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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. VI ZR 133/06
  4. vom
  5. 9. Januar 2007
  6. in dem Rechtsstreit
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. ZPO § 256 Abs. 1
  14. Eine Klage auf Feststellung der deliktischen Verpflichtung eines Schädigers zum Ersatz künftiger Schäden ist zulässig, wenn die Möglichkeit eines Schadenseintritts
  15. besteht. Ein Feststellungsinteresse ist nur zu verneinen, wenn aus der Sicht des Geschädigten bei verständiger Würdigung kein Grund besteht, mit dem Eintritt eines
  16. Schadens wenigstens zu rechnen (im Anschluss an Senat, Urteile vom 20. März
  17. 2001 - VI ZR 325/99 - VersR 2001, 876 f.; vom 16. Januar 2001 - VI ZR 381/99 VersR 2001, 874 f.).
  18. Eine solche Feststellungsklage ist begründet, wenn die sachlichen und rechtlichen
  19. Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs vorliegen, also insbesondere ein
  20. haftungsrechtlich relevanter Eingriff gegeben ist, der zu den für die Zukunft befürchteten Schäden führen kann. Ob darüber hinaus im Rahmen der Begründetheit eine
  21. gewisse Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu verlangen ist, bleibt offen (im
  22. Anschluss an Senat, Urteil vom 16. Januar 2001 - VI ZR 381/99 - VersR 2001, 874,
  23. 875 m.w.N.)
  24. BGH, Beschluss vom 9. Januar 2007 - VI ZR 133/06 - OLG Frankfurt am Main
  25. LG Frankfurt am Main
  26. -2-
  27. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. Januar 2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Zoll
  28. beschlossen:
  29. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil
  30. des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom
  31. 30. Mai 2006 unter Zurückweisung der Beschwerde im Übrigen im
  32. Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als auf die Berufung der
  33. Beklagten das am 3. Juli 2003 verkündete Urteil der 21. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main zu den Feststellungsanträgen der Klägerin abgeändert und die Feststellungsanträge auch insoweit abgewiesen worden sind, als die Klägerin die
  34. Feststellung der Verpflichtung der Beklagten als Gesamtschuldner
  35. zum Ersatz der ihr als Folgen des ärztlichen Eingriffs vom 18. Juni
  36. 1991 entstandenen und noch entstehenden materiellen Schäden
  37. - soweit kein Anspruchsübergang auf Sozialversicherungsträger
  38. erfolgt oder erfolgt ist - sowie der als Folgen dieses ärztlichen Eingriffs noch entstehenden immateriellen Schäden beantragt hat.
  39. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung
  40. und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der
  41. Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  42. Gegenstandswert: 22.564,60 €
  43. -3-
  44. Gründe:
  45. 1
  46. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg, soweit sich die Klägerin gegen die Abweisung ihrer Anträge auf Feststellung der Ersatzverpflichtung der
  47. Beklagten für sämtliche materiellen Schäden wendet, die ihr als Folgen des
  48. ärztlichen Eingriffs am 18. Juni 1991 entstanden sind und entstehen werden
  49. und soweit sie sich gegen die Abweisung ihres Antrags auf Feststellung der
  50. Ersatzverpflichtung der Beklagten für die immateriellen Schäden wendet, die ihr
  51. als Folgen dieses Eingriffs entstehen werden und nicht von der Verurteilung zur
  52. Zahlung von Schmerzensgeld umfasst sind.
  53. 2
  54. 1. Die angefochtene Entscheidung verletzt mit der Abweisung dieser
  55. Feststellungsanträge den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103
  56. Abs. 1 GG).
  57. 3
  58. Zwar ist ein Gericht nicht verpflichtet, zu jedem Angriffsmittel im Einzelnen Stellung zu nehmen (§ 313 Abs. 3 ZPO; Senat, Beschluss vom 24. August
  59. 2005 - VI ZR 227/04 - n.v.; BGH, Beschluss vom 24. Februar 2005 - III ZR
  60. 263/04 - NJW 2005, 1432, 1433). Auch ist grundsätzlich davon auszugehen,
  61. dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten
  62. auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Eine Verletzung
  63. des rechtlichen Gehörs ist nur dann festzustellen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (BVerfGE 96, 205, 216 f.). Solche Umstände liegen hier vor.
  64. 4
  65. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Abweisung der Feststellungsanträge ausschließlich auf die psychischen Schäden abgestellt, die
  66. nach Ansicht der Klägerin künftig zu befürchten, nach Ansicht des Berufungsge-
  67. -4-
  68. richts aber von dem Zahlungsausspruch über das Schmerzensgeld umfasst
  69. seien. Das vermag die Abweisung der Feststellungsbegehren nicht zu tragen.
  70. 5
  71. 2. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist eine Klage auf
  72. Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz bereits eingetretener und künftiger
  73. Schäden zulässig, wenn die Möglichkeit eines Schadenseintritts besteht. Ein
  74. Feststellungsinteresse (§ 276 Abs. 1 ZPO) ist nur zu verneinen, wenn aus der
  75. Sicht des Geschädigten bei verständiger Würdigung kein Grund gegeben ist,
  76. mit dem Eintritt eines Schadens wenigstens zu rechnen (vgl. Senat, Urteile vom
  77. 20. März 2001 - VI ZR 325/99 - VersR 2001, 876; vom 16. Januar 2001 - VI ZR
  78. 381/99 - VersR 2001, 874, 875).
  79. 6
  80. Ein zulässiger Feststellungsantrag ist begründet, wenn die sachlichen
  81. und rechtlichen Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs vorliegen,
  82. also ein haftungsrechtlich relevanter Eingriff gegeben ist, der zu möglichen
  83. künftigen Schäden führen kann. Ob darüber hinaus im Rahmen der Begründetheit eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu verlangen ist
  84. (vgl. dazu Senat, Urteil vom 16. Januar 2001 - VI ZR 381/99 - aaO; von Gerlach
  85. VersR 2000, 525, 531 f.), bedarf unter den Umständen des Streitfalls keiner
  86. abschließenden Entscheidung.
  87. 7
  88. Nach diesen Grundsätzen hatte das Berufungsgericht Veranlassung näher darzulegen, aus welchem Grund es die Feststellungsanträge der Klägerin
  89. umfassend zurückgewiesen hat. Das beanstandet die Nichtzulassungsbeschwerde mit Erfolg.
  90. 8
  91. 3. Der Antrag, die Ersatzverpflichtung der Beklagten für sämtliche materiellen Schäden festzustellen, der mit einem bereits eingetretenen Schaden begründet wurde, war nach den genannten Grundsätzen der Rechtsprechung zulässig; davon ist das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler ausgegangen.
  92. -5-
  93. 9
  94. Der Antrag war auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen auch
  95. nicht unbegründet. Das Berufungsgericht hat die Aufklärung zu dem Eingriff
  96. vom 18. Juni 1991 für verspätet und den Eingriff dementsprechend als haftungsbegründend für das zugesprochene Schmerzensgeld gewertet. Zugleich
  97. ist es davon ausgegangen, dass die mit der Operation verbundenen Schmerzen
  98. und Beschwerden sowie die daraus folgenden Beeinträchtigungen, insbesondere die psychischen Beeinträchtigungen der Klägerin einer psychosomatischpsychotherapeutischen Behandlung bedürften, welche gute Erfolgsaussichten
  99. habe. Das Entstehen von Kosten für eine psychosomatische Behandlung und
  100. damit die Entstehung eines materiellen Folgeschadens ist nach der Lebenserfahrung wahrscheinlich. Die Kosten einer solchen Behandlung wären mithin ein
  101. Folgeschaden des rechtswidrigen Eingriffs, der geeignet ist, die begehrte Feststellung zu tragen. Die Klägerin hat zudem vorgetragen, dass weitere materielle
  102. Schäden zu befürchten seien.
  103. 10
  104. Hiernach durfte das Berufungsgericht den Antrag auf Feststellung der
  105. Ersatzpflicht für sämtliche materiellen Schäden aus der Operation vom 18. Juni
  106. 1991 nicht ohne hinreichende Begründung abweisen.
  107. 11
  108. 4. Im Ergebnis Entsprechendes gilt für die Abweisung der Klage auf
  109. Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz künftiger immaterieller Beeinträchtigungen.
  110. 12
  111. Auch insoweit ist ein Feststellungsinteresse zu bejahen, weil ein Grund
  112. bestehen kann, mit dem Eintritt von Spätschäden wenigstens zu rechnen (vgl.
  113. Senat, BGHZ 116, 60, 75; Urteil vom 9. April 1991 - VI ZR 106/90 - VersR 1991,
  114. 704, 705).
  115. 13
  116. Das Berufungsgericht konnte auch diese Feststellungsklage nicht ohne
  117. weitere tatsächliche Feststellungen als unbegründet abweisen. Es hat in der
  118. -6-
  119. nicht ausreichend aufgeklärten und daher rechtswidrigen Operation vom
  120. 18. Juni 1991 einen haftungsrechtlich relevanten Eingriff gesehen. Damit lagen
  121. die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Schmerzensgeld vor, wie
  122. das Berufungsgericht mit der Zubilligung einer solchen Entschädigung selbst
  123. erkannt hat. Eine Klage auf Feststellung der Ersatzverpflichtung für künftige
  124. immaterielle Schäden schied nur aus, wenn ausschließlich voraussehbare
  125. Schädigungsfolgen in Betracht standen, die von der Zubilligung des Schmerzensgelds umfasst wären (Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgelds;
  126. vgl. dazu Senat, Urteil vom 14. Februar 2006 - VI ZR 322/04 - VersR 2006,
  127. 1090, 1091). Dieses Ergebnis hat das Berufungsgericht ausschließlich mit psychischen Beeinträchtigungen begründet. Die Klägerin hatte jedoch durch Vorlage des Gutachtens Dr. P. vom 23. April 2000 vorgetragen, es seien nicht nur
  128. psychische Schäden, sondern auch organische Schäden wie Schrumpfungen
  129. von Narben und des Genitale eingetreten und die Auswirkungen der Entfernung
  130. von Eierstock und Eileiter seien nicht voraussehbar. Damit waren zukünftige
  131. immaterielle Beeinträchtigungen aufgrund organischer Operationsfolgen möglich. Hierzu hätte das Berufungsgericht Stellung nehmen müssen, denn derartige Folgen machen den Eintritt von darauf beruhenden Beschwerden nach der
  132. Lebenserfahrung wahrscheinlich. Dann aber kam eine Abweisung der Feststellungsklage auf Ersatz künftiger immaterieller Schäden ohne weitere tatsächliche Feststellungen nicht in Betracht.
  133. 14
  134. Auch in diesem Zusammenhang bedarf es keiner Entscheidung der Frage, ob zur Begründetheit der Feststellungsklage eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu verlangen ist (vgl. Senat, Urteil vom 16. Januar
  135. 2001 - VI ZR 381/99 - aaO m.w.N.). Diese wäre im hier zu entscheidenden Fall
  136. zu bejahen.
  137. -7-
  138. 5. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsurteil auf
  139. 15
  140. der Nichtbeachtung des Vortrags der Klägerin beruht, ist es in dem ausgesprochenen eingeschränkten Umfang aufzuheben und die Sache insoweit an das
  141. Berufungsgericht zurückzuverweisen.
  142. 16
  143. 6. Die weitergehende Nichtzulassungsbeschwerde hat dagegen keinen
  144. Erfolg. Sie zeigt nicht auf, dass die Rechtssache im Übrigen grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern
  145. (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Insbesondere ist insoweit eine Verletzung von Verfahrensgrundrechten der Klägerin nicht ersichtlich. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.
  146. Müller
  147. Greiner
  148. Pauge
  149. Wellner
  150. Zoll
  151. Vorinstanzen:
  152. LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 03.07.2003 - 2/21 O 116/98 OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 30.05.2006 - 8 U 155/03 -