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22 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. Xa ZR 92/05
  5. Verkündet am:
  6. 30. April 2009
  7. Anderer
  8. Justizangestellte
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in der Patentnichtigkeitssache
  12. Nachschlagewerk: ja
  13. BGHZ:
  14. nein
  15. Betrieb einer Sicherheitseinrichtung
  16. PatG § 4
  17. Um das Begehen eines von den bisher beschrittenen Wegen abweichenden
  18. Lösungswegs nicht nur als möglich, sondern dem Fachmann nahegelegt anzusehen, bedarf es - abgesehen von den Fällen, in denen für den Fachmann auf
  19. der Hand liegt, was zu tun ist - in der Regel zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des technischen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen, Hinweise oder sonstiger Anlässe dafür, die Lösung des technischen Problems auf
  20. dem Weg der Erfindung zu suchen.
  21. BGH, Urt. v. 30. April 2009 - Xa ZR 92/05 - Bundespatentgericht
  22. -2-
  23. Der Xa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 17. März 2009 durch die Richter Prof. Dr. Meier-Beck,
  24. Keukenschrijver, die Richterin Mühlens und die Richter Dr. Lemke und
  25. Asendorf
  26. für Recht erkannt:
  27. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 13. April 2005 verkündete Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts abgeändert:
  28. Die Klage wird abgewiesen.
  29. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
  30. Von Rechts wegen
  31. -3-
  32. Tatbestand:
  33. 1
  34. Die Beklagte ist Inhaberin des am 5. September 1987 angemeldeten, im
  35. Lauf des Berufungsverfahrens nach Ablauf der Höchstschutzdauer erloschenen
  36. deutschen Patents 37 29 785 (Streitpatents), das ein Verfahren zum Betrieb
  37. einer Sicherheitseinrichtung für Fahrzeuginsassen und eine Vorrichtung zur
  38. Durchführung eines solchen Verfahrens betrifft und 5 Patentansprüche umfasst. Die Patentansprüche 1 und 3 des Streitpatents haben folgenden Wortlaut:
  39. "1. Verfahren zum Betrieb einer Sicherheitseinrichtung für Fahrzeuginsassen mit
  40. einem Speicherelement für elektrische Energie, sowie mit mehreren, mit dem
  41. Speicherelement verbindbaren Auslösemitteln für Rückhaltevorrichtungen
  42. wie Gassack oder Gurtstraffer, dadurch gekennzeichnet, dass nach Betätigung jedes Auslösemittels die dem Auslösemittel zugeführte Energie gemessen wird und dass nach Erreichen des festlegbaren Energiegrenzwertes die
  43. Energiezufuhr zu dem zuvor betätigten Auslösemittel unterbrochen wird.
  44. 3. Vorrichtung zur Durchführung des Verfahrens zu einem der Ansprüche 1 und
  45. 2, dadurch gekennzeichnet, dass die Auslösemittel (14a bzw. 14b bzw. 14c)
  46. in bekannter Weise mittels durch eine Auswerteeinrichtung (10) ansteuerbarer Schalteinrichtungen (11a bzw. 11b bzw. 11c) zur Bildung eines geschlossenen Stromkreises mit einem elektrische Energie speichernden Speicherelement (C12) verbindbar sind."
  47. 2
  48. Wegen der abhängigen Patentansprüche 2, 4 und 5 des Streitpatents
  49. wird auf die Patentschrift verwiesen.
  50. 3
  51. Die von der Beklagten wegen Verletzung des Streitpatents gerichtlich in
  52. Anspruch genommene Klägerin hat dessen Nichtigerklärung mit der Begründung beantragt, der Gegenstand des Streitpatents sei gegenüber dem Stand
  53. der Technik, wie ihn u.a. die deutschen Offenlegungsschriften 22 22 038 (D15),
  54. 22 25 709 (D9), 24 54 424 (D13), 25 16 354 (D16), 26 12 215 (D14), 28 51 333
  55. (D10), die Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung 22 146 (D11),
  56. die US-Patentschrift 4 222 030 (D12) und verschiedene Literaturstellen bilde-
  57. -4-
  58. ten, nicht patentfähig. Sie hat sich weiter auf mehrere nachveröffentlichte, aber
  59. zeitrangältere Patentveröffentlichungen gestützt.
  60. 4
  61. Die Beklagte, die der Klage entgegengetreten ist, hat das Streitpatent in
  62. seiner der Patenterteilung zugrunde liegenden Fassung sowie hilfsweise in einer eingeschränkten Fassung verteidigt.
  63. 5
  64. Das Bundespatentgericht hat das Streitpatent in vollem Umfang für nichtig erklärt.
  65. 6
  66. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Sie beantragt in
  67. erster Linie, unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen. Sie stützt sich im Berufungsverfahren ergänzend u.a. auf die US-Patentschrift 4 497 025 (BB7).
  68. 7
  69. Im Auftrag des Senats hat Professor Dr.-Ing. W.
  70. M.
  71. ,
  72. , ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und
  73. ergänzt hat.
  74. Entscheidungsgründe:
  75. 8
  76. I.
  77. Die Klage ist nach Ablauf des Streitpatents zulässig, weil der gericht-
  78. lich aus dem Streitpatent in Anspruch genommenen Klägerin ein eigenes
  79. Rechtsschutzbedürfnis an der Nichtigerklärung zur Seite steht (st. Rspr., vgl.
  80. nur BGH, Urt. v. 12.12.2006 - X ZR 131/02, GRUR 2007, 309 - Schussfäden-
  81. -5-
  82. transport; v. 24.4.2007 - X ZR 201/02, GRUR 2008, 90 - Verpackungsmaschine; v. 16.10.2007 - X ZR 226/02, GRUR 2008, 60 - Sammelhefter II).
  83. 9
  84. II. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zum Betrieb einer Sicherheitseinrichtung für Fahrzeuginsassen und eine Vorrichtung zur Durchführung des
  85. Verfahrens.
  86. 10
  87. 1. Nach der Beschreibung des Streitpatents ist bei bekannten Sicherheitseinrichtungen ein (Hilfs-)Speicherelement für elektrische Energie vorgesehen, damit die Sicherheitseinrichtung auch noch dann betätigt werden kann,
  88. wenn beispielsweise durch einen Fahrzeugcrash die Verbindung zur Hauptenergiequelle des Fahrzeugs unterbrochen ist. Die Auslösung der Sicherheitseinrichtung erfolgt vielfach durch elektrisch zu betätigende Auslösemittel wie
  89. Zündpillen, die bei Stromdurchfluss erhitzt werden und dadurch eine pyrotechnische Reaktion in Gang setzen, aber nach der Zündung zu unerwünschten
  90. Nebenschlüssen mit nicht vorhersehbaren Widerstandswerten neigen, die die
  91. begrenzte Energiereserve des Speicherelements beanspruchen, so dass diese
  92. nicht mehr dafür ausreicht, weitere Auslösemittel zu betätigen.
  93. 11
  94. 2. Durch das Streitpatent soll bewirkt werden, dass sämtliche Auslösemittel sicher ausgelöst werden.
  95. 12
  96. 3. Hierzu soll durch Patentanspruch 1 des Streitpatents ein Verfahren
  97. zum Betrieb einer Sicherheitseinrichtung für Fahrzeuginsassen zur Verfügung
  98. gestellt werden, bei dem
  99. (1)
  100. ein Speicherelement für elektrische Energie vorhanden ist,
  101. (2)
  102. mehrere Auslösemittel für Rückhaltevorrichtungen mit dem
  103. Speicherelement verbindbar sind,
  104. -6-
  105. (3)
  106. nach Betätigung eines (jedes) Auslösemittels die dem Auslösemittel zugeführte Energie gemessen und
  107. (4)
  108. die Energiezufuhr zu dem zuvor betätigten Auslösemittel nach
  109. Erreichen eines festgelegten (festlegbaren) Energiegrenzwerts
  110. unterbrochen wird.
  111. 4. Das dem Patent zugrunde liegende System besteht aus einer elekt-
  112. 13
  113. romechanischen Vorrichtung mit einer Energiequelle (Merkmal 1) und einem
  114. System zur Übertragung elektrischer Energie (wie sich aus Merkmal 2 ergibt),
  115. wobei die Energieübertragung ein- oder ausgeschaltet (gesteuert) werden kann
  116. (Merkmale 3 und 4). Als Speicherelement kann dabei insbesondere ein Kondensator verwendet werden. Zu der Frage, wieviel Energie dem Auslösemittel
  117. zugemessen werden muss, trifft Patentanspruch 1 keine Aussage. Vielmehr
  118. wird erfindungsgemäß bei der Einrichtung des Systems ein Grenzwert festgelegt, nach dessen Erreichung die Energiezufuhr zum Auslösemittel abgeschaltet wird. Diesen Grenzwert wird der Fachmann, ein an einer Hochschule oder
  119. Fachhochschule ausgebildeter Diplomingenieur der Elektrotechnik mit mehrjähriger Berufserfahrung auf dem Gebiet der Entwicklung von Insassensicherheitssystemen, zweckmäßigerweise so wählen, dass er etwas über der Energiemenge liegt, die für die zuverlässige Betätigung des Auslösemittels benötigt
  120. wird.
  121. 14
  122. III. Die Berufung führt unter Abänderung des angefochtenen Urteils zur
  123. Abweisung der Nichtigkeitsklage.
  124. 15
  125. 1. Die bereits im Einspruchsverfahren gegen das Streitpatent berücksichtigte, im Jahr 1975 veröffentlichte deutsche Offenlegungsschrift 25 16 354
  126. (D16) beschreibt ein Sicherheitssystem für Fahrzeuginsassen, bei dem verzögerungsempfindliche Einrichtungen beim Überschreiten eines vorgegebenen
  127. -7-
  128. Verzögerungswerts einen Zündstromkreis für Elektrosprengsätze schließen.
  129. Nach der Beschreibung (S. 3 dritter Abs.) hat sich gezeigt, dass bei der Explosion solcher Sprengsätze die zugehörigen elektrischen Verbindungen kurzgeschlossen werden können, was infolge einer schnellen Entladung die in der
  130. Offenlegungsschrift vorgesehene Hilfsstromquelle unwirksam macht. Auch
  131. können das Zünden und der Kurzschluss eines Sprengsatzes ein nachfolgendes Zünden der übrigen Sprengsätze verhindern, wodurch der gewünschte
  132. Schutz für andere Fahrgäste u.U. nicht mehr gegeben ist (S. 3 vierter Abs.). Es
  133. wird daher vorgeschlagen, dass die verzögerungsempfindlichen Einrichtungen
  134. in Reihe mit den ihnen jeweils zugeordneten Elektrosprengsätzen geschaltet
  135. und an den Ausgang einer Stromversorgung angeschlossen sind, die aus der
  136. Fahrzeugbatterie und einer weiteren Hilfsstromquelle besteht, und dass in den
  137. Stromkreis jedes Elektrosprengsatzes eine Sicherung eingeschaltet wird, deren
  138. Ansprechcharakteristik so gewählt ist, dass sie den zugehörigen Stromkreis im
  139. Kurzschlussfall oder in einem kurzschlussähnlichen Fall von der Stromversorgung trennt. Nach einem Ausführungsbeispiel schließt die Stromversorgung
  140. eine Hilfsstromquelle ein, die einen Kondensator aufweisen kann (S. 5 zweiter
  141. Abs.). Die Zündleitung verläuft über eine verzögerungsempfindliche Einrichtung
  142. zur Ausgangsleitung der Stromversorgung, eine weitere Zündleitung über eine
  143. in Reihe geschaltete Sicherung und eine weitere verzögerungsempfindliche
  144. Einrichtung ebenfalls zur Ausgangsleitung der Stromversorgung. Jede der verzögerungsempfindlichen Einrichtungen enthält einen im Normalzustand offenen
  145. Schalter, der bei einem vorgegebenen Verzögerungswert anspricht und geschlossen wird (S. 7). Die Sicherung enthält eine Sicherungspatrone und ist so
  146. dimensioniert, dass sie zunächst nicht anspricht, damit nach Betätigung der
  147. (zweiten) verzögerungsempfindlichen Einrichtung einer oder mehrere der
  148. Sprengsätze zwecks Zündung mit einem genügend großen Strom versorgt
  149. wird. Sie spricht aber an und unterbricht den Stromkreis, wenn die Amplitude
  150. des Zündstroms bedeutend höher wird (S. 8). Die Leistungsfähigkeit der Hilfs-
  151. -8-
  152. stromquelle ist nicht viel größer als erforderlich. Um zu verhindern, dass diese
  153. so schnell entladen wird, dass eine Zündung nicht mehr möglich ist, soll die
  154. Charakteristik der Sicherung, hier einer Schmelzsicherung, so gewählt werden,
  155. dass der Kurzschlussstromkreis von der Ausgangsleitung abgetrennt wird, so
  156. dass selbst bei unterbrochener Verbindung zwischen Hilfsstromquelle und Autobatterie die Hilfsstromquelle noch zur Zündung der Sprengsätze ausreicht
  157. (S. 9).
  158. 16
  159. 2. Die Patentabteilung des Deutschen Patent- und Markenamts hat im
  160. Einspruchsverfahren diese Entgegenhaltung nicht als der Patentfähigkeit entgegenstehend angesehen, weil die Aufgabe, die nachteiligen Folgen von Nebenschlüssen zu vermeiden, nicht erfüllt werde. Wenn in dem betätigten Auslösemittel keine kurzschlussartige Verbindung, sondern über einen Nebenschluss
  161. eine nur geringe Leitfähigkeit vorhanden sei, bleibe die Sicherung zumindest
  162. über eine längere Zeitspanne leitend, so dass über den Nebenschluss ein unerwünschter Energieabfluss aus dem Speicherelement erfolgen könne. Dagegen werde im Streitpatent nicht die Leitfähigkeit der betätigten Auslösemittel
  163. oder eine über dem normalen Auslöseniveau liegende Stromstärke, sondern
  164. die den Auslösemitteln zugeführte oder die noch im Speicher vorhandene Energiemenge herangezogen, wobei das Messen jeweils nach dem Betätigen
  165. eines Auslösemittels erfolge, und bei Überschreiten eines Energiegrenzwerts
  166. die Energiezufuhr zu dem zuvor betätigten Auslösemittel unterbrochen werde.
  167. Dadurch könnten auch Energieverluste erfasst werden, auf die eine Sicherung
  168. nicht reagiere. Wegen dieser unterschiedlichen Wirkung handle es sich beim
  169. Streitpatent nicht um eine zu der bekannten äquivalente Lösung, vielmehr sei
  170. ein zu einer anderen Wirkung führender und damit nicht nahegelegter Weg beschritten worden.
  171. -9-
  172. 17
  173. 3. Das Patentgericht hat seine abweichende Beurteilung wie folgt begründet: Die bekannten Werte für die Schmelzzeit und den Schmelzstrom der
  174. in der deutschen Offenlegungsschrift verwendeten Sicherung ließen - allerdings
  175. mit einer gewissen Unsicherheit - Rückschlüsse auf die dem Auslösemittel bis
  176. zum Schmelzen der Sicherung zugeführte Energie zu. Da sich der elektrische
  177. Widerstandswert eines Nebenschlusses in weiten Grenzen zufällig ergebe und
  178. vorher nicht bekannt sei, sei offensichtlich eine optimale, den jeweiligen Wert
  179. des Nebenschlusses berücksichtigende Dimensionierung der Schmelzsicherungen nicht möglich. Zudem seien die Schmelzsicherungen nicht in der Lage,
  180. Kriechströme zu erfassen, da diese den Schmelzdraht nicht in ausreichendem
  181. Maß erwärmten. Dies führe dazu, dass unter ungünstigen Umständen der begrenzte Energievorrat des Speicherelements durch Kriechströme und nicht optimale Dimensionierung der Sicherung so stark beansprucht werde, dass eine
  182. Betätigung von weiteren Auslösemitteln nicht mehr möglich sei. Bei der Entwicklung von Sicherheitseinrichtungen für Kraftfahrzeuge sei deren zuverlässige Funktion jedoch von größter Bedeutung. Es sei daher zwingend erforderlich,
  183. dass der Energievorrat des Speicherelements für alle Auslösemittel ausreiche.
  184. Deshalb habe der Fachmann Veranlassung, die dem Auslösemittel zugeführte
  185. Energie genauer als nur durch den Auslösezeitpunkt einer Schmelzsicherung
  186. zu erfassen. Zu seinem Fachwissen gehöre es, dass eine Messung der zugeführten Energie zu vergleichsweise genaueren Ergebnissen führe. Daher liege
  187. es für ihn nahe, nach Betätigung jedes Auslösemittels die dem Auslösemittel
  188. zugeführte Energie zu messen und nach Erreichen eines festlegbaren Energiegrenzwerts die Energiezufuhr zu dem zuvor betätigten Auslösemittel zu unterbrechen. Als einfachste und kostengünstigste Lösung biete es sich an, das
  189. Schaltelement, das zur Betätigung des Auslösemittels geschlossen wurde,
  190. wieder zu öffnen.
  191. - 10 -
  192. 18
  193. 4. Der Beurteilung durch das Patentgericht vermag der Senat nicht beizutreten; er kann deshalb nicht zu der Wertung gelangen, dass das Streitpatent
  194. nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhe (§ 4 PatG).
  195. 19
  196. Zwar mag es zutreffen, dass die Werte für die Schmelzzeit und den
  197. Schmelzstrom der in der deutschen Offenlegungsschrift verwendeten Sicherung Rückschlüsse auf die dem Auslösemittel bis zum Schmelzen der Sicherung zugeführte Energie zulassen. Bei der hierauf gestützten Annahme, der
  198. Fachmann habe Veranlassung, die dem Auslösemittel zugeführte Energie genauer als nur durch den Auslösezeitpunkt einer Schmelzsicherung zu erfassen,
  199. bleibt jedoch unberücksichtigt, dass die bekannte Sicherung nicht auf der Erfassung der dem Auslösemittel zugeführten Energie beruht, sondern auf dem
  200. Gedanken, den Stromkreis zu unterbrechen, wenn die Amplitude des Zündstroms bedeutend höher ist (9-10 A bei einer Dauer von 4-5 msec) als bei der
  201. Zündung eines Sprengsatzes (ca. 0,5 A bei einer Dauer von 1-2 msec). Da deren eigene Charakteristik über das Ansprechen der Schmelzsicherung entscheidet, besteht kein Anlass, die dem Auslösemittel zugeführte Energie zu
  202. erfassen; sie ist vielmehr nur insofern von Bedeutung, als die Sicherung nicht
  203. durchbrennen soll, wenn der Verzögerungsschalter (62) schließt und die
  204. Sprengsätze zünden (Beschr. S. 8, Abs. 2), und sie folglich entsprechend ausgelegt werden muss. Die bekannte Sicherung, bei der es sich allerdings nicht
  205. um eine Schmelzsicherung handeln muss, spricht gerade nicht an, wenn dem
  206. Auslösemittel die ihm zugemessene Energie zugeführt und mithin aus der Hilfsstromquelle abgeführt worden ist. Das Streitpatent nutzt demgegenüber diese
  207. zugemessene (Sp. 2 Z. 31 - 34) Energie zuzüglich eines Sicherheitszuschlags,
  208. um die Energiezufuhr zu unterbrechen, kann auf diese Weise verhindern, dass
  209. die Energiereserve der Hilfsstromquelle in kritischer Weise verringert wird, und
  210. benötigt deshalb keine Sicherung.
  211. - 11 -
  212. 20
  213. Angesichts dessen ist nicht ersichtlich, was den Fachmann zu einem
  214. derartigen Perspektivwechsel veranlassen konnte. Allein, dass es der Fachwelt
  215. bekannt war, dass die von der Hilfsenergiequelle zur Verfügung gestellte Energiemenge schon aus Gründen der möglichen Baugröße begrenzt ist, aber
  216. gleichwohl bei Unterbrechung der Energiezufuhr aus der Hauptenergiequelle
  217. (d.h. der Fahrzeugbatterie) mehrere elektromechanische Einrichtungen von der
  218. in der Hilfsenergiequelle (d.h. einem Kondensator) gespeicherten Energie versorgt werden sollen, dass weiter die für alle Auslöseeinrichtungen benötigte
  219. Energie zur Verfügung stehen muss und dass schließlich Situationen auftreten
  220. können, in denen die Zündpille nach ihrer Auslösung weiter leitfähig bleibt (vgl.
  221. die Hinweise hierauf in der deutschen Offenlegungsschrift 25 16 354 - D16
  222. - Beschr. S. 3), sowie die Erkenntnis, dass der Widerstand der gezündeten
  223. Zündpille, die nicht vollständig durchgebrochen ist, in weiten Grenzen variieren
  224. kann (vgl. das schriftliche Gerichtsgutachten), reichen nicht dafür aus, die Wertung zu begründen, dass die im Streitpatent vorgeschlagene und unter Schutz
  225. gestellte Lösung für den Fachmann naheliegend war. Zwar hat der gerichtliche
  226. Sachverständige es für praktisch zwingend gehalten, dass ein Fachmann, der
  227. eine Auslöseschaltung wie diejenige nach der deutschen Offenlegungsschrift
  228. unter dem Blickwinkel der möglichst effektiven Verwendung einer begrenzten
  229. Energiereserve analysierte, eine Verbesserung oder Verfeinerung der verwendeten Sicherungen nicht als weiterführend erkannte und sich statt dessen einer
  230. Messung des Energieverbrauchs zuwandte. Konkrete Vorbilder für diesen
  231. Wechsel des Blickwinkels hat der Sachverständige jedoch nicht angeben können; sie werden auch im Vortrag der Klägerin nicht aufgezeigt. Es bleibt daher
  232. ein aus der Sachlogik des technischen Problems begründetes Postulat, dass
  233. der Fachmann den Weg der Erfindung als den als sachgerecht erkennbaren
  234. hätte gehen müssen. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass die technische Entwicklung nicht notwendigerweise diejenigen Wege geht, die sich bei nachträglicher
  235. Analyse der Ausgangsposition als sachlich plausibel oder gar mehr oder weni-
  236. - 12 -
  237. ger zwangsläufig darstellen. Um das Begehen eines von den bisher beschrittenen Wegen abweichenden Lösungswegs nicht nur als möglich, sondern dem
  238. Fachmann nahegelegt anzusehen, bedarf es daher - abgesehen von denjenigen Fällen, in denen für den Fachmann auf der Hand liegt, was zu tun ist - in
  239. der Regel zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des technischen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen, Hinweise oder sonstiger Anlässe dafür,
  240. die Lösung des technischen Problems auf dem Weg der Erfindung zu suchen.
  241. Dafür hat die Erörterung mit dem gerichtlichen Sachverständigen jedoch nichts
  242. ergeben.
  243. 21
  244. Das Naheliegen kann auch nicht damit begründet werden, dass sich die
  245. Fachwelt in einer "Einbahnstraßensituation" befunden habe, die keine anderen
  246. Möglichkeiten als die des Streitpatents zugelassen habe (vgl. nur EPA, Technische Beschwerdekammer, T 2/83 ABl. EPA 1984, 265 = GRUR Int. 1984, 527
  247. - Simethicon-Tablette, Entscheidungsgründe unter 6; EPA, Technische Beschwerdekammer, T 192/82 ABl. EPA 1984, 415, 425 - Formmassen, Entscheidungsgründe unter 16; BGH, Urt. v. 8.7.2008 - X ZR 189/03, GRUR 2008,
  248. 885 - Schalungsteil, Tz. 29). Eine solche "Einbahnstraßensituation" war hier
  249. nämlich nicht gegeben. Dem Fachmann standen auch andere Möglichkeiten
  250. zur Verfügung, die Unzulänglichkeiten, die sich aus der Lösung in der deutschen Offenlegungsschrift 25 16 354 ergaben, zu beherrschen. Hierzu ist in
  251. erster Linie auf den Aufsatz "The Daimler-Benz Development of a Final Production Air Bag", von Hans-Jürgen Scholz, VIIIth International Technical Conference on Experimental Safety Vehicles, Wolfsburg, 1980 (D6) zu verweisen, der in
  252. seiner Abbildung (Illustration) 3 eine Lösung vorsieht, bei der die Energiezufuhr
  253. zu der Auslöseeinrichtung über Schalter nur für eine begrenzte Zeit ermöglicht
  254. wird, weiter auf die in der prioritätsälteren, allerdings nachveröffentlichten europäischen Patentanmeldung 284 728 (D19) vorgeschlagene Schaltungsanordnung, die zeigt, dass auch über komplexere schaltungstechnische Anordnun-
  255. - 13 -
  256. gen, hier eine Sperre (vgl. Beschr. Sp. 2 Z. 3), ein schädlicher Energieabfluss
  257. vermieden werden kann. Auch wenn die letztgenannte Lösung zum Anmeldezeitpunkt des Streitpatents nicht ohne erfinderischen Aufwand zu erreichen
  258. gewesen sein mag, was - ohne dass dies hier entschieden werden muss - allenfalls der Anwendung der "Einbahnstraßensituation"-Praxis entgegenstehen
  259. könnte, steht dennoch jedenfalls die bekannte Lösung von Scholz (D6) der Bejahung einer "Einbahnstraßensituation" entgegen.
  260. 22
  261. 5. Die übrigen Entgegenhaltungen kommen dem Streitpatent jedenfalls
  262. nicht näher; sie haben im Berufungsverfahren keine Rolle mehr gespielt.
  263. 23
  264. 6. Patentanspruch 3 hat in der Sache nichts anderes als die Formulierung der in Patentanspruch 1 als Verfahrensanspruch niedergelegten Lehre in
  265. Form eines Sachanspruchs zum Gegenstand. Denn mit der Zweckangabe
  266. "Vorrichtung zur Durchführung des Verfahrens zu einem der Ansprüche 1 und
  267. 2" erfordert Patentanspruch 3 eine Vorrichtung, die so ausgestaltet ist, dass mit
  268. ihr die dem Auslösemittel zugeführte Energie gemessen werden kann (vgl.
  269. BGH, Urt. v. 7.6.2006 - X ZR 105/04, GRUR 2006, 923 - Luftabscheider für
  270. Milchsammelanlage, m.w.N.). Die Gesichtspunkte, die der Beurteilung der
  271. Schutzfähigkeit von Patentanspruch 1 zugrunde liegen, gelten daher zu Patentanspruch 3 gleichermaßen.
  272. 24
  273. 7. Mit den Patentansprüchen 1 und 3 haben auch die auf diese rückbezogenen Patentansprüche 2, 4 und 5 Bestand.
  274. - 14 -
  275. 25
  276. IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 2 PatG i.V.m.
  277. § 91 ZPO.
  278. Meier-Beck
  279. Keukenschrijver
  280. Lemke
  281. Mühlens
  282. Asendorf
  283. Vorinstanz:
  284. Bundespatentgericht, Entscheidung vom 13.04.2005 - 4 Ni 39/04 -