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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. VI ZR 248/10
  5. Verkündet am:
  6. 11. Oktober 2011
  7. Böhringer-Mangold,
  8. Justizamtsinspektorin
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk:
  13. ja
  14. BGHZ:
  15. nein
  16. BGHR:
  17. ja
  18. SGB VII § 106 Abs. 3 Fall 3
  19. Zu den Voraussetzungen der gemeinsamen Betriebsstätte.
  20. BGH, Urteil vom 11. Oktober 2011 - VI ZR 248/10 - OLG Schleswig
  21. LG Lübeck
  22. - 2 -
  23. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  24. vom 11. Oktober 2011 durch den Vorsitzenden Richter Galke, den Richter Zoll,
  25. die Richterin Diederichsen, den Richter Pauge und die Richterin von Pentz
  26. für Recht erkannt:
  27. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 7. Zivilsenats des
  28. Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom
  29. 9. September 2010 aufgehoben.
  30. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
  31. über die Kosten der Revision und der Streithelferin, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  32. Von Rechts wegen
  33. Tatbestand:
  34. 1
  35. Der Kläger verlangt materiellen Schadensersatz, Schmerzensgeld und
  36. die Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten für die Folgen eines Unfalls.
  37. 2
  38. Der Kläger ist bei der Streithelferin angestellter Schiffbauer. Der Beklagte ist Eigner des Binnenschiffes "MS V.
  39. ". Das Schiff lag seit
  40. 20. November 2006 zur Durchführung verschiedener Arbeiten auf der Werft der
  41. Streithelferin. Die Werft sollte u.a. einen neuen Schiffsboden aus Stahlplatten
  42. einziehen, wobei sich der Beklagte Arbeiten zur Erledigung in Eigenregie vor-
  43. - 3 -
  44. behielt. Am 23. November 2006 gegen 8.20 Uhr versuchte der Beklagte die Luke über dem Laderaum 2 mit einem Lukendeckel zu schließen. Dabei verrutschte der Lukendeckel und fiel auf den Kläger, der etwa 3,5 m unterhalb der
  45. Lukenöffnung im Innenraum des Schiffes arbeitete. Der Beklagte macht geltend, er sei durch einen Werftarbeiter aufgefordert worden, den Deckel zu
  46. schließen, um die Arbeiter im Lagerraum vor Regen zu schützen. Der Kläger
  47. erlitt schwere Verletzungen, derentwegen die Berufsgenossenschaft Metall
  48. Nord Süd Leistungen erbringt.
  49. 3
  50. Das Landgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Die Betreiberin der Werft ist mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2007, eingegangen bei
  51. Gericht am 26. Oktober 2007, auf Seiten des Klägers als Streithelferin dem
  52. Rechtsstreit beigetreten. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht das Urteil des Landgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der
  53. vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
  54. Entscheidungsgründe:
  55. I.
  56. 4
  57. Das Berufungsgericht hat Ansprüche des Klägers gegen den Beklagten
  58. verneint, weil diesem die Haftungsprivilegierung gemäß § 106 Abs. 3 Fall 3,
  59. § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII zugutekomme. Für den Kläger handle es sich um
  60. einen gesetzlich versicherten Arbeitsunfall. Dem Beklagten komme die Haftungsfreistellung nach § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII als versichertem Unternehmer zugute. Er habe zusammen mit dem Kläger eine vorübergehende betriebliche Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichtet. Bereits nach den
  61. - 4 -
  62. Vereinbarungen zu den Werkleistungen der Werft und den Eigenleistungen des
  63. Klägers sei nicht lediglich ein zufälliges Nebeneinander des Handelns der Parteien im Bereich des Schiffes anzunehmen. Die Eigenarbeiten des Beklagten
  64. und die Auftragsarbeiten der Werft, mithin die Arbeitstätigkeit des Klägers, seien aufeinander bezogen, miteinander verknüpft und auf gegenseitige Ergänzung ausgerichtet gewesen; so sei die Entfernung der Holzstrau, die der Beklagte in Eigenarbeit vorgenommen habe, Voraussetzung für das nachfolgende
  65. Einziehen der Stahlplatten durch die Mitarbeiter der Werft gewesen; die Tätigkeiten hätten sich mithin gegenseitig ergänzt. Auf eine vorübergehende Eingliederung in den anderen Betrieb komme es nicht an. Das Verschieben des Lukendeckels habe jedenfalls aus der Sicht des Beklagten eine Hilfeleistung für
  66. die Mitarbeiter der Werft dargestellt. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Beklagte mit dem Versetzen des Lukendeckels für die Werft bzw. für den Kläger
  67. tätig werden wollte, um die Arbeiter im Schiffsinneren vor dem einsetzenden
  68. Regen zu schützen. Ausreichend sei, dass die Arbeitsstätte des Beklagten im
  69. Einflussbereich des Unfallbetriebes liege.
  70. II.
  71. 5
  72. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht
  73. stand. Die Annahme des Berufungsgerichts, dem Beklagten komme das Haftungsprivileg des § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII zugute, erweist sich als rechtsfehlerhaft.
  74. 6
  75. 1. Die Revision wendet sich - als ihr günstig - nicht dagegen, dass sich
  76. das Berufungsgericht zu den materiellen Haftungsvoraussetzungen gemäß
  77. § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. den §§ 249 ff. BGB nicht geäußert hat. Hierzu bestand
  78. aus Sicht des Berufungsgerichts auch keine Veranlassung. Sie rügt jedoch mit
  79. - 5 -
  80. Recht, dass das Berufungsgericht die Haftungsprivilegierung des Beklagten
  81. gemäß § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII bejaht hat.
  82. 7
  83. a) Zwar ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass
  84. die Haftungsprivilegierung des § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII dem Unternehmer
  85. als Schädiger nur dann zugute kommt, wenn er im Zeitpunkt der Schädigung
  86. selbst Versicherter der gesetzlichen Unfallversicherung war (ständige Rechtsprechung vgl. Senatsurteile vom 3. Juli 2001 - VI ZR 198/00, BGHZ 148, 209,
  87. 212 f.; vom 16. Dezember 2003 - VI ZR 103/03, BGHZ 157, 213, 216; vom
  88. 25. Juni 2002 - VI ZR 279/01, VersR 2002, 1107; vom 29. Oktober 2002 - VI ZR
  89. 283/01, VersR 2003, 70, 71; vom 14. September 2004 - VI ZR 32/04, VersR
  90. 2004, 1604, 1605; vom 14. Juni 2005 - VI ZR 25/04, VersR 2005, 1397, 1398;
  91. vom 13. März 2007 - VI ZR 178/05, VersR 2007, 948 Rn. 17 und vom 17. Juni
  92. 2008 - VI ZR 257/06, BGHZ 177, 97 Rn. 11, 17). Es hat hierzu aber keine Feststellungen getroffen. Soweit die Revisionserwiderung den Beitragsbescheid für
  93. 2009 in der Anlage zur Revisionserwiderungsschrift vorgelegt hat, besagt dieser
  94. nichts für die Versicherteneigenschaft im fraglichen Zeitraum des Jahres 2006.
  95. Auf die Frage, ob der Bescheid für 2009 in der Revisionsinstanz überhaupt zu
  96. berücksichtigen ist, kommt es schon deshalb nicht an.
  97. 8
  98. b) Der erkennende Senat teilt auch nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, dass es zum Unfall bei einer vorübergehenden betrieblichen Tätigkeit
  99. der Parteien auf einer gemeinsamen Betriebsstätte gekommen sei. Zwar legt
  100. das Berufungsgericht der Prüfung die zutreffende Definition der gemeinsamen
  101. Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII zugrunde. Es gibt
  102. auch zutreffend die Merkmale wieder, die nach ständiger Rechtsprechung des
  103. erkennenden Senats für die "gemeinsame" Betriebsstätte prägend sind.
  104. - 6 -
  105. 9
  106. aa) Doch lässt das Berufungsgericht außer Betracht, dass im Streitfall
  107. die Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsituation fehlt, die die "gemeinsame" Betriebsstätte entscheidend kennzeichnet
  108. (vgl. Senatsurteile vom 23. Januar 2001 - VI ZR 70/00, VersR 2001, 372, 373;
  109. vom 14. September 2004 - VI ZR 32/04, aaO S. 1604 f.; vom 8. Juni 2010
  110. - VI ZR 147/09, VersR 2010, 1190 Rn. 14, 16; vom 1. Februar 2011 - VI ZR
  111. 227/09, VersR 2011, 500 Rn. 7 und vom 10. Mai 2011 - VI ZR 152/10, VersR
  112. 2011, 882 Rn. 12). Die Beurteilung, ob in einer Unfallsituation eine "gemeinsame Betriebsstätte" vorlag, muss sich auf konkrete Arbeitsvorgänge beziehen
  113. (vgl. Senatsurteil vom 1. Februar 2011 - VI ZR 227/09, aaO Rn. 7 und 9). Es
  114. kommt darauf an, dass in der konkreten Unfallsituation eine gewisse Verbindung der Tätigkeiten als solchen, die sich als bewusstes Miteinander im Betriebsablauf darstellt und im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander
  115. bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet ist, gegeben ist. Der Haftungsausschluss nach § 106
  116. Abs. 3 Fall 3 SGB VII ist (nur) im Hinblick auf die zwischen den Tätigen verschiedener Unternehmen bestehende Gefahrengemeinschaft gerechtfertigt (vgl.
  117. dazu Senatsurteil vom 16. Dezember 2003 - VI ZR 103/03, aaO S. 218 mwN).
  118. Er knüpft daran an, dass eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als
  119. solchen in der konkreten Unfallsituation gegeben ist (vgl. Senatsurteile vom
  120. 23. Januar 2001 - VI ZR 70/00, aaO; vom 14. September 2004 - VI ZR 32/04,
  121. aaO; vom 8. Juni 2010 - VI ZR 147/09, aaO Rn. 14; vom 1. Februar 2011
  122. - VI ZR 227/09, aaO und vom 10. Mai 2011 - VI ZR 152/10, aaO).
  123. 10
  124. Nach den Umständen des Streitfalls ist bezogen auf den Unfallzeitpunkt
  125. ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken des Klägers mit
  126. dem Beklagten nicht gegeben. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der
  127. Beklagte versuchte, einen Lukendeckel über die Luke zu fahren, während der
  128. Kläger mit dem Einbau des Stahlbodens befasst war. Selbst wenn der Beklagte
  129. - 7 -
  130. die Luke im Hinblick auf den einsetzenden Regen verschließen wollte, war der
  131. Kläger zur Erbringung seiner Arbeiten darauf weder angewiesen noch hingen
  132. die Werkleistungen der übrigen Mitarbeiter der Streithelferin davon ab, dass die
  133. Luke geschlossen würde. Es fehlt sowohl das notwendige Miteinander im Arbeitsablauf als auch der wechselseitige Bezug der betrieblichen Aktivitäten. Ein
  134. Zusammenwirken der Parteien im konkreten Arbeitsvorgang war zu diesem
  135. Zeitpunkt nicht gegeben. Die Tätigkeit des Beklagten war nicht in einem faktischen Miteinander mit der des Klägers aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet, so
  136. dass die für eine "gemeinsame Betriebsstätte" typische Gefahr bestanden hätte, dass sich die Parteien bei den versicherten Tätigkeiten ablaufbedingt in die
  137. Quere kommen konnten (vgl. dazu Senatsurteil vom 16. Dezember 2003
  138. - VI ZR 103/03, aaO S. 217).
  139. 11
  140. bb) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wird die "gemeinsame Betriebsstätte" nicht durch vertragliche Vereinbarungen und deren Erfüllung begründet. Die vertraglichen oder sonstigen Beziehungen, die zu dem Tätigwerden der Arbeitnehmer verschiedener Unternehmen führen, spielen für die
  141. Beurteilung, ob eine gemeinsame Betriebsstätte vorliegt, keine maßgebliche
  142. Rolle. Zwar kann die notwendige Arbeitsverknüpfung im Einzelfall auch dann
  143. bestehen, wenn die von den Beschäftigten verschiedener Unternehmen vorzunehmenden Maßnahmen sich nicht sachlich ergänzen und unterstützen, die
  144. gleichzeitige Ausführung der betreffenden Arbeiten wegen der räumlichen Nähe
  145. aber eine Verständigung über den Arbeitsablauf erfordert und hierzu konkrete
  146. Absprachen getroffen werden. Das ist etwa dann der Fall, wenn ein zeitliches
  147. und örtliches Nebeneinander dieser Tätigkeiten nur bei Einhaltung von besonderen beiderseitigen Vorsichtsmaßnahmen möglich ist und die Beteiligten solche vereinbaren (vgl. Senatsurteile vom 17. Juni 2008 - VI ZR 257/06, aaO
  148. Rn. 19; vom 8. April 2003 - VI ZR 251/02, VersR 2003, 904, 905; vom 13. März
  149. - 8 -
  150. 2007 - VI ZR 178/05, aaO Rn. 22 und vom 8. Juni 2010 - VI ZR 147/09, aaO
  151. Rn. 16 und vom 1. Februar 2011 - VI ZR 227/09, aaO Rn. 10; Senatsbeschluss
  152. vom 23. Juli 2002 - VI ZR 91/02, BGHZ 152, 7, 9). Eine solche Verständigung
  153. über ein bewusstes Nebeneinander im Arbeitsablauf hat es im Streitfall nach
  154. den getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts gerade nicht gegeben.
  155. Vielmehr verständigten sich die Streithelferin und der Beklagte über einen sukzessiven Arbeitsablauf. Der Beklagte war in den Ablauf der Werftarbeiten nicht
  156. eingebunden, daran beteiligt oder auch nur davon berührt. Eine Gefahr, dass
  157. der Kläger bei seinen Tätigkeiten dem Beklagten einen Schaden zufügen könnte, war wegen des fehlenden Miteinanders des Arbeitsablaufs rein theoretischer
  158. Natur. Dies reicht nicht aus, um die für eine gemeinsame Betriebsstätte erforderliche typische Gefahrengemeinschaft anzunehmen (vgl. Senatsurteil vom
  159. 8. Juni 2010 - VI ZR 147/09, aaO).
  160. 12
  161. 3. Das Berufungsurteil war nach alledem aufzuheben und die Sache zu
  162. neuer Verhandlung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Das Berufungsgericht erhält damit Gelegenheit, dem Vortrag des Beklagten nachzugehen, dass das Verschieben des Lukendeckels aus seiner Sicht eine Hilfeleistung für die Arbeiter der Streithelferin war. Hätte der Beklagte ausschließlich im
  163. Interesse der Streithelferin deren Beschäftigten Hilfe geleistet, wäre zu prüfen,
  164. ob er im Zeitpunkt des Unfalls "wie ein Beschäftigter" der Streithelferin tätig und
  165. mithin gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII Versicherter der gesetzlichen Unfallversicherung im Unternehmen der Streithelferin war (vgl. Senatsurteil vom
  166. 23. März 2004 - VI ZR 160/03, VersR 2004, 1045, 1046 f.). Auf der Grundlage
  167. - 9 -
  168. der bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts kann dies nicht beurteilt
  169. und eine daraus etwa folgende Haftungsprivilegierung nach § 105 Abs. 1 Satz 1
  170. SGB VII nicht ausgeschlossen werden.
  171. Galke
  172. Zoll
  173. Pauge
  174. Diederichsen
  175. von Pentz
  176. Vorinstanzen:
  177. LG Lübeck, Entscheidung vom 23.02.2009 - 10 O 122/07 OLG Schleswig, Entscheidung vom 09.09.2010 - 7 U 33/09 -