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4 years ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. XII ZB 195/17
  4. vom
  5. 18. Oktober 2017
  6. in der Unterbringungssache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. BGB § 1906 Abs. 3 und 3a aF; FamFG § 62 Abs. 3; JVollzGB BW II § 61 Abs. 1
  14. a) Mit der Einführung von § 62 Abs. 3 FamFG ist der Verfahrenspfleger des
  15. Betreuten auch in einem bereits vor der Gesetzesänderung anhängigen
  16. Rechtsmittelverfahren befugt, nach Erledigung der angefochtenen Entscheidung in der Hauptsache die Feststellung zu beantragen, dass die Entscheidung den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
  17. b) Die Genehmigung der Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme darf
  18. nur dann erteilt werden, wenn der Tatrichter vom Vorliegen aller Tatbestandsvoraussetzungen überzeugt ist. Diese Überzeugung lässt sich nicht
  19. durch dem Betroffenen vermeintlich günstige Annahmen ersetzen.
  20. BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2017 - XII ZB 195/17 - LG Stuttgart
  21. AG Ludwigsburg
  22. ECLI:DE:BGH:2017:181017BXIIZB195.17.0
  23. -2-
  24. Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 18. Oktober 2017 durch den
  25. Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Prof. Dr. Klinkhammer, Schilling,
  26. Dr. Nedden-Boeger und Guhling
  27. beschlossen:
  28. Auf die Rechtsbeschwerde des weiteren Beteiligten zu 1 wird festgestellt, dass der die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche
  29. Zwangsmaßnahme genehmigende Beschluss des Amtsgerichts Ludwigsburg vom 17. Februar 2017 und der Beschluss der 2. Zivilkammer
  30. des Landgerichts Stuttgart vom 22. März 2017, soweit mit diesem die
  31. gegen die Genehmigung der Einwilligung gerichtete Beschwerde des
  32. Betroffenen zurückgewiesen worden ist, den Betroffenen in seinen
  33. Rechten verletzt haben.
  34. Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
  35. Die in der Rechtsbeschwerdeinstanz entstandenen außergerichtlichen
  36. Kosten des Verfahrenspflegers werden der Staatskasse auferlegt.
  37. Gründe:
  38. I.
  39. 1
  40. Der wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und von Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz seit Juni
  41. 2016 in Untersuchungshaft in einer baden-württembergischen Haftanstalt befindliche Betroffene trat im Januar 2017 in den Hungerstreik. Nach Verschlechterung seiner gesundheitlichen Verfassung und Verlegung in ein Justizkrankenhaus wurde für ihn mit Beschluss des Betreuungsgerichts vom 15. Februar
  42. 2017 das Landratsamt (Beteiligter zu 2) als Behördenbetreuer für den Aufgabenkreis der "Gesundheitsfürsorge, einschließlich der Entscheidung über ärztli-
  43. -3-
  44. che Maßnahmen und Behandlungen, insbesondere die Entscheidung über ärztliche Zwangsbehandlung" und der "Aufenthaltsbestimmung im Rahmen der Gesundheitsfürsorge einschließlich der Entscheidung über eine Unterbringung
  45. oder unterbringungsähnliche Maßnahmen" bestellt.
  46. 2
  47. Der Betreuer hat die betreuungsgerichtliche Genehmigung ärztlicher
  48. Zwangsmaßnahmen zur Ernährung beantragt. Das Amtsgericht hat den Beteiligten zu 1 zum Verfahrenspfleger bestellt und mit Beschluss vom 17. Februar
  49. 2017 die Einwilligung des Betreuers in ärztliche Zwangsmaßnahmen der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr über einen Venenzugang oder eine nasogastrale
  50. Magensonde bis 30. März 2017 "für den Fall genehmigt, dass der Betroffene
  51. sich in einem nicht mehr ansprechbaren Zustand befindet." Die vom Verfahrenspfleger eingelegte Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom
  52. 22. März 2017 mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Bedingung wegfällt
  53. und die Genehmigung auch die zur Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme erforderlichen Zwangsmaßnahmen umfasst.
  54. 3
  55. Mit seiner hiergegen erhobenen Rechtsbeschwerde begehrt der Verfahrenspfleger die Feststellung, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts und des
  56. Landgerichts den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
  57. II.
  58. 4
  59. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
  60. 5
  61. 1. Das nach der - in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren - Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG zulässigerweise auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der durch Zeitablauf erledigten Gerichtsbeschlüsse
  62. gerichtete
  63. Rechtsmittel (vgl. Senatsbeschluss
  64. vom 2. September 2015
  65. -4-
  66. - XII ZB 226/15 - FamRZ 2015, 2050 Rn. 6 mwN) ist auch im Übrigen zulässig.
  67. Insbesondere ist der Verfahrenspfleger nach dem inzwischen geltenden und im
  68. vorliegenden Verfahren anwendbaren Recht gemäß § 62 FamFG antragsbefugt.
  69. 6
  70. a) Der Senat hatte bislang die Befugnis des Verfahrenspflegers, einen
  71. Antrag nach § 62 FamFG zu stellen, verneint (vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom
  72. 22. März 2017 - XII ZB 460/16 - FamRZ 2017, 1069 Rn. 3 und vom 15. Februar
  73. 2012 - XII ZB 389/11 - FamRZ 2012, 619 Rn. 13).
  74. 7
  75. Mit dem Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2426) hat der
  76. Gesetzgeber dem § 62 FamFG nunmehr aber einen Absatz 3 angefügt, nach
  77. dem die Absätze 1 und 2 der Vorschrift entsprechend gelten, wenn der Verfahrensbeistand oder der Verfahrenspfleger die Beschwerde eingelegt hat. Durch
  78. diese Änderung soll dem Verfahrensbeistand in Kindschaftssachen sowie dem
  79. Verfahrenspfleger in Betreuungs-, Unterbringungs- und Freiheitsentziehungssachen wegen ihrer besonderen Stellung im Verfahren ein gesetzlich verankertes Antragsrecht auf Feststellung der Rechtsverletzung eingeräumt werden, um
  80. den Grundrechtsschutz der in diesen Fällen besonders schutzwürdigen Betroffenen zu stärken (BT-Drucks. 18/12842 S. 9).
  81. 8
  82. b) Der jetzt geltende § 62 Abs. 3 FamFG ist für die Entscheidung über
  83. die vorliegende Rechtsbeschwerde auch maßgeblich, so dass der Verfahrenspfleger antragsbefugt ist.
  84. 9
  85. Das Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen
  86. von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten ist gemäß seinem Artikel 8 am Tag nach der Verkündung,
  87. -5-
  88. also am 22. Juli 2017 und mithin nach Einlegung der Rechtsbeschwerde und
  89. nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist, in Kraft getreten. Eine
  90. Übergangsregelung enthält das Gesetz nicht. Bei Fehlen einer solchen Regelung erfassen Änderungen des Verfahrensrechts im Allgemeinen auch schwebende Verfahren, die mit dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes grundsätzlich nach neuem Recht zu beurteilen sind. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn
  91. es um unter Geltung des alten Rechts abgeschlossene Verfahrenshandlungen
  92. und abschließend entstandene Verfahrenslagen geht (Senatsbeschluss BGHZ
  93. 206, 86 = FamRZ 2015, 1479 Rn. 18) oder sich aus dem Sinn und Zweck der
  94. betreffenden Vorschrift etwas Abweichendes ergibt (BGH Urteil vom 13. Dezember 2006 - VIII ZR 64/06 - NJW 2007, 519, 520 mwN).
  95. 10
  96. An einer abschließend entstandenen Verfahrenslage fehlt es hier, weil
  97. der angefochtene Beschluss vor der Gesetzesänderung nicht in formelle
  98. Rechtskraft erwachsen ist. Der Bundesgerichtshof hat bereits entschieden,
  99. dass eine Klage, die wegen Fehlens des vor Klageerhebung erforderlichen
  100. Schlichtungsverfahrens in erster Instanz als unzulässig abgewiesen worden ist,
  101. nach Wegfall des die außergerichtliche Streitschlichtung fordernden Gesetzes
  102. während der Berufungsinstanz als zulässig zu behandeln ist (vgl. dazu BGH
  103. Urteil vom 13. Dezember 2006 - VIII ZR 64/06 - NJW 2007, 519, 520). Nicht
  104. anders liegt es hier. Ebenso wie dort ist der zu Beginn des Rechtsmittelverfahrens noch unzulässige Antrag aufgrund der Gesetzesänderung zulässig geworden. Diesem Ergebnis stehen Sinn und Zweck von § 62 Abs. 3 FamFG nicht
  105. entgegen. Der Gesetzgeber wollte mit der Bestimmung eine Ausweitung des
  106. mittels des Verfahrensrechts gewährten Grundrechtsschutzes erreichen. Es ist
  107. nichts dafür ersichtlich, dass er hiervon schwebende Verfahren wie das vorliegende ausnehmen wollte.
  108. 11
  109. 2. Das Landgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
  110. -6-
  111. 12
  112. Die Vorschrift des § 1906 Abs. 3 BGB aF sei nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juli 2016 (BVerfGE 142,
  113. 313 = FamRZ 2016, 1738) auf den Fall des inhaftierten Betroffenen analog anzuwenden. Die Tatbestandsvoraussetzungen lägen vor. Die für den Betroffenen
  114. vom zuständigen Notariat durchgeführte Betreuerbestellung leide nicht an einem schwerwiegenden Verfahrensfehler und stelle auch keinen unzulässigen
  115. Vorratsbeschluss dar. Denn es genüge, dass ein Handlungsbedarf jederzeit
  116. auftreten könne und für diesen Fall die begründete Besorgnis bestehe, dass
  117. ohne die Einrichtung einer Betreuung nicht das Notwendige veranlasst werde.
  118. 13
  119. Bei dem Betroffenen sei eine Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr zur Abwendung erheblicher Gefahren und Schäden erforderlich. Er wiege bei einer
  120. Größe von rund 180 cm nur noch etwa 50 kg und sei körperlich völlig ausgezehrt. Seit fünf Tagen nehme er keinerlei Flüssigkeit mehr zu sich und dulde
  121. nicht wie zuvor die venöse Flüssigkeitszufuhr. Bei dieser Sachlage bestehe die
  122. Gefahr eines Nierenversagens, das zu einer Exsikkose und einem Multiorganversagen und damit zum Tod führen könne. Der Betroffene sei auch psychisch
  123. krank und infolge der Krankheit nicht zur Einsicht in das Erfordernis der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr in der Lage. Der Sachverständige habe ausgeführt, dass eine organisch-psychische Störung nahe liege, und dass das Verhalten und die Entwicklung des Betroffenen auf ein Psychosyndrom, eine akzentuierte Persönlichkeitsstruktur mit querulatorisch-fanatischen Zügen, eine posttraumatische Belastungsstörung und/oder eine dissoziative Störung hindeuteten. Nachdem die Gefahr des Versterbens bestehe, sei zugunsten des Betroffenen davon auszugehen, dass er an einer psychischen Krankheit leide, weil
  124. aufgrund seines Zustands keine weiteren Ermittlungen mehr möglich seien. Es
  125. werde weiter zu seinen Gunsten davon ausgegangen, dass er, nachdem hinreichende Verdachtsmomente vorlägen, nicht in der Lage sei, diesbezüglich einen
  126. freien Willen zu bilden. Der Sachverständige führe aus, dass der Betroffene
  127. -7-
  128. zwar die Entscheidung über den Hungerstreik eigenverantwortlich getroffen habe, zwischenzeitlich aber nicht mehr in der Lage sein dürfte, aus seiner deutlich
  129. fixierten, unkorrigierbaren und veränderungsresistenten Haltung herauszufinden.
  130. 14
  131. Auch die weiteren Voraussetzungen für die Einwilligung des Betreuers in
  132. die Zwangsmaßnahme lägen vor. Ob die vom Amtsgericht formulierte Genehmigung eine unzulässige Bedingung darstelle, müsse nicht entschieden werden. Nach den im Beschwerdeverfahren getroffenen Feststellungen sei die Genehmigung jedenfalls zu erteilen und klarstellend aufzunehmen, dass die zur
  133. Durchführung der zwangsweisen Zufuhr erforderlichen Zwangsmaßnahmen
  134. ebenfalls genehmigt seien.
  135. 15
  136. 3. Die Entscheidungen von Amts- und Landgericht, mit denen die Einwilligung des Betreuers in ärztliche Zwangsmaßnahmen genehmigt worden sind,
  137. haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.
  138. 16
  139. a) Es ist bereits zweifelhaft, ob der Anwendungsbereich des § 1906
  140. Abs. 3 und 3a BGB in der bis zum 21. Juli 2017 geltenden Fassung (im Folgenden: aF) dem Grundsatz nach eröffnet war.
  141. 17
  142. aa) Nach der in § 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BGB aF getroffenen Regelung war eine ärztliche Zwangsmaßnahme nur im Rahmen einer Unterbringung
  143. gemäß § 1906 Abs. 1 BGB möglich. Dies führte zu einer Schutzlücke für solche
  144. Betroffenen, für die eine Unterbringung nicht in Betracht kam, weil sie sich einer
  145. stationären Behandlung räumlich nicht mehr entziehen konnten oder wollten.
  146. Auf Vorlage des Senats (Beschluss vom 1. Juli 2015 - XII ZB 89/15 FamRZ 2015, 1484) hat das Bundesverfassungsgericht es daher für mit der aus
  147. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates unvereinbar erklärt, dass für Betreute, denen schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchti-
  148. -8-
  149. gungen drohen und die die Notwendigkeit der erforderlichen ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, eine
  150. ärztliche Behandlung gegen ihren natürlichen Willen unter keinen Umständen
  151. möglich ist, sofern sie zwar stationär behandelt werden, aber nicht geschlossen
  152. untergebracht werden können, weil sie sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind. Bis zu der vom Gesetzgeber unverzüglich für diese Fallgruppe zu treffenden Neuregelung hat das
  153. Bundesverfassungsgericht die Anwendung von § 1906 Abs. 3 BGB in der Fassung von Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen
  154. Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18. Februar 2013 (BGBl. I
  155. S. 266) auch auf stationär behandelte Betreute angeordnet, die sich einer ärztlichen Zwangsbehandlung räumlich nicht entziehen können (BVerfGE 142, 313 =
  156. FamRZ 2016, 1738).
  157. 18
  158. Hierauf hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur
  159. Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom 17. Juli 2017
  160. (BGBl. I S. 2426) reagiert. Die Genehmigung des Betreuungsgerichts bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen ist jetzt in dem ab dem 22. Juli 2017 gültigen
  161. § 1906 a BGB geregelt und von der Unterbringung entkoppelt. Denn § 1906 a
  162. Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB bestimmt als eine Genehmigungsvoraussetzung, dass
  163. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in
  164. einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist,
  165. durchgeführt wird.
  166. 19
  167. bb) Dass eine vergleichbare Schutzlücke auch für den Betroffenen bestand, der sich in Untersuchungshaft befand, ist fraglich und wird vom Landgericht auch nicht dargelegt. Das den Untersuchungshaftvollzug regelnde Buch 2
  168. -9-
  169. des Gesetzbuchs über den Justizvollzug in Baden-Württemberg (Justizvollzugsgesetzbuch - JVollzGB BW II) vom 10. November 2009 (GBl. S. 545) enthält in § 61 eine Bestimmung zu Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge. Nach § 61 Abs. 1 JVollzGB BW II sind medizinische Untersuchung und Behandlung sowie Ernährung zwangsweise bei Lebensgefahr, bei
  170. schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit von Untersuchungsgefangenen
  171. oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen zulässig; die Maßnahmen
  172. müssen für die Beteiligten zumutbar und dürfen nicht mit erheblicher Gefahr für
  173. Leben oder Gesundheit der Untersuchungsgefangenen verbunden sein. Zur
  174. Durchführung der Maßnahmen ist die Justizvollzugsanstalt nicht verpflichtet,
  175. solange von einer freien Willensbestimmung des Untersuchungsgefangenen
  176. ausgegangen werden kann. Gemäß § 61 Abs. 3 JVollzGB BW II dürfen die
  177. Maßnahmen nur auf Anordnung und unter Leitung einer Ärztin oder eines Arztes durchgeführt werden, unbeschadet der Leistung erster Hilfe für den Fall,
  178. dass eine Ärztin oder ein Arzt nicht rechtzeitig erreichbar und mit einem Aufschub Lebensgefahr verbunden ist.
  179. 20
  180. Damit stellt das Gesetz grundsätzlich einen - zu anderen als den betreuungsgerichtlichen Zuständigkeiten führenden - rechtlichen Weg zur Verfügung,
  181. um die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende staatliche Schutzpflicht für in Untersuchungshaft befindliche Betroffene zu erfüllen. Ob die landesrechtliche Vorschrift des § 61 JVollzGB BW II den verfassungsrechtlichen Anforderungen an
  182. die Regelung einer Zwangsbehandlung genügt (vgl. zur Zwangsbehandlung im
  183. Maßregelvollzug etwa BVerfGE 128, 282 = FamRZ 2011, 1128 Rn. 45 ff.; zur
  184. Zwangsbehandlung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung
  185. BVerfG NJW 2017, 2982 Rn. 32 ff.; zur Zwangsbehandlung eines zivilrechtlich
  186. Untergebrachten etwa Senatsbeschluss BGHZ 193, 337 = FamRZ 2012, 1366
  187. Rn. 30 ff.) und ob, sollte dies nicht der Fall sein, für den unter Betreuung stehenden Betroffenen der Anwendungsbereich des § 1906 Abs. 3 und 3a BGB aF
  188. - 10 -
  189. nach Maßgabe der verfassungsgerichtlichen Entscheidung vom 26. Juli 2016
  190. eröffnet war, bedarf hier jedoch keiner Entscheidung.
  191. 21
  192. b) Denn weder das Amts- noch das Landgericht haben das Vorliegen der
  193. Voraussetzungen für die Genehmigung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme
  194. nach § 1906 Abs. 3 und 3a BGB aF festgestellt.
  195. 22
  196. aa) Die Anwendung einer ärztlichen Zwangsbehandlung als ultima ratio
  197. kommt insbesondere in Situationen drohender erheblicher Selbstgefährdung
  198. und nur bei Betroffenen in Betracht, die aufgrund psychischer Krankheit oder
  199. geistiger oder seelischer Behinderung selbst einwilligungsunfähig sind. In eine
  200. ärztliche Zwangsmaßnahme, also in die Behandlung gegen den natürlichen
  201. Willen des Betroffenen, konnte der Betreuer nach § 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1
  202. BGB aF (jetzt: § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB) nur einwilligen, wenn es dem
  203. Betroffenen krankheits- oder behinderungsbedingt an der Fähigkeit fehlte, die
  204. Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu erkennen, oder wenn er trotz Vorliegens einer solchen Einsicht krankheits- oder behinderungsbedingt nicht nach
  205. dieser Einsicht handeln konnte (Senatsbeschluss BGHZ 201, 324 = FamRZ
  206. 2014, 1358 Rn. 10 f.).
  207. 23
  208. Mithin setzt die Genehmigung der Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme die Feststellung voraus, dass der Betroffene unter einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung leidet, aufgrund
  209. derer es ihm an einem freien Willen hinsichtlich der erforderlichen Behandlung
  210. fehlt.
  211. 24
  212. bb) Diese Feststellung lässt sich den tatrichterlichen Entscheidungen
  213. nicht entnehmen.
  214. - 11 -
  215. 25
  216. Das Amtsgericht kommt im Gegenteil zu dem Ergebnis, eine gravierende
  217. geistig-seelische Erkrankung des Betroffenen sei ebenso unwahrscheinlich wie
  218. eine psychische Störung oder eine Beeinträchtigung des intellektuellen
  219. Leistungsvermögens. Der Betroffene könne auch einen freien Willen bilden.
  220. Damit handelte es sich bei der vom Amtsgericht ausgesprochenen Genehmigung aber um einen unzulässigen Vorratsbeschluss (vgl. Senatsbeschlüsse
  221. BGHZ 193, 337 = FamRZ 2012, 1366 Rn. 38 und vom 22. September 2010
  222. - XII ZB 135/10 - FamRZ 2010, 1976 Rn. 11).
  223. 26
  224. Das Landgericht wiederum ist ohne ausreichende Tatsachengrundlage
  225. von einer psychischen Krankheit und dem Fehlen des freien Willens ausgegangen. Wie seinen Ausführungen zu entnehmen ist, hat es das Vorliegen dieser
  226. Tatbestandsmerkmale "zugunsten des Betroffenen" unterstellt, obwohl der gerichtliche Sachverständige - ebenso wie der vom Landgericht ergänzend gehörte ärztliche Direktor des Justizkrankenhauses - sich zu einer abschließenden
  227. medizinischen Beurteilung nicht imstande gesehen hat. Damit verkennt das
  228. Landgericht, dass die Genehmigung nach § 1906 Abs. 3a BGB aF (jetzt:
  229. § 1906 a Abs. 2 BGB) nur dann erteilt werden darf, wenn der Tatrichter vom
  230. Vorliegen aller Tatbestandsvoraussetzungen überzeugt ist. Diese Überzeugung
  231. lässt sich durch dem Betroffenen vermeintlich günstige, den staatlichen Eingriff
  232. in seine Grundrechte aber erst ermöglichende Annahmen nicht ersetzen.
  233. 27
  234. cc) Nachdem es bereits an tragfähigen Feststellungen zur Krankheit/Behinderung und zum freien Willen des Betroffenen fehlt, bedarf zum einen
  235. keiner Erörterung, inwieweit im Rahmen eines Hungerstreiks eines Gefangenen
  236. der ursprünglich frei gebildete Wille, keine Ernährung zu wünschen, auch über
  237. den Zeitpunkt fortwirkt, ab dem der Betroffene zu einer freien Willensbildung
  238. nicht mehr in der Lage ist (vgl. dazu etwa AK-StVollzG/Lesting 7. Aufl. Teil II
  239. § 67
  240. LandesR
  241. Rn. 56 ff.
  242. mwN;
  243. Verrel
  244. in
  245. LNNV
  246. 12. Aufl.
  247. Abschn. M
  248. - 12 -
  249. Rn. 151 mwN). Zum anderen kann dahinstehen, dass das Amtsgericht für den
  250. Betroffenen ersichtlich schon keine Betreuung hätte anordnen dürfen, weil die
  251. Tatbestandsvoraussetzungen von § 1896 Abs. 1 und 1a BGB nicht vorlagen.
  252. 28
  253. dd) Die hier angefochtene Genehmigung der Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme ist auch nicht durch § 61 JVollzGB BW II gedeckt. Denn
  254. diese Vorschrift kann unabhängig von der Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit
  255. nicht die gesetzliche Grundlage für das Tätigwerden eines Betreuers darstellen,
  256. dessen Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme hier allein genehmigt
  257. wurde. Sie kann damit auch nicht als materiell-rechtliche Entscheidungsgrundlage für das Betreuungsgericht dienen, das sich vorliegend zudem genauso
  258. wenig wie das Landgericht mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob die Voraussetzungen dieser Norm erfüllt sind.
  259. 29
  260. c) Der Betroffene ist durch die mit den angegriffenen Entscheidungen erteilte Genehmigung der Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme in seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundrechtlich geschützten körperlichen Integrität und dem vom Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mitumfassten Recht
  261. auf Selbstbestimmung hinsichtlich seiner körperlichen Integrität verletzt worden.
  262. 30
  263. Für den amtsgerichtlichen Beschluss, dessen Rechtswidrigkeit durch das
  264. Landgericht nicht - auch nicht inzident - festgestellt worden ist (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 2. September 2015 - XII ZB 226/15 - FamRZ 2015, 2050
  265. Rn. 13 f.), folgt das schon daraus, dass im Entscheidungszeitpunkt die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1906 Abs. 3 und 3a BGB aF unzweifelhaft nicht
  266. vorlagen. Aber auch hinsichtlich des Landgerichtsbeschlusses kommt eine Aufhebung und Zurückverweisung zur Nachholung bislang fehlender Feststellungen nicht in Betracht. Unabhängig davon, ob solche jetzt tatsächlich noch mög-
  267. - 13 -
  268. lich sind, ist dem Betroffenen die Verfahrensfortsetzung nicht zumutbar (vgl.
  269. Senatsbeschluss BGHZ 201, 324 = FamRZ 2014, 1358 Rn. 36).
  270. 31
  271. Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten - Genehmigung der Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme feststellen zu
  272. lassen, liegt vor. Die gerichtliche Genehmigung der Einwilligung in eine
  273. Zwangsbehandlung bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff
  274. im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 201, 324 =
  275. FamRZ 2014, 1358 Rn. 37).
  276. Dose
  277. Klinkhammer
  278. Nedden-Boeger
  279. Schilling
  280. Guhling
  281. Vorinstanzen:
  282. AG Ludwigsburg, Entscheidung vom 17.02.2017 - 4 XVII 94/17 LG Stuttgart, Entscheidung vom 22.03.2017 - 2 T 87/17 -