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  1. Nachschlagewerk: ja
  2. Veröffentlichung: ja
  3. BGHSt:
  4. ja
  5. _______________
  6. StGB § 66 Abs. 3 Satz 1
  7. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB setzt nicht
  8. notwendig eine Vorverurteilung zu einer Einzelstrafe von mindestens drei Jahren
  9. voraus. Als Vorverurteilung im Sinne dieser Vorschrift genügt eine entsprechend
  10. hohe Gesamtfreiheitsstrafe jedenfalls dann, wenn dieser ausschließlich Katalogtaten
  11. zugrundeliegen.
  12. BGH, Urteil vom 13. November 2002 - 2 StR 261/02 - Landgericht Mainz
  13. BUNDESGERICHTSHOF
  14. IM NAMEN DES VOLKES
  15. URTEIL
  16. 2 StR 261/02
  17. vom
  18. 13. November 2002
  19. in der Strafsache
  20. gegen
  21. -2-
  22. wegen Vergewaltigung
  23. -3-
  24. Der
  25. 2. Strafsenat
  26. des
  27. Bundesgerichtshofs
  28. hat
  29. in
  30. 13. November 2002, an der teilgenommen haben:
  31. Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
  32. Dr. Rissing-van Saan
  33. und die Richter am Bundesgerichtshof
  34. Dr. Bode,
  35. Richterin am Bundesgerichtshof
  36. Dr. Otten,
  37. Richter am Bundesgerichtshof
  38. Rothfuß,
  39. Richterin am Bundesgerichtshof
  40. Roggenbuck,
  41. Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
  42. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  43. Rechtsanwalt
  44. Rechtsanwalt
  45. ,
  46. , beide in der Verhandlung,
  47. als Verteidiger,
  48. Justizangestellte
  49. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  50. für Recht erkannt:
  51. der
  52. Sitzung
  53. vom
  54. -4-
  55. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mainz vom 10. April 2002 aufgehoben, soweit das Landgericht es unterlassen hat, eine Gesamtstrafe mit der Strafe
  56. aus der Verurteilung des Amtsgerichts Worms vom 3. April
  57. 2001 zu bilden.
  58. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
  59. Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts
  60. zurückverwiesen.
  61. Die weitergehende Revision wird verworfen.
  62. Von Rechts wegen
  63. Gründe:
  64. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer
  65. Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und Sicherungsverwahrung angeordnet. Dagegen wendet sich die Revision des Angeklagten, die der Wahlverteidiger in der Revisionshauptverhandlung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat.
  66. I.
  67. -5-
  68. Nach den Feststellungen hat der Angeklagte bei einem Besuch in der
  69. Familie des 14-jährigen Tatopfers unter einem Vorwand die Geschädigte in
  70. ihrem Zimmer aufgesucht, die Zimmertür abgeschlossen und trotz Gegenwehr
  71. der Geschädigten an deren entblößtem Geschlechtsteil manipuliert und anschließend den Analverkehr ausgeübt. Der Angeklagte war u. a. durch Urteil
  72. des Landgerichts Heilbronn vom 30. Mai 1995 wegen sexuellen Mißbrauchs
  73. von Kindern in zehn Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit einem weiteren sexuellen Mißbrauch von Kindern und wegen eines versuchten sexuellen
  74. Mißbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und
  75. drei Monaten verurteilt worden, die er voll verbüßt hat. Durch Urteil des Amtsgerichts Worms vom 3. April 2001 wurde er wegen Verstoßes gegen Weisungen der Führungsaufsicht zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe
  76. von sechs Monaten verurteilt, die er zum Zeitpunkt der Entscheidung in dieser
  77. Sache nach Bewährungswiderruf verbüßte.
  78. II.
  79. Das Rechtsmittel hat nur insoweit Erfolg, als die Strafkammer - wie in
  80. den Urteilsgründen auch dargelegt - die Bildung einer Gesamtstrafe mit der
  81. durch Urteil des Amtsgerichts Worms verhängten Freiheitsstrafe versehentlich
  82. unterlassen hat, wodurch der Angeklagte hier beschwert ist. Im übrigen erweist
  83. sich die Revision als unbegründet. Auch die Anordnung der Sicherungsverwahrung, die das Landgericht auf § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB gestützt hat, hält rechtlicher Nachprüfung stand.
  84. 1. Der Angeklagte hat eine Vergewaltigung und damit eine Katalogtat im
  85. Sinne von § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB begangen, die zur Verhängung einer Frei-
  86. -6-
  87. heitsstrafe von vier Jahren geführt hat. Auch die weiteren formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB sind erfüllt. Danach muß der Täter wegen
  88. einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat,
  89. zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden sein und
  90. mindestens zwei Jahre Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden haben.
  91. Zu Recht hat das Landgericht für die Vorverurteilung auf die Verurteilung des Angeklagten durch das Landgericht Heilbronn vom 30. Mai 1995 abgestellt. Dieser lagen in allen Fällen Taten im Sinne von § 66 Abs. 3 Satz 1
  92. StGB zugrunde. In der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten
  93. ist eine Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr enthalten, für die übrigen zehn
  94. Taten wurden Einzelstrafen von unter einem Jahr verhängt. Für keine der
  95. zugrunde liegenden Taten ist Rückfallverjährung nach § 66 Abs. 4 Satz 3 und 4
  96. StGB eingetreten. Dies gilt - entgegen der Auffassung der Revision - auch hinsichtlich des Falls 2 der im Urteil des Landgerichts Heilbronn festgestellten
  97. Einzelfälle. Soweit dort als Tatzeit Mai/Juni 1990 statt 1993 angegeben worden
  98. ist, handelt es sich ersichtlich um ein Schreibversehen. Abgesehen davon, daß
  99. die Taten chronologisch dargestellt sind, Fall 2 zwischen einer im Frühjahr
  100. 1993 und im Juni 1993 begangenen Tat eingeordnet ist, wird das Alter des geschädigten Kindes in allen Fällen mit acht Jahren angegeben. Schließlich läßt
  101. sich dem Urteil auch entnehmen, daß der Angeklagte im Mai/Juni 1990 eine
  102. Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten aus einer Verurteilung vom
  103. 5. Dezember 1989 verbüßt hat.
  104. 2. Ob die Vorverurteilung wegen mehrerer Katalogtaten zu einer Gesamtstrafe von drei Jahren ausreicht oder eine entsprechend hohe Einzelfrei-
  105. -7-
  106. heitsstrafe zu verlangen ist, ist allerdings streitig. Daß bei der Verurteilung zu
  107. einer Gesamtstrafe darin eine Einzelfreiheitsstrafe von drei Jahren enthalten
  108. sein muß, wird insbesondere von Hanack in LK, Nachtrag zur 11. Aufl., § 66
  109. Rdn. 8 unter Hinweis auf die Auslegung zu § 66 Abs. 1 StGB verlangt (a. A.
  110. Stree in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 66 Rdn. 61; Lackner/Kühl, StGB
  111. 24. Aufl. § 66 Rdn. 10e).
  112. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage bisher nicht entschieden. Für
  113. BGH NStZ-RR 2002, 230, 231 war sie nicht entscheidungserheblich und ist
  114. offengelassen worden. Soweit in BGH NStZ 1999, 473 f. für die Anordnung der
  115. Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB darauf abgestellt wurde,
  116. daß in der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren, die als Vorverurteilung heranzuziehen war, eine Einzelfreiheitsstrafe von drei Jahren enthalten war, handelte es sich um eine andere Fallkonstellation. Denn jene Gesamtstrafe war
  117. aus Einzelstrafen für eine Katalogtat (Vergewaltigung) und eine Nichtkatalogtat
  118. (Diebstahl) gebildet worden.
  119. 3. Der Senat entscheidet die Rechtsfrage nunmehr dahin, daß jedenfalls
  120. dann, wenn es sich bei den Vortaten, die zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von
  121. mindestens drei Jahren geführt haben, um Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 3
  122. Satz 1 StGB handelt, eine darin enthaltene Einzelfreiheitstrafe von drei Jahren
  123. nicht erforderlich ist.
  124. a) Für diese Auslegung sprechen sowohl der Wortsinn als auch der
  125. systematische Zusammenhang des Gesetzes. Anders als § 66 Abs. 1 Nr. 1
  126. StGB stellt § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB nicht auf eine "jeweils" in einer bestimmten
  127. Mindesthöhe verhängte Strafe ab. Die Gesetzesfassung unterscheidet sich
  128. -8-
  129. insoweit auch von § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB, die für die noch nicht
  130. ausgeurteilten Taten "jeweils" verwirkte Mindeststrafen verlangen. Soweit dagegen in § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB ebenso wie in § 66 Abs. 3 Satz 1
  131. bei mehreren Vortaten eine (Gesamt-)Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren gefordert wird, besteht Einigkeit dahin, daß eine darin enthaltene Einzelfreiheitsstrafe von drei Jahren nicht vorausgesetzt wird (BGH NStZ 2002, 536,
  132. 537).
  133. b) Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber eine Mindesteinzelstrafe,
  134. wie sie in § 66 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB vorgesehen ist,
  135. zwar gewollt, aber nicht zum Ausdruck gebracht hat, sind nicht zu erkennen.
  136. Die allerdings für diese Frage weitgehend unergiebigen Gesetzesmaterialien
  137. sprechen eher für die am Wortlaut orientierte Auslegung: In dem in den Bundesrat eingebrachten Gesetzesantrag des Freistaats Bayern vom 19.11.1996
  138. (BR-Drucks. 876/96) war vorgeschlagen worden, § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB dahin
  139. zu verschärfen, daß die Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens einem
  140. Jahr "wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten" ausreichen sollte
  141. (Art. 1 Nr. 2 a). Durch diese Formulierung sollte gerade erreicht werden, daß
  142. "künftig auch eine Verurteilung zu Gesamtstrafe von mindestens einem Jahr
  143. Freiheitsstrafe berücksichtigt werden kann" (BR-Drucks. 876/96 S. 19), ohne
  144. daß es auf Einzelstrafen von einem Jahr ankäme. In dem vom Bundesrat daraufhin eingebrachten Gesetzentwurf wurde stattdessen die Neuregelung der
  145. Sicherungsverwahrung bei bestimmten Anlaßtaten schon bei dem ersten
  146. Rückfall gefordert und dafür eine Verurteilung wegen
  147. einer
  148. vorsätzlichen
  149. Straftat von mindestens zwei Jahren gefordert (BT-Drucks. 13/7559). Nachdem
  150. die Bundesregierung nahezu zeitgleich einen auf dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP (BT-Drucks. 13/7163) beruhenden eigenen Ge-
  151. -9-
  152. setzentwurf (BT-Drucks. 13/8586) eingebracht hatte, wurde der Bundesratsentwurf für erledigt erklärt. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung entsprach
  153. hinsichtlich der Voraussetzung der erforderlichen Vorverurteilung bei § 66 Abs.
  154. 3 Satz 1 StGB der gültigen Gesetzesfassung. Sie wurde in den Beratungen des
  155. Rechtsausschusses nur insoweit problematisiert, als sie die Anordnung der
  156. Sicherungsverwahrung schon nach dem ersten Rückfall ermöglicht.
  157. c) Die vom Senat vorgenommene Auslegung entspricht schließlich auch
  158. dem mit der Vorschrift verfolgten Zweck. Mit der durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 360) eingeführten Regelung wollte der Gesetzgeber die
  159. Unterbringung von einschlägig rückfälligen Sexualtätern schon nach dem ersten Rückfall erleichtern, wenn sie Taten von erheblicher Schwere begangen
  160. haben. Dabei sollte durch die Anforderungen an die Höhe der Verurteilungen
  161. verdeutlicht werden, daß die Sicherungsverwahrung entsprechend ihrem Charakter als ultima ratio des strafrechtlichen Sanktionensystems weiterhin nur in
  162. den Fällen angeordnet werden darf, in denen dies zum Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern unerläßlich erscheint (Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung I. 6, BT-Drucks. 13/8586 S. 7, 8). Auch bei
  163. Berücksichtigung dieser - teilweise gegenläufigen - Tendenzen (vgl. BGH,
  164. NJW 1999, 3723) ist nicht ersichtlich, daß der Gesetzgeber - entgegen dem
  165. Gesetzeswortlaut - bei mehreren Vortaten nicht nur eine Gesamtstrafe von
  166. mindestens drei Jahren, sondern auch eine darin enthaltene entsprechende
  167. Einzelstrafe für erforderlich gehalten hat. Zwar können die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB danach schon bei mehreren relativ
  168. niedrigen Einzelstrafen erfüllt sein. Die Gefährlichkeit des Täters kann in einem
  169. - 10 -
  170. solchen Fall jedoch in dem Gesamtgewicht des strafbaren Verhaltens, das in
  171. einer Mehrzahl von Katalogtaten zum Ausdruck kommt, begründet sein.
  172. Auch im Vergleich zu den Regelungen des § 66 Abs. 1, Abs. 2 und
  173. Abs. 3 Satz 2 StGB sind die Anforderungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB nicht
  174. geringer. So muß - anders als bei § 66 Abs. 1 und Abs. 2 StGB - es sich sowohl bei der Anlaßtat wie bei der Vortat um ein Verbrechen oder eine Katalogtag im Sinne von § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB handeln. Im Vergleich zu § 66 Abs. 1
  175. werden zwar nicht zwei Vorverurteilungen gefordert, die Einzel- oder Gesamtstrafe muß aber mindestens drei Jahre betragen und liegt damit deutlich über
  176. der in § 66 Abs. 1 StGB vorausgesetzten Mindesthöhe. Gegenüber § 66 Abs. 2
  177. und Abs. 3 Satz 2 StGB werden zwar - bei Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens drei Jahren - nicht mehrere Einzelstrafen mit bestimmten Mindesthöhen gefordert, hinzukommen muß jedoch eine Verbüßungszeit von mindestens zwei Jahren. Ein weiteres Korrektiv zu einer zu
  178. weitgehenden Anwendung der Vorschrift ist schließlich darin zu sehen, daß die
  179. Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten zur Feststellung eines Hangs
  180. zur Begehung erheblicher Straftaten führen muß.
  181. 4. Die für die Anordnung der Sicherungsverwahrung notwendige Würdigung hat das Landgericht hier rechtsfehlerfrei vorgenommen. Die festgestellten
  182. elf Vortaten waren sämtlich Katalogtaten i. S. von § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB. Es
  183. handelte sich keineswegs um sexuelle Mißbrauchsfälle knapp über der Erheblichkeitsschwelle. Der Angeklagte hatte in mehreren Fällen versucht, mit achtbis zehnjährigen Mädchen den Geschlechts- , in einem Fall den Oralverkehr
  184. auszuüben, die Kinder gegen ihren Willen ausgezogen und an ihren Geschlechtsteilen manipuliert. Zwar hatte der Angeklagte von den Kindern bei
  185. - 11 -
  186. Gegenwehr oder bei Hilfe durch andere Kinder abgelassen. Rechtsfehlerfrei
  187. hat
  188. - 12 -
  189. die Strafkammer aber die Gefährlichkeit des Angeklagten mit der schnellen
  190. Rückfallgeschwindigkeit und der gegenüber den früheren Taten gesteigerten
  191. Intensität der neuen, jetzt abgeurteilten Straftat, die auch eine höhere Gewaltkomponente aufweist, begründet.
  192. Rissing-van Saan
  193. Bode
  194. Rothfuß
  195. Otten
  196. Roggenbuck