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20 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 2 StR 113/13
  5. vom
  6. 20. Juni 2013
  7. BGHR:
  8. ja
  9. BGHSt:
  10. ja
  11. Veröffentlichung:
  12. ja
  13. Nachschlagewerk:
  14. ja
  15. –––––––––––––––––––––––––––––
  16. StPO §§ 140, 145 Abs. 1
  17. Der Angeklagte ist nicht hinreichend verteidigt, wenn bei kurzfristiger Erkrankung des
  18. Pflichtverteidigers ein anderer Verteidiger für einen Tag der Hauptverhandlung bestellt wird, um die Vernehmung eines Zeugen zu ermöglichen, ohne dass der Ersatzverteidiger sich in die Sache einarbeiten konnte.
  19. BGH, Urteil vom 20. Juni 2013 - 2 StR 113/13 - LG Kassel
  20. in der Strafsache
  21. gegen
  22. 1.
  23. 2.
  24. wegen Unterschlagung
  25. -2-
  26. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
  27. 8. Mai 2013 in der Sitzung am 20. Juni 2013, an denen teilgenommen haben:
  28. Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
  29. Becker
  30. und die Richter am Bundesgerichtshof
  31. Prof. Dr. Fischer,
  32. Prof. Dr. Krehl,
  33. Dr. Eschelbach,
  34. die Richterin am Bundesgerichtshof
  35. Dr. Ott,
  36. Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
  37. Staatsanwalt
  38. und
  39. in der Verhandlung,
  40. Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
  41. bei der Verkündung
  42. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  43. Rechtsanwalt
  44. als Verteidiger für den Angeklagten K.
  45. Justizhauptsekretärin
  46. Justizangestellte
  47. ,
  48. in der Verhandlung,
  49. bei der Verkündung
  50. als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,
  51. für Recht erkannt:
  52. -3-
  53. 1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
  54. Landgerichts Kassel vom 2. August 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
  55. 2. Auf die Revision des Angeklagten W.
  56. wird das vorge-
  57. nannte Urteil, soweit es ihn betrifft, mit den zugehörigen
  58. Feststellungen aufgehoben.
  59. 3. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
  60. auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere
  61. Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  62. Von Rechts wegen
  63. Gründe:
  64. I.
  65. 1
  66. Das Landgericht hat den Angeklagten W.
  67. wegen Beihilfe zur Unter-
  68. schlagung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt,
  69. wovon neun Monate als vollstreckt gelten. Den Angeklagten K.
  70. hat es von
  71. dem Vorwurf einer Unterschlagung freigesprochen. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat in vollem Umfang Erfolg. Die Revision des Angeklagten W.
  72. führt auf eine Verfah-
  73. rensrüge hin zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
  74. -4-
  75. 2
  76. 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts arbeitete der Angeklagte
  77. W.
  78. seit Beginn des Jahres 2006 bei der Spedition L.
  79. . Diese
  80. erhielt am 13. Februar 2006 den Auftrag, sechs Paletten Telekommunikationsartikel nach Großbritannien zu verbringen. Für den Transport wurde der Angeklagte W.
  81. eingesetzt. Er machte sich nach dem Beladen des zum Fuhrpark
  82. der Spedition L.
  83. gehörenden LKW am 13. Februar 2006 gegen 18.00 Uhr
  84. auf den Weg in Richtung Großbritannien. Im Fahrzeug befanden sich 3.000 Mobiltelefone der Marke Nokia im Wert von 615.000 € netto. Der Angeklagte fuhr
  85. über die Autobahn A 44 in Richtung Niederlande und erreichte nach einigen
  86. Pausen und dem Passieren der niederländischen und belgischen Grenze in
  87. Kr.
  88. , kurz hinter Antwerpen, eine an der E 17 gelegene Tankstelle. Dort
  89. betankte er gegen 1.58 Uhr den LKW. In der Zeit danach kam es auf der Strecke zwischen Kr.
  90. und M.
  91. zu einer vollständigen Entwendung
  92. der Ladung. Dabei verschaffte der Angeklagte W.
  93. einem oder mehreren Drit-
  94. ten den Zugang zur Ladefläche des LKW, damit diese die geladenen Mobiltelefone an sich nehmen und zueignen konnten. Anschließend wurde der LKW auf
  95. dem Gelände der F.
  96. 3
  97. in G.
  98. abgestellt.
  99. Sodann begab sich der Angeklagte W.
  100. Tankstelle in M.
  101. zu einer an der E 40 gelegenen
  102. , die er gegen 4.30 Uhr betrat, um etwas
  103. zu trinken. Kurz vor 5.00 Uhr verließ er den Shop in Richtung der auf dem Gelände befindlichen Abstellplätze für Kraftfahrzeuge. Wenig später kam er zurück, um dem Kassierer und den später eintreffenden Polizeibeamten der
  104. Wahrheit zuwider mitzuteilen, dass sein angeblich auf dem Parkplatz abgestellter LKW während seines Aufenthalts in der Tankstelle entwendet worden sei.
  105. 4
  106. Das Landgericht hat den Angeklagten W.
  107. wegen Beihilfe zur verun-
  108. treuenden Unterschlagung verurteilt, da lediglich habe festgestellt werden kön-
  109. -5-
  110. nen, dass er Dritten den Zugang zu Ladung und PKW ermöglicht und damit lediglich eine fremde Tat gefördert habe.
  111. 5
  112. 2. Den die Tat bestreitenden Angeklagten K.
  113. bensgefährtin des Angeklagten W.
  114. , den Vater der Le-
  115. , hat das Landgericht vom Vorwurf einer
  116. Beteiligung an der vorangehend geschilderten Tat aus tatsächlichen Gründen
  117. freigesprochen. Diese sei ihm nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachzuweisen gewesen. Zwar habe festgestellt werden können, dass vom Mobiltelefon
  118. des Angeklagten W.
  119. zu der auf den Angeklagten K.
  120. zugelassenen Ruf-
  121. nummer zwischen 0.39 Uhr und 2.22 Uhr Gespräche stattgefunden hätten und
  122. beide Geräte sich zu Zeitpunkten zwischen 1.06 Uhr und 3.23 Uhr auf belgischem Gebiet befunden und sich in einer Entfernung von wenigen Kilometern in
  123. Richtung Frankreich bewegt hätten. Zu einer Verurteilung hat sich das Landgericht außer Stande gesehen, weil Zweifel verblieben, ob der Angeklagte K.
  124. nicht für den Tatzeitraum das Telefon verliehen oder den Anschluss überhaupt
  125. erst nach der Tat erstmalig verwendet habe. Zudem sei nicht auszuschließen,
  126. dass der Angeklagte K.
  127. in Belgien einen völlig anderen, eigenen Zweck
  128. abseits einer Tatbeteiligung verfolgt oder möglicherweise den Angeklagten
  129. W.
  130. von dessen Tatbeteiligung abzubringen versucht habe.
  131. II.
  132. 6
  133. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat in vollem Umfang Erfolg.
  134. 7
  135. 1. Der Freispruch des Angeklagten K.
  136. hält rechtlicher Nachprüfung
  137. nicht stand.
  138. 8
  139. Das Revisionsgericht hat es zwar regelmäßig hinzunehmen, wenn der
  140. Tatrichter einen Angeklagten freispricht, weil er Zweifel an seiner Täterschaft
  141. nicht zu überwinden vermag. Denn die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrich-
  142. -6-
  143. ters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Das Revisionsgericht kann und muss jedoch eingreifen, wenn dem Tatrichter - wie hier - Rechtsfehler unterlaufen sind.
  144. 9
  145. Der Angeklagte K.
  146. hat eine Tatbeteiligung bestritten und für den
  147. Tatabend einen Alibibeweis angetreten, den das Landgericht allerdings als widerlegt erachtet. Hinsichtlich des Mobilfunkanschlusses
  148. , dessen
  149. Verbindungsdaten über einen längeren Zeitraum in der fraglichen Nacht ein
  150. synchrones Bewegungsbild zu dem Mobilfunkanschluss des überführten Angeklagten W.
  151. , eine räumliche Nähe zum späteren Auffindeort des Fahrzeugs
  152. und schließlich Gespräche zwischen beiden Anschlüssen belegen, hat sich der
  153. Angeklagte K.
  154. eingelassen, dieser sei auf ihn zugelassen. Gleichwohl hat
  155. ihn das Landgericht freigesprochen, weil es nicht habe ausschließen können,
  156. dass der Angeklagte das Mobiltelefon zu diesem Zeitpunkt noch nicht genutzt
  157. oder es möglicherweise an einen anderen verliehen habe oder - falls er es in
  158. Belgien genutzt habe - einen völlig anderen Zweck verfolgt oder möglicherweise
  159. den Angeklagten W.
  160. von dessen Tatbeteiligung abzubringen versucht habe.
  161. Dies erweist sich als rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht damit nicht eher fern
  162. liegende Möglichkeiten unterstellt hat, ohne tragfähige Gründe anzuführen, die
  163. dieses Ergebnis stützen könnten (st. Rspr.: vgl. BGH NStZ 2008, 575 mwN). Es
  164. gibt keine greifbaren Hinweise für das Vorliegen der in Betracht gezogenen
  165. Sachverhaltskonstellationen; selbst der Angeklagte K.
  166. hat sich auf sie
  167. nicht berufen. Fehlen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen
  168. einer Sachverhaltsvariante, ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch
  169. sonst geboten, einen nur abstrakt denkbaren Sachverhalt zugunsten eines Angeklagten zu unterstellen.
  170. 10
  171. 2. Die Verurteilung des Angeklagten W.
  172. wegen Beihilfe zur Unter-
  173. schlagung begegnet ebenfalls durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Nach
  174. -7-
  175. den Feststellungen des Landgerichts liegt es - wie der Generalbundesanwalt
  176. zutreffend ausgeführt hat - auf der Hand, dass der Angeklagte W.
  177. sich wegen
  178. täterschaftlich verwirklichter Unterschlagung gemäß § 246 Abs. 2 StGB hinsichtlich der Ladung des LKW in Form einer vom Vorsatz getragenen Drittzueignung strafbar gemacht hat. Im Fall einer Drittzueignung muss das Verhalten
  179. des Täters nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darauf gerichtet
  180. sein, dass das Sicherungsgut dem Vermögen des Dritten zugeführt wird. Die
  181. Tathandlung muss dabei zu einer Stellung des Dritten in Bezug auf die Sache
  182. führen, wie sie auch bei der Selbstzueignung für die Tatbestandserfüllung notwendig wäre (BGH NStZ-RR 2006, 377 = wistra 2007, 18). Das bloße Schaffen
  183. einer Gelegenheit für die Selbstzueignung - worauf das Landgericht abgestellt
  184. hat - reicht danach zwar nicht aus (vgl. Fischer, StGB, 60. Aufl., § 246 Rn. 11a),
  185. doch liegt hier in der besonderen Fallkonstellation in der mit den Dritten abgesprochenen Abstellung des LKW auf einem Parkplatz zu dessen Entladung
  186. schon die Einräumung von Verfügungsgewalt über fremde Sachen, die aus der
  187. Sicht eines objektiven Dritten einen Zustand schafft, bei dem die nicht fern liegende Möglichkeit der dauernden Enteignung besteht (vgl. Hohmann in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., § 246 Rn. 44) und damit bereits zu einer
  188. eigentümerähnlichen Stellung der dritten Personen führt.
  189. III.
  190. 11
  191. Die Revision des Angeklagten W.
  192. 12
  193. 1. Dem liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:
  194. 13
  195. Zum Beginn des 4. Hauptverhandlungstags am 6. Juli 2012 um 9.10 Uhr
  196. hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
  197. erschien der Pflichtverteidiger des Angeklagten nicht. Durch sein Büro hatte er
  198. über die Geschäftsstelle mitteilen lassen, sich wegen Herzrhythmusstörungen
  199. in ärztliche Behandlung begeben zu müssen, aber davon auszugehen, ab
  200. -8-
  201. 11.00 Uhr an der Hauptverhandlung teilnehmen zu können. Daraufhin wurde
  202. die Hauptverhandlung um 9.12 Uhr unterbrochen und schließlich um 11.10 Uhr
  203. fortgesetzt. Zwischenzeitlich hatte das Büro des Pflichtverteidigers des Angeklagten mitgeteilt, dass dessen Einlieferung in eine Klinik notwendig geworden
  204. sei und er am heutigen Tag nicht mehr erscheinen werde.
  205. 14
  206. Für die Hauptverhandlung am 6. Juli 2012 war - als Folge eines Beweisermittlungsantrages des Verteidigers des Angeklagten - die Vernehmung
  207. des belgischen Polizeibeamten C.
  208. vorgesehen. Um ihm eine erneute An-
  209. reise an einem der folgenden Hauptverhandlungstermine zu ersparen, bemühte
  210. sich die Strafkammer um einen anderen Verteidiger für den Angeklagten, den
  211. sie ihm für diesen Hauptverhandlungstag als Pflichtverteidiger beiordnete. Es
  212. bestand Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit dem Angeklagten, der keine Einwände gegen das Vorgehen erhob. Akteneinsicht in die Verfahrensakte
  213. nahm der neue Pflichtverteidiger nicht. Sodann wurde der Zeuge C.
  214. in An-
  215. wesenheit einer Dolmetscherin vernommen, wobei seine Aussage auf Antrag
  216. des Verteidigers des Mitangeklagten wörtlich protokolliert worden ist. Fragen an
  217. den Zeugen richtete der „neue“ Verteidiger des Angeklagten nicht. Die Hauptverhandlung wurde um 12.05 Uhr geschlossen.
  218. 15
  219. An den folgenden Hauptverhandlungsterminen nahm wieder der „alte“
  220. Pflichtverteidiger des Angeklagten die Verteidigung des Angeklagten wahr. Ein
  221. von ihm gestellter Antrag auf erneute Vernehmung des Zeugen C.
  222. lehnte
  223. die Strafkammer nach Maßgabe des § 244 Abs. 5 StPO ab.
  224. 16
  225. 2. Dieses Vorgehen steht nicht in Einklang mit § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO
  226. und stellt eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung dar, auf der das Urteil auch beruhen kann.
  227. -9-
  228. 17
  229. a) Dem Revisionsvorbringen des Angeklagten, „unverteidigt“ gewesen zu
  230. sein, ist zugleich die Beanstandung zu entnehmen, das Landgericht habe es
  231. unterlassen, anlässlich der Erkrankung des Verteidigers die diesen Verhandlungstag vorgesehene Vernehmung des Zeugen C.
  232. nicht auf den nächsten
  233. Verhandlungstag verschoben zu haben. Damit zielt die Rüge ihrer Zielrichtung
  234. nach jedenfalls auch auf eine Verletzung von § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO.
  235. 18
  236. b) § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO sieht vor, dass das Gericht auch eine Aussetzung der Verhandlung beschließen kann, wenn der Verteidiger in der Hauptverhandlung ausbleibt. Die Regelung steht in Konkurrenz zu § 145 Abs. 1
  237. Satz 1 StPO, der für diesen Fall anordnet, dass der Vorsitzende sogleich einen
  238. anderen Verteidiger bestellt. Das Gericht hat also insoweit nach seinem Ermessen zu entscheiden, ob der Vorsitzende einen neuen Verteidiger bestellt oder
  239. die Hauptverhandlung ausgesetzt wird. Dabei hat es - über den Wortlaut der
  240. Vorschrift hinaus - auch zu prüfen, ob nicht eine Unterbrechung der Hauptverhandlung der entstandenen Konfliktlage - Kontinuität der Verteidigung oder gegebenenfalls Fortführung der Hauptverhandlung mit neuem Verteidiger - angemessen Rechnung trägt (LR-Lüderssen/Jahn, 26. Aufl., § 145 Rn. 20: angesichts des verfassungsrechtlichen Prinzips der Erforderlichkeit im Einzelfall bestehende Verpflichtung zur Unterbrechung). Prüft das Gericht nicht von Amts
  241. wegen, ob eine Verhandlung auszusetzen oder zu unterbrechen ist, kann dies
  242. die Revision begründen (LR-Lüderssen/Jahn, aaO, Rn. 41).
  243. 19
  244. aa) Die Literatur geht grundsätzlich davon aus, dass dem Beschuldigten
  245. der eingearbeitete und vertraute Verteidiger zu erhalten ist und deshalb eine
  246. Aussetzung bzw. Unterbrechung grundsätzlich trotz Verfahrensverzögerung der
  247. Vorzug vor einer neuen Bestellung zu geben ist (LR-Lüderssen/Jahn, aaO,
  248. Rn. 19; Laufhütte in: KK-StPO, 6. Aufl. Rn. 7). So soll ein kurzfristiger Ausfall
  249. wegen Erkrankung des Verteidigers in der Regel zu einer Aussetzung führen
  250. - 10 -
  251. (Meyer-Goßner, 55. Aufl., § 145 Rn. 9). Dahinter steht - ohne dass dies im Einzelnen ausgeführt wird - die Erwägung, dass § 145 StPO nicht dem Ziel der
  252. Verfahrenssicherung dient, sondern das Recht des Beschuldigten zu einer effektiven und angemessenen Verteidigung wahren soll (LR-Lüderssen/Jahn,
  253. aaO, Rn. 1).
  254. 20
  255. bb) Der Bundesgerichtshof hat sich bisher nicht weitergehend zur Frage
  256. einer Aussetzung bzw. Unterbrechung nach § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO geäußert
  257. (vgl. aber BGH MDR 1977, 767). Er hatte sich bisher lediglich damit zu befassen, ob nach einem Wechsel des Verteidigers eine im Sinne von § 265 Abs. 4
  258. StPO veränderte Sachlage eingetreten ist, die zur genügenden Vorbereitung
  259. der Verteidigung eine Aussetzung angemessen erscheinen lässt. Die dort in der
  260. Rechtsprechung entwickelten Grundsätze lassen sich entsprechend auch für
  261. die - zeitlich vorangehende - Konstellation des § 145 Abs. 1 StPO nutzen, in der
  262. es um die Frage geht, ob bei Ausbleiben eines Verteidigers überhaupt ein neuer Verteidiger beizuordnen ist oder ob nicht stattdessen die Hauptverhandlung
  263. auszusetzen bzw. zu unterbrechen ist, um dem Angeklagten die weitere Verteidigung durch den bisherigen Verteidiger zu ermöglichen. In beiden Fällen geht
  264. es darum, eine sachgerechte und angemessene Verteidigung des Angeklagten
  265. sicherzustellen (so auch knapp BGH MDR 1997, 767, 768 zu § 145 StPO). Dabei steht diese Entscheidung in Ausübung der prozessualen Fürsorgepflicht im
  266. pflichtgemäß auszuübenden Ermessen des Gerichts und hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl. zuletzt BGH NStZ 2013, 212). Maßgeblich ist
  267. zunächst die Erwägung, wie der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege
  268. selbst beurteilt, ob er für die Erfüllung seiner Aufgabe hinreichend vorbereitet
  269. ist. Hält er die Vorbereitungszeit für ausreichend, ist das Gericht grundsätzlich
  270. nicht berufen, dies zu überprüfen. Doch gibt es greifbare Anhaltspunkte dafür,
  271. dass dies nicht der Fall sein könnte, gebietet die Fürsorgepflicht des Gerichts
  272. die Prüfung einer Aussetzung oder Unterbrechung des Verfahrens. Dies ist
  273. - 11 -
  274. etwa der Fall, wenn der Verteidiger objektiv nicht genügend Zeit hatte, sich vorzubereiten (vgl. BGH NJW 1965, 2164, 2165) oder wenn sich die dem Prozessverhalten des Angeklagten und seines Verteidigers zu entnehmende Einschätzung der Sach- und Rechtslage als evident interessenwidrig darstellt und eine
  275. effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 3c MRK) unter keinem Gesichtspunkt mehr
  276. gewährleistet gewesen wäre (vgl. BGH NStZ 2013, 212).
  277. 21
  278. cc) Gemessen an diesen Maßstäben erweist sich hier die Beiordnung
  279. eines neuen Verteidigers als evident interessenwidrig. Das Landgericht hätte
  280. stattdessen die Hauptverhandlung unterbrechen und in einem der Folgetermine
  281. den Auslandszeugen C.
  282. 22
  283. vernehmen müssen.
  284. Mit der Beiordnung eines neuen Verteidigers im Termin vom 6. Juli 2012
  285. sind Verteidigungsrechte des Angeklagten in erheblicher Weise eingeschränkt
  286. worden (vgl. § 338 Nr. 8 StPO). Der neue Verteidiger hat zwar mit dem Angeklagten sprechen können; es liegt allerdings angesichts des Verfahrensablaufs
  287. (Unterbrechung der Hauptverhandlung um 9.12 Uhr, Fortsetzung um 11.10 Uhr
  288. nach zwischenzeitlicher Mitteilung gegen 10.00 Uhr, dass der alte Verteidiger
  289. krankheitsbedingt nicht mehr erscheinen wird) und auch des Aktenumfangs auf
  290. der Hand, dass eine Information des neuen Verteidigers, die ihn nur annähernd
  291. auf den Stand des Verfahrens hätte bringen können, nicht erfolgt sein kann. Nur
  292. ein Verteidiger aber, der den Stoff ausreichend beherrscht, kann die Verteidigung mit der Sicherheit führen, die das Gesetz verlangt (BGHSt 13, 337, 344
  293. unter Hinweis auf RGSt 71, 353, 354). Die Absicht, einem „Auslandszeugen“
  294. die erneute Anreise zu ersparen, kann das rechtsstaatlich gebotene Recht auf
  295. eine angemessene und effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 3c EMRK) nicht wirksam beschränken, zumal Anhaltspunkte für eine längerfristige Erkrankung des
  296. Pflichtverteidigers offenbar nicht gegeben waren und auch nichts dafür sprach,
  297. dass der Zeuge nicht erneut an dem bereits sechs Tage später bestimmten
  298. - 12 -
  299. Fortsetzungstermin erschienen wäre. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass
  300. es sich um die Vernehmung eines Zeugen handelte, die der Verteidiger beantragt hatte.
  301. 23
  302. Dass der neu beigeordnete Pflichtverteidiger nicht selbst Einwendungen
  303. gegen das prozessuale Vorgehen erhoben und einen Antrag nach § 145 Abs. 3
  304. StPO auf Unterbrechung des Verfahrens nicht gestellt hat, kann an diesem Befund nichts ändern. Auf die Einschätzung des neuen Verteidigers, der selbst
  305. wohl keine Zweifel gehegt hat, die Verteidigung des Angeklagten sachgerecht
  306. führen zu können, kann es bei der besonderen Sachlage nicht ankommen. So
  307. war die Suche nach einem neuen Verteidiger hier von vornherein mit dem
  308. Zweck verbunden, die Vernehmung des aus dem Ausland angereisten Zeugen
  309. auf alle Fälle durchzuführen. Ein Verteidiger, der dies abgelehnt hätte, wäre
  310. nicht zur Durchführung des Termins beigeordnet worden; ein Verteidiger, der
  311. wie hier ohne weitere Beteiligung in der Sache lediglich formal die Verteidigung
  312. übernimmt, ist - was sich auch dem Landgericht aufdrängen musste - erkennbar
  313. nicht in der Lage, eine sachgerechte und angemessene Verteidigung des Angeklagten zu übernehmen.
  314. 24
  315. Auch dem Umstand, dass der Angeklagte keine Einwendungen gegen
  316. die Fortsetzung der Verhandlung erhoben hat, kann vorliegend keine maßgebliche Bedeutung zukommen. Aus dem Regelungsgefüge des § 145 StPO ergibt
  317. sich, dass nach dem Willen des Gesetzgebers dem Angeklagten insoweit keine
  318. maßgeblichen Verfahrensrechte eingeräumt worden sind. Ein Antragsrecht
  319. nach § 145 Abs. 3 StPO steht lediglich dem Verteidiger zu. Dies ändert zwar
  320. nichts daran, dass der Angeklagte gleichwohl eine Erklärung abgeben und evtl.
  321. eine Aussetzung nach § 265 Abs. 4 StPO anregen kann. In dem Verzicht auf
  322. eine bloße Verfahrensanregung kann allerdings nicht der Schluss gezogen
  323. werden, der Angeklagte sei mit dem Vorgehen einverstanden.
  324. - 13 -
  325. 25
  326. dd) Die Entscheidung beruht auch auf dem festgestellten Verfahrensverstoß. Es besteht die konkrete Möglichkeit eines kausalen Zusammenhangs des
  327. Verfahrensverstoßes mit dem angefochtenen Urteil. Wie sich aus dem Antrag
  328. auf erneute Vernehmung des Zeugen ergibt, sollte seine Vernehmung u.a. ergeben, dass der Angeklagte erst bei einem Telefonat nach Entwendung des
  329. LKW vom Inhalt der Ladung erfahren hat. Es ist nicht auszuschließen, dass bei
  330. einer Vernehmung des Zeugen in Gegenwart des durch Krankheit verhinderten
  331. Verteidigers, der anders als der neu bestellte Fragen oder Vorhalte an den belgischen Polizeibeamten gerichtet hätte, entsprechende Feststellungen hätten
  332. getroffen werden können.
  333. Becker
  334. Fischer
  335. Eschelbach
  336. Krehl
  337. Ott