. -3-
  42. für Recht erkannt:
  43. Die Revisionen der Nebenkläger und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 9. Oktober
  44. 2003 werden verworfen.
  45. Die Nebenkläger haben die Kosten ihrer Rechtsmittel und die
  46. dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen
  47. zu tragen. Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft
  48. und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen
  49. Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
  50. Von Rechts wegen
  51. Gründe:
  52. I.
  53. Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Dagegen richten sich die auf Verfahrensrügen und auf die
  54. Sachrüge gestützten Revisionen der Nebenkläger und die mit der Sachrüge
  55. begründete Revision der Staatsanwaltschaft.
  56. Nach den Feststellungen hielt sich der später getötete
  57. am Abend des 27. Juli 2002 im Klubhaus in N.
  58. B.
  59. auf. Im Verlauf des
  60. Abends nahm er Alkohol und Kokain zu sich, wobei ihm der Alkoholkonsum
  61. äußerlich so gut wie nicht anzumerken war.
  62. B.
  63. verließ das Klub-
  64. -4-
  65. haus am frühen Morgen des 28. Juli 2002 gemeinsam mit
  66. Ecke "T.
  67. straße/A.
  68. M.
  69. . An der
  70. " warfen sie Geld in einen Zigarettenauto-
  71. maten, der jedoch keine Zigaretten ausgab. Verärgert schlugen beide jeweils
  72. mit einer lose herumliegenden Gehwegplatte auf den Automaten ein. Wegen
  73. des dadurch entstandenen Lärms riefen unabhängig voneinander zwei Zeugen
  74. um 4.27 Uhr bei der Polizei an und meldeten, daß Personen dabei seien, einen
  75. Automaten aufzubrechen.
  76. Der Angeklagte, Polizeiobermeister bei der Polizeiinspektion N.
  77. und die Polizeiobermeisterin L.
  78. fenwagen zum Tatort geschickt.
  79. ,
  80. wurden daraufhin mit ihrem StreiB.
  81. und
  82. M.
  83. versuchten,
  84. sich hinter einem Bierwagen zu verstecken. Der Angeklagte und POM L.
  85. näherten sich dem Bierwagen von der anderen Seite, wobei POM L.
  86. laut rief "Halt, stehenbleiben, Polizei!". Während
  87. Bierwagen von POM L.
  88. B.
  89. M.
  90. hinter dem
  91. festgenommen wurde, entwand sich
  92. dem Griff des Angeklagten und schlug in Kopfhöhe auf ihn ein. Der
  93. Angeklagte wich wegen der Schläge etwas zurück und forderte
  94. auf, sich hinzulegen.
  95. B.
  96. B.
  97. lief indes über eine Terrasse zwischen
  98. Tischen und Stühlen in Richtung T.
  99. straße davon, wobei er an einem der
  100. angeketteten Stühle zerrte. Der Angeklagte glaubte, B.
  101. wolle mit dem
  102. Stuhl gegen ihn vorgehen und zog sein Pfefferspray aus dem Koppel.
  103. B.
  104. fragte, "Willst Du mich erschießen?". Wegen des Abstandes und der
  105. Bewegung, in der sich beide befanden, hatte das eingesetzte Pfefferspray keine nennenswerte Wirkung.
  106. Am Ende der Terrasse lagerte eine Palette Pflastersteine, links daneben
  107. lag ein ungeordneter Haufen dieser Pflastersteine mit einem Gewicht von jeweils etwa 3 Kilogramm.
  108. B.
  109. nahm mindestens einen dieser Steine
  110. -5-
  111. auf und warf ihn in Richtung des Kopfes des Angeklagten, der ihm in einer Entfernung von drei bis vier Metern gegenüberstand. Aufgrund dieses Wurfes zog
  112. der Angeklagte seine Dienstwaffe und führte sie nach oben, um einen Warnschuß abzugeben.
  113. B.
  114. warf in diesem Augenblick mit großer Wucht
  115. einen zweiten Stein nach dem Angeklagten, der seinen Kopf nur knapp verfehlte, und drehte sich erneut nach hinten, um einen dritten Stein aufzuheben. Der
  116. Angeklagte erkannte, daß ihm durch die Würfe eine erhebliche Gefahr drohte,
  117. zog die Waffe nach unten, um
  118. B.
  119. in die Beine zu schießen und
  120. betätigte den Abzug der nicht vorgespannten Waffe. Der Schuß traf den sich
  121. gerade bückenden
  122. B.
  123. 81 cm über dem Boden in den Rücken und
  124. eröffnete die Aorta vollständig, so daß
  125. B.
  126. innerhalb kurzer Zeit
  127. verblutete.
  128. Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen, weil es die Tat
  129. durch Notwehr als gerechtfertigt angesehen hat (§ 32 StGB).
  130. II.
  131. 1. Die von den Nebenklägern erhobenen Verfahrensrügen sind, soweit
  132. sie zulässig erhoben sind, aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet.
  133. 2. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf die von allen Revisionsführern erhobene Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zu Gunsten des Angeklagten ergeben.
  134. a) Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung
  135. stand. Die Würdigung der erhobenen Beweise ist Sache des Tatrichters. Sie ist
  136. vom Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen, auch wenn auf der Grundlage des Beweisergebnisses eine abweichende Überzeugungsbildung möglich
  137. -6-
  138. gewesen wäre oder sogar näher gelegen hätte. Das Revisionsgericht kann nur
  139. dann eingreifen, wenn die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft ist, etwa weil sie
  140. gegen Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstößt oder in sich
  141. widersprüchlich oder lückenhaft ist. Ein derartiger Rechtsfehler wird von den
  142. Beschwerdeführern nicht aufgezeigt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Der
  143. von der Nebenklägerin behauptete Widerspruch zwischen den Zeugenaussagen und der Einlassung des Angeklagten besteht nicht. Die Zeugen E.
  144. und K.
  145. haben ein schnelles Ziehen, Zielen und Schießen bekundet, wobei
  146. sie ein Zielen mit ausgestrecktem Arm als Gegensatz zu einem Schießen aus
  147. der Hüfte bejaht haben. Diese Bekundung läßt sich mit der Einlassung des Angeklagten, er habe die Waffe zunächst nach oben geführt, um einen Warnschuß abzugeben, durchaus vereinbaren. Auch hinsichtlich der Würdigung des
  148. Landgerichts,
  149. B.
  150. habe sich im Moment der Schußabgabe nach
  151. einem weiteren Stein gebückt, zeigt die Revision keinen Fehler der Beweiswürdigung auf. Die im Urteil in Bezug genommenen Lichtbilder Nummer 7 und
  152. 8 weisen im Gegensatz zum Revisionsvorbringen aus, daß die Leiche des
  153. B.
  154. mit den Füßen unmittelbar neben losen Pflastersteinen lag.
  155. b) Nicht zu beanstanden ist auch die Wertung des Tatrichters, dem An-
  156. geklagten habe im Moment des rechtswidrigen Angriffs kein erfolgversprechendes milderes Mittel zur Abwehr der Gefahr zur Verfügung gestanden. Angesichts der lebensgefährlichen Steinwürfe brauchte sich der Angeklagte auf
  157. das Risiko eines Warnschusses oder einfachen körperlichen Zwangs nicht einzulassen. Er durfte sich vielmehr so wehren, daß die Gefahr sofort und endgültig gebannt war und zu diesem Zweck auch die Schußwaffe einsetzen, wenn
  158. auch nur in einer Art und Weise, die Intensität und Gefährlichkeit des Angriffs
  159. nicht unnötig überbot (vgl. BGHSt 27, 336, 337; BGH NJW 1980, 2263; NStZ
  160. 1981, 138; StV 1999, 143). Nach allgemeinen notwehrrechtlichen Grundsätzen
  161. -7-
  162. ist der Angegriffene berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, das eine
  163. sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; unter mehreren
  164. Abwehrmöglichkeiten ist er auf die für den Angreifer minder einschneidende
  165. nur dann verwiesen, wenn ihm Zeit zur Auswahl sowie zur Abschätzung der
  166. Gefährlichkeit zur Verfügung steht und die für den Angreifer weniger gefährliche Abwehr geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig auszuräumen (st. Rspr., vgl. BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 5; BGH NStZ
  167. 1982, 285; 1983, 117; 1994, 581, 582; 2001, 591, 592; 2002, 140; StV 1999,
  168. 145, 146). Diese Voraussetzungen hat das Landgericht hier mit fehlerfreier Begründung verneint. Soweit die Staatsanwaltschaft in ihrer Revisionsbegründung bemängelt, der Tatrichter habe sich insoweit nur auf Vermutungen gestützt, zeigt auch sie keine Tatsachen auf, die belegen, daß ein Warnschuß
  169. und ein Zurückweichen des Angeklagten um einige Schritte den Angriff beendet hätten.
  170. c) Dem Angeklagten konnte auch nicht angesonnen werden, vor dem
  171. Angriff des
  172. B.
  173. zurückzuweichen. Das Gesetz verlangt von einem
  174. rechtswidrig Angegriffenen nur dann, daß er die Flucht ergreift oder auf andere
  175. Weise dem Angriff ausweicht, wenn besondere Umstände sein Notwehrrecht
  176. einschränken (vgl. BGH NJW 1980, 2263), beispielsweise wenn er selbst den
  177. Angriff leichtfertig oder vorsätzlich provoziert hat. Etwas anderes gilt auch nicht
  178. für Polizeibeamte (vgl. BayObLG MDR 1991, 367). Die hier einschlägigen Bestimmungen des thüringischen Polizeiaufgabengesetzes schränken das individuelle Notwehrrecht nicht ein (§ 58 Abs. 2 PAG). Im Falle eines gegenwärtigen
  179. rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben eines Polizeibeamten hängt die
  180. Frage, inwieweit dieser sich verteidigen darf, insbesondere nicht davon ab,
  181. welches Rechtsgut zuvor von dem Angreifer verletzt worden ist. Das zulässige
  182. Maß der erforderlichen Verteidigung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB wird auch
  183. -8-
  184. hier durch die konkreten Umstände des Angriffs bestimmt, insbesondere durch
  185. die Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers und durch die dem Angegriffenen
  186. zur Verfügung stehenden Abwehrmittel. Das Notwehrrecht einschränkende besondere Umstände lagen hier nicht vor. Der Angeklagte durfte deshalb einen
  187. Schuß auf die Beine des sich nach einem weiteren Pflasterstein bückenden
  188. Angreifers richten, um diesen kampfunfähig zu machen. Die durch das Verreißen der Waffe bewirkte, an sich geringfügige Abweichung des Schusses vom
  189. gewollten Ziel, welche durch die Bewegung des Geschädigten zu einer tödlichen Verletzung geführt hat, verwirklicht das mit der Notwehrhandlung verbundene typische Risiko und ist daher von der Rechtfertigung umfaßt.
  190. Rissing-van Saan
  191. Otten
  192. Fischer
  193. Rothfuß
  194. Roggenbuck