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  1. Berichtigt durch Beschluss
  2. vom 11. August 2015
  3. Führinger
  4. Justizangestellte
  5. als Urkundsbeamtin
  6. der Geschäftsstelle
  7. BUNDESGERICHTSHOF
  8. IM NAMEN DES VOLKES
  9. URTEIL
  10. I ZR 123/13
  11. Verkündet am:
  12. 8. Januar 2015
  13. Führinger
  14. Justizangestellte
  15. als Urkundsbeamtin
  16. der Geschäftsstelle
  17. in dem Rechtsstreit
  18. Nachschlagewerk:
  19. ja
  20. BGHZ:
  21. nein
  22. BGHR:
  23. ja
  24. Abgabe ohne Rezept
  25. UWG § 4 Nr. 11; ArzneimittelG § 48 Abs. 1; AMVV § 4 Abs. 1
  26. a) Das in § 48 AMG geregelte Verbot der Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel ohne
  27. Verschreibung ist eine Marktverhaltensregelung im Sinne von § 4 Nr. 11 UWG.
  28. b) Die Vorschrift des § 4 Abs. 1 AMVV erfordert eine eigene Therapieentscheidung des behandelnden Arztes auf der Grundlage einer vorherigen, regelgerechten eigenen Diagnose, die
  29. der Verschreibung vorausgeht. Daran fehlt es, wenn ein Apotheker einen Arzt, der den Patienten nicht kennt und insbesondere zuvor nicht untersucht hat, um Zustimmung zur Abgabe
  30. eines Medikaments bittet.
  31. c) Falls auf andere Art und Weise eine erhebliche, akute Gesundheitsgefährdung des Patienten nicht abzuwenden ist, kann die Abgabe eines verschreibungspflichtigen Medikaments
  32. durch den Apotheker im Einzelfall in analoger Anwendung von § 34 StGB in Betracht kommen, obwohl ihm weder ein Rezept vorgelegt wird noch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1
  33. AMVV erfüllt sind.
  34. BGH, Urteil vom 8. Januar 2015 - I ZR 123/13 - OLG Stuttgart
  35. LG Ravensburg
  36. -2-
  37. Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. Januar 2015 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Büscher, die
  38. Richter Prof. Dr. Schaffert, Dr. Kirchhoff, Dr. Löffler und die Richterin
  39. Dr. Schwonke
  40. für Recht erkannt:
  41. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 2. Zivilsenats des
  42. Oberlandesgerichts Stuttgart vom 13. Juni 2013 unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage mit Ausnahme der Anträge auf
  43. Auskunft über Vor- und Nachnamen der Kunden und auf Zahlung
  44. eines Betrags von mehr als 1.099 € nebst Zinsen abgewiesen
  45. worden ist.
  46. Auf die Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung des
  47. Klägers wird das Urteil der 7. Kammer für Handelssachen des
  48. Landgerichts Ravensburg vom 15. November 2012 unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel teilweise abgeändert
  49. (Urteilsformel zu 2 und 4) und insoweit wie folgt neu gefasst:
  50. 2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Auskunft darüber zu erteilen, seit wann und in welchem Umfang
  51. Handlungen gemäß Ziffer 1 begangen wurden unter
  52. genauer Angabe der Bezeichnung und Menge des
  53. Arzneimittels aufgeschlüsselt nach Monaten.
  54. 4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.099 €
  55. nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über
  56. -3-
  57. dem Basiszinssatz hieraus seit dem 27. August 2011
  58. zu zahlen.
  59. Die Beklagte trägt die Kosten der Rechtsmittelverfahren.
  60. Von Rechts wegen
  61. Tatbestand:
  62. 1
  63. Die Parteien betreiben jeweils eine Apotheke in A.
  64. 2
  65. Die Kundin E.
  66. .
  67. , der das verschreibungspflichtige, blutdrucksen-
  68. kende Medikament Tri Normin 25 bereits seit Jahren ärztlich verordnet wurde,
  69. pflegte die Rezepte beim Kläger einzulösen. Auch am Samstag, dem 26. Februar 2011, erschien sie zunächst in der Apotheke des Klägers, um das Arzneimittel zu erwerben. Ihr war das Medikament ausgegangen und sie hatte es
  70. versäumt, sich bei ihrem Arzt eine neue Verordnung ausstellen zu lassen. Eine
  71. Mitarbeiterin des Klägers lehnte die Abgabe des Medikaments ohne Verordnung ab und verwies die Kundin auf den 15 Kilometer entfernten ärztlichen
  72. Notdienst in Bad S.
  73. . Die Kundin E.
  74. suchte daraufhin die Apothe-
  75. ke der Beklagten auf und erhielt dort eine Packung des Mittels mit 100 Tabletten ohne ärztliche Verordnung.
  76. 3
  77. Der Kläger sieht in dem Verhalten der Beklagten einen Verstoß gegen
  78. das Verbot der Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel ohne Rezept. Er
  79. hat die Beklagte auf Unterlassung, Auskunftserteilung und Zahlung von Abmahnkosten in Anspruch genommen und die Feststellung der Schadensersatzverpflichtung der Beklagten begehrt.
  80. -4-
  81. 4
  82. Die Beklagte macht geltend, die Zeugin sei dringend auf das von ihr regelmäßig eingenommene Medikament angewiesen gewesen, das nach Auskunft einer mit der Beklagten befreundeten Ärztin habe unbedenklich an die
  83. Zeugin abgegeben werden können.
  84. 5
  85. Das Landgericht hat die Beklagte unter Androhung von Ordnungsmitteln
  86. verurteilt,
  87. es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr verschreibungspflichtige Arzneimittel an Verbraucher ohne ärztliche Verschreibung abzugeben, wenn dies geschieht wie im Fall Frau H. E.
  88. , der am 26. Februar 2011 von der
  89. Beklagten das Arzneimittel Tri Normin in einer Verpackungsgröße von
  90. 100 Stück ohne Vorliegen einer ärztlichen Verordnung verkauft wurde.
  91. 6
  92. Außerdem hat das Landgericht die Beklagte zur Auskunft verurteilt und
  93. ihre Verpflichtung zum Schadenersatz festgestellt. Abmahnkosten hat es dem
  94. Kläger unter Abweisung seines insoweit weitergehenden Antrags in Höhe von
  95. 507,50 € zuzüglich Zinsen zugesprochen.
  96. 7
  97. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht unter Zurückweisung der Anschlussberufung des Klägers die Klage abgewiesen (OLG Stuttgart, Urteil vom 13. Juni 2013 - 2 U 193/12, juris).
  98. 8
  99. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die
  100. Wiederherstellung des Urteils des Landgerichts sowie die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung weiterer Abmahnkosten in Höhe von 872,30 € zuzüglich
  101. Zinsen.
  102. -5-
  103. Entscheidungsgründe:
  104. 9
  105. I. Das Berufungsgericht hat angenommen, dem Kläger stünden gegen
  106. die Beklagte weder ein Unterlassungsanspruch gemäß § 8 Abs. 1 und 3 Nr. 1,
  107. §§ 3, 4 Nr. 11 UWG in Verbindung mit § 48 AMG noch die darauf bezogenen
  108. Folgeansprüche und Abmahnkosten zu. Zur Begründung hat es ausgeführt:
  109. 10
  110. Die Beklagte habe zwar gegen die Bestimmung des § 48 AMG verstoßen, die eine Marktverhaltensregelung im Sinne von § 4 Nr. 11 UWG sei. Die
  111. Abgabe des Arzneimittels ohne Rezept sei nicht nach § 4 Abs. 1 der Arzneimittelverschreibungsverordnung zulässig gewesen. Die Beklagte habe gewusst,
  112. dass die Kundin E.
  113. über keine Verschreibung eines behandelnden
  114. Arztes verfügt habe. Nachdem die Beklagte zunächst erfolglos versucht habe,
  115. den behandelnden Arzt über seine Privatnummer zu erreichen, habe sie die ihr
  116. bekannte Ärztin Dr. F.
  117. angerufen, die ihr nach Schilderung des Sachver-
  118. halts erklärt habe, sie könne das Medikament an die Patientin abgeben. Damit
  119. seien die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 AMVV nicht erfüllt. Eine keinen Aufschub duldende Gesundheitsgefährdung der Kundin habe nicht bestanden.
  120. Diese habe beim Besuch der Apotheke der Beklagten unter keinen Ausfallerscheinungen gelitten. Auch die Beklagte sei davon ausgegangen, dass das
  121. Medikament noch fortwirke. Wie der Beklagten bewusst gewesen sei, hätte die
  122. Patientin ohne weiteres den ärztlichen Notdienst im 15 Kilometer entfernten
  123. Bad S.
  124. 11
  125. aufsuchen können, um ein Rezept zu erhalten.
  126. Trotz des Verstoßes der Beklagten gegen § 48 AMG sei die Klage jedoch unbegründet, weil es unter Berücksichtigung der besonderen Umstände
  127. des Falls an der erforderlichen Spürbarkeit der Beeinträchtigung der Interessen
  128. der Verbraucher und der Mitbewerber im Sinne von § 3 Abs. 1 UWG fehle. Die
  129. Beklagte habe sich in einem außergewöhnlichen Entscheidungskonflikt befun-
  130. -6-
  131. den. Sie habe gewusst, dass die Patientin wegen ihrer gravierenden Krankheitsgeschichte auf das Medikament angewiesen gewesen sei. Nachdem die
  132. Beklagte vergeblich versucht habe, den behandelnden Arzt zu erreichen, habe
  133. sie die Erklärung der Ärztin Dr. F.
  134. , sie könne das Medikament an die Pati-
  135. entin abgeben, aus juristischer Laiensicht als Verschreibung durch diese Ärztin
  136. verstehen können. Mangels Spürbarkeit des Wettbewerbsverstoßes seien auch
  137. die weiteren vom Kläger geltend gemachten Ansprüche unbegründet.
  138. 12
  139. II. Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision haben
  140. weitgehend Erfolg. Sie führen zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückweisung der Berufung der Beklagten mit Ausnahme des Antrags des Klägers auf Auskunft über Vor- und Nachnamen der Kunden sowie auf die Anschlussberufung des Klägers zur Abänderung des landgerichtlichen Urteils und
  141. zur Verurteilung der Beklagten zur Zahlung weiterer Abmahnkosten in Höhe
  142. von 591,50 € nebst Zinsen. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht die Spürbarkeit des Wettbewerbsverstoßes der Beklagten verneint. Die Verurteilung der
  143. Beklagten erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig. Abmahnkosten stehen dem Kläger aus einem höheren als dem vom Landgericht angenommenen Wert zu.
  144. 13
  145. 1. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft angenommen, der von ihm
  146. bejahte Verstoß der Beklagten gegen § 48 AMG sei aufgrund der Umstände
  147. des Streitfalls nicht spürbar im Sinne von § 3 Abs. 1 UWG.
  148. 14
  149. a) Das in § 48 AMG geregelte Verbot der Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel ohne Verschreibung ist eine Marktverhaltensregelung im Sinne
  150. von § 4 Nr. 11 UWG. Es wirkt sich unmittelbar auf den Wettbewerb zwischen
  151. Apotheken aus (MünchKomm.UWG/Schaffert, 2. Aufl., § 4 Nr. 11 Rn. 295; von
  152. Jagow
  153. in
  154. Harte/Henning,
  155. UWG,
  156. 3. Aufl.,
  157. §4
  158. Nr. 11
  159. Rn. 50;
  160. Groß-
  161. komm.UWG/Metzger, 2. Aufl., § 4 Nr. 11 Rn. 100; vgl. OLG Düsseldorf, GRUR
  162. 1987, 295) und dient dem Schutz der Patienten vor gefährlichen Fehlmedikatio-
  163. -7-
  164. nen (vgl. Hofmann in Kügel/Müller/Hofmann, Arzneimittelgesetz, § 48 Rn. 6 f.;
  165. Heßhaus in Spickhoff, Medizinrecht, 2. Aufl., § 48 AMG Rn. 1; Pabel, PharmR
  166. 2009, 499).
  167. 15
  168. Der Anwendung des § 4 Nr. 11 UWG steht im Streitfall nicht entgegen,
  169. dass die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken keinen dieser Vorschrift vergleichbaren Unlauterkeitstatbestand kennt. Die Richtlinie
  170. 2005/29/EG bezweckt gemäß ihrem Art. 4 allerdings die vollständige Harmonisierung der Vorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken,
  171. soweit sie die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher beeinträchtigen. Gemäß ihrem Art. 3 Abs. 3 sowie ihrem Erwägungsgrund 9 bleiben die Rechtsvorschriften der Union und der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Gesundheits- und
  172. Sicherheitsaspekte von Produkten jedoch unberührt. Dabei kommt im Streitfall
  173. hinzu, dass durch § 48 AMG der Titel VI und insbesondere Art. 71 der Richtlinie
  174. 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel
  175. in das deutsche Recht umgesetzt wird (vgl. Rehmann, Arzneimittelgesetz,
  176. 4. Aufl., § 48 Rn. 1). Die Anwendung des § 4 Nr. 11 UWG steht daher mit der
  177. Richtlinie 2005/29/EG im Einklang, soweit Marktverhaltensregelungen - wie
  178. hier - dem Schutz der Gesundheit und Sicherheit von Verbrauchern dienen (vgl.
  179. nur BGH, Urteil vom 9. September 2010 - I ZR 193/07, GRUR 2010, 1136
  180. Rn. 13 = WRP 2010, 1482 - UNSER DANKESCHÖN FÜR SIE; Urteil vom
  181. 13. Dezember 2012 - I ZR 161/11, GRUR 2013, 857 Rn. 11 = WRP 2013, 1024
  182. - Voltaren).
  183. 16
  184. b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind Verstöße gegen Marktverhaltensregelungen, die den Schutz der Gesundheit der Verbraucher bezwecken, ohne weiteres geeignet, die Interessen der Verbraucher im
  185. Sinne von § 3 Abs. 1 UWG spürbar zu beeinträchtigen (BGH, Urteil vom
  186. 26. März 2009 - I ZR 213/06, BGHZ 180, 355 Rn. 34 - Festbetragsfestsetzung;
  187. Urteil vom 4. November 2010 - I ZR 139/09, GRUR 2011, 633 Rn. 36 = WRP
  188. -8-
  189. 2011, 858 - BIO TABAK). Diese Beurteilung wird, soweit ersichtlich, in der Literatur einhellig geteilt (vgl. nur Köhler in Köhler/Bornkamm, UWG, 32. Aufl., § 3
  190. Rn. 149; Podszun in Harte/Henning aaO § 3 Rn. 149; Ullmann in Ullmann,
  191. jurisPK-UWG, 3. Aufl., § 3 Rn. 76; Lehmler in Büscher/Dittmer/Schiwy, Gewerblicher Rechtsschutz Urheberrecht Medienrecht, 3. Aufl., § 3 UWG Rn. 55).
  192. 17
  193. c) Danach sind Verstöße gegen die in § 48 AMG geregelte Verschreibungspflicht stets spürbar. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts lässt
  194. die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für einzelfallbezogene Abwägungen, aufgrund derer die Spürbarkeit verneint werden kann, in diesem Zusammenhang keinen Raum. Anders als die Revisionserwiderung meint, kommt es
  195. nicht darauf an, ob die bisherige Senatsrechtsprechung zu dieser Frage durchweg zu Fällen einer an das allgemeine Publikum gerichteten Werbung oder zu
  196. Fallgestaltungen ergangen ist, in denen der in Anspruch Genommene als Arzneimittelhersteller aufgetreten war und seine beanstandete geschäftliche Aktivität von vornherein auf eine Vielzahl von Fällen ausgerichtet hat. Das hohe
  197. Schutzgut der menschlichen Gesundheit und die großen Gefahren, die mit einer
  198. Fehlmedikation verschreibungspflichtiger Medikamente verbunden sind, erfordern es vielmehr, Verstöße gegen die Verschreibungspflicht grundsätzlich als
  199. unlauter anzusehen.
  200. 18
  201. 2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Das Berufungsgericht hat ohne
  202. Rechtsfehler einen Verstoß der Beklagten gegen § 48 AMG bejaht.
  203. 19
  204. a) Nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 AMG dürfen Arzneimittel, die durch Rechtsverordnung nach Absatz 2 bestimmte Stoffe, Zubereitungen aus Stoffen oder Gegenstände sind oder denen solche Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen zugesetzt sind, nur bei Vorliegen einer ärztlichen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Verschreibung an Verbraucher abgegeben werden. Auf der Grundlage
  205. des § 48 Abs. 2 AMG ist die Verordnung über die Verschreibungspflicht von
  206. -9-
  207. Arzneimitteln vom 21. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3632) ergangen. Nach § 1
  208. AMVV dürfen Arzneimittel, die die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllen,
  209. nur bei Vorliegen einer ärztlichen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Verschreibung abgegeben werden, wenn in der Arzneimittelverschreibungsverordnung
  210. nichts anderes bestimmt ist. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass das Arzneimittel Tri Normin 25 der Verschreibungspflicht unterfällt. Die Voraussetzungen eines Ausnahmetatbestands nach der Arzneimittelverschreibungsverordnung sind im Streitfall nicht erfüllt. In Betracht kommt allein § 4 Abs. 1 AMVV.
  211. Diese Bestimmung greift vorliegend nicht ein.
  212. 20
  213. aa) Nach § 4 Abs. 1 AMVV kann die verschreibende Person den Apotheker in geeigneter Weise, insbesondere fernmündlich, über die Verschreibung
  214. und deren Inhalt unterrichten, wenn die Anwendung eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels keinen Aufschub erlaubt. Der Apotheker hat sich über die
  215. Identität der verschreibenden Person Gewissheit zu verschaffen. Die verschreibende Person hat dem Apotheker die Verschreibung in schriftlicher oder elektronischer Form unverzüglich nachzureichen.
  216. 21
  217. Die Darlegungs- und Beweislast für diesen Ausnahmetatbestand trifft die
  218. Beklagte (vgl. allgemein BGH, Urteil vom 19. November 2009 - I ZR 186/07,
  219. GRUR 2010, 160 Rn. 15 = WRP 2010, 250 - Quizalofop).
  220. 22
  221. bb) Wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat, setzt § 4
  222. Abs. 1 AMVV eine eigene Therapieentscheidung des behandelnden Arztes auf
  223. der Grundlage einer vorherigen, regelgerechten eigenen Diagnose voraus, die
  224. der Verschreibung vorausgeht. Die Bestimmung des § 4 Abs. 1 AMVV sieht
  225. keinen Verzicht auf die ärztliche Verschreibung vor. Vielmehr gestattet sie lediglich, dass der Apotheker über die bereits erfolgte Verschreibung in geeigneter
  226. Weise, insbesondere fernmündlich, unterrichtet werden kann (vgl. Cyran/Rotta,
  227. Apothekenbetriebsordnung, § 17 Rn. 712 (Stand September 2012)). Dabei ist
  228. es nach dem vom Gesetz vorausgesetzten Regelfall der Arzt, der von sich aus
  229. - 10 -
  230. den Apotheker unterrichtet. Allerdings wird es zu Recht als ausreichend angesehen, wenn der Apotheker den behandelnden Arzt anruft, um festzustellen, ob
  231. eine entsprechende Verschreibung vorliegt (vgl. LG Berlin, StV 1997, 309; Weber, BtMG, 4. Aufl., § 48 AMG Rn. 22). Demgegenüber fehlt es an der erforderlichen Therapieentscheidung des Arztes, wenn ein Apotheker einen Arzt, der
  232. den Patienten nicht kennt und deshalb zuvor nicht untersucht hat und nicht behandelnder Arzt des Patienten ist, um Zustimmung zur Abgabe eines Medikaments bittet. § 4 Abs. 1 AMVV lässt es nicht zu, dass der Apotheker einen Arzt
  233. erst zu einer Verschreibung für einen ihm unbekannten Patienten veranlasst.
  234. 23
  235. So liegt es indes im Streitfall. Die Beklagte hat von sich aus die mit ihr
  236. befreundete Ärztin Dr. F.
  237. angerufen, um von ihr zu erfahren, ob die der
  238. Ärztin unbekannte und von ihr zu keinem Zeitpunkt untersuchte Kundin E.
  239. das Medikament erhalten dürfe. Auch wenn Frau Dr. F.
  240. daraufhin
  241. das Medikament verschrieben haben sollte, könnte dies den Tatbestand des
  242. § 4 Abs. 1 AMVV nicht erfüllen.
  243. 24
  244. b) Die Abgabe des Medikaments durch die Beklagte ist auch nicht unter
  245. dem Aspekt eines rechtfertigenden Notstands analog § 34 StGB gerechtfertigt.
  246. 25
  247. aa) Falls auf andere Art und Weise eine erhebliche, akute Gesundheitsgefährdung des Patienten (vgl. Weber aaO § 48 AMG Rn. 19) nicht abzuwenden ist, kann die Abgabe eines verschreibungspflichtigen Medikaments durch
  248. den Apotheker in engen Grenzen im Einzelfall analog § 34 StGB in Betracht
  249. kommen, obwohl ihm weder ein Rezept vorgelegt wird noch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 AMVV erfüllt sind (vgl. Cyran/Rotta aaO § 17 Rn. 707, 718;
  250. Pfeil/Pieck/Blume, Apothekenbetriebsordnung, § 17 Rn. 45 (Stand 2014)). Um
  251. festzustellen, ob ein solcher Sachverhalt vorliegt, kann der Apotheker Auskünfte
  252. anderer Ärzte einholen, wenn der den Patienten behandelnde Arzt nicht erreicht
  253. werden kann.
  254. - 11 -
  255. 26
  256. bb) Im Streitfall kann sich die Beklagte auf diesen Rechtfertigungsgrund
  257. indes nicht mit Erfolg berufen.
  258. 27
  259. (1) Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte habe nicht dargelegt, dass die Anwendung des verschreibungspflichtigen Arzneimittels wegen
  260. des Gesundheitszustands der Patientin keinen Aufschub mehr erlaubt hätte.
  261. Vielmehr habe eine ärztliche Kontrolle und eine darauf aufbauende Verschreibung durch den ärztlichen Notdienst im nur 15 Kilometer entfernten Bad S.
  262. abgewartet werden können. Die einem Geschäftstermin ihres Ehemanns in
  263. der Schweiz vorgeschaltete Ausflugsreise hätte ohne nennenswerte Umwege
  264. am Samstag über Bad S.
  265. erfolgen können. Die Beklagte habe zwar gel-
  266. tend gemacht, dass bei der an Bluthochdruck leidenden Patientin ohne Einnahme des schon seit Jahren verordneten Medikaments noch am Wochenende
  267. ein lebensbedrohlicher Zustand hätte eintreten können. Damit werde aber eine
  268. zeitnahe, unmittelbar bevorstehende gesundheitliche Gefährdung nicht dargelegt. Die Patientin habe auch noch keine Ausfallerscheinungen gezeigt.
  269. 28
  270. (2) Diese Beurteilung lässt keinen Rechtsfehler erkennen.
  271. 29
  272. Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung erlaubt die Anwendung
  273. eines Arzneimittels nicht schon dann zur Abwendung einer erheblichen, akuten
  274. Gesundheitsgefährdung keinen Aufschub, wenn einem Patienten die verordnete regelmäßige Einnahme eines Medikaments nicht möglich ist, falls ihm das
  275. Medikament nicht unverzüglich ausgehändigt wird. Die Frage, ob die Anwendung des Arzneimittels keinen Aufschub erlaubt, hängt auch im Fall der Unterbrechung einer regelmäßigen Einnahme davon ab, wann diese Unterbrechung
  276. für den Patienten ernsthafte Konsequenzen haben kann. Deshalb ist es aus
  277. Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht eine zeitnahe, unmittelbar bevorstehende gesundheitliche Gefährdung der Patientin E.
  278. mit der Erwägung verneint hat, die Beklagte habe selbst eine Fortwirkung des blutdrucksenkenden Mittels nach der letzten Einnahme vorgetragen.
  279. - 12 -
  280. Die mit dem Aufsuchen des ärztlichen Notdienstes im nahegelegenen Bad
  281. S.
  282. verbundene kurzfristige Verzögerung der nächsten Medikamentenein-
  283. nahme konnte unter diesen Umständen von der Patientin - wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat - ohne weiteres hingenommen werden.
  284. 30
  285. Anders als die Revisionserwiderung meint, wird dem Apotheker bei dieser Beurteilung nicht zugemutet, mit der Medikamentenabgabe zuzuwarten, bis
  286. der Patient kurz vor einer lebensbedrohlichen Situation steht. Entscheidend ist
  287. vielmehr, dass die Beklagte nicht dargelegt hat, die Patientin E.
  288. hätte
  289. erhebliche, akute gesundheitliche Beeinträchtigungen zu befürchten gehabt,
  290. wenn sie den Notdienst in Bad S.
  291. 31
  292. aufgesucht hätte.
  293. 3. Das Berufungsgericht hat es deshalb zu Recht als Verstoß gegen § 48
  294. Abs. 1 AMG angesehen, dass die Beklagte der Kundin E.
  295. unter den
  296. näher festgestellten Umständen das Medikament Tri Normin 25 ausgehändigt
  297. hat. Es kommt deshalb nicht mehr auf den weiteren Vortrag des Klägers an, die
  298. Beklagte habe auch im Fall Fr.
  299. H.
  300. gegen § 48 AMG verstoßen, weil
  301. dieser am 6. November 2012 in ihrer Apotheke ein verschreibungspflichtiges
  302. Arzneimittel ohne gültiges Rezept erwerben konnte.
  303. 32
  304. III. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben. Da weitere Feststellungen
  305. nicht erforderlich sind, kann der Senat in der Sache selbst entscheiden (§ 563
  306. Abs. 3 ZPO).
  307. 33
  308. 1. Der Unterlassungsantrag des Klägers ist zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt im Sinne von § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, und nach §§ 8, 3, 4
  309. Nr. 11 UWG in Verbindung mit § 48 Abs. 1 AMG begründet.
  310. 34
  311. 2. Die Anträge des Klägers auf Auskunft und Schadensersatzfeststellung
  312. sind gemäß § 9 UWG, § 242 BGB ebenfalls weitgehend begründet.
  313. - 13 -
  314. 35
  315. Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, fällt der Beklagten jedenfalls Fahrlässigkeit zur Last. Maßgeblich ist im Streitfall der Sorgfaltsmaßstab
  316. eines Angehörigen der Fachkreise der Apotheker und nicht - wovon das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft ausgegangen ist - derjenige eines juristischen
  317. Laien. Danach konnte die Beklagte als Apothekerin, die mit den einschlägigen
  318. Vorschriften über die Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel vertraut
  319. sein musste, ohne weiteres erkennen, dass der Patientin E.
  320. zum ärztlichen Notdienst nach Bad S.
  321. eine Fahrt
  322. zuzumuten war. Stattdessen hat
  323. sie sich, nachdem der behandelnde Arzt nicht erreichbar war, pflichtwidrig für
  324. die Abgabe des Medikaments auf die telefonische Auskunft der ihr bekannten
  325. Ärztin Dr. F.
  326. verlassen, die die Patientin E.
  327. weder untersucht hat-
  328. te noch überhaupt kannte.
  329. 36
  330. Ungeachtet der Beschränkung des Unterlassungsantrags auf die konkrete Verletzungsform steht dem Kläger ein Auskunftsanspruch für kerngleiche
  331. Handlungen zu.
  332. 37
  333. Allerdings ist der Auskunftsantrag nur zum Teil begründet. Die Angabe
  334. der Vor- und Nachnamen der Kunden, an die von der Beklagten Arzneimittel
  335. ohne Verschreibung abgegeben worden sind, kann der Kläger nicht verlangen.
  336. Die Weitergabe dieser Daten ist der Beklagten nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB im
  337. Hinblick auf das berechtigte Interesse der betroffenen Patienten an der Wahrung der Vertraulichkeit ihrer persönlichen Daten untersagt. Die Namen der
  338. Kunden sind zur Durchsetzung des für den Kläger in Betracht kommenden
  339. Schadenersatzanspruchs nicht erforderlich.
  340. 38
  341. 3. Die Anschlussberufung des Klägers ist überwiegend begründet.
  342. 39
  343. Das Landgericht hat dem Kläger auf der Grundlage eines Streitwerts von
  344. 7.000 € Abmahnkosten einschließlich Auslagenpauschale in Höhe von 507,50 €
  345. zuzüglich Zinsen zugesprochen. Auf die Streitwertbeschwerde des Klägers hat
  346. - 14 -
  347. das Berufungsgericht den Streitwert im Berufungsurteil auf 32.000 € festgesetzt. Die dem Kläger zustehenden Abmahnkosten berechnen sich auf dieser
  348. Grundlage aus einer 1,3-fachen Geschäftsgebühr gemäß Anlage 2 zu § 13
  349. Abs. 1 RVG aF von 1.079,00 € zuzüglich der Auslagenpauschale von 20 €, so
  350. dass sie insgesamt 1.099,00 € betragen.
  351. 40
  352. Nachdem das Landgericht dem Kläger nur 507,50 € zugesprochen hat,
  353. ist die Beklagte auf die Anschlussberufung zur Zahlung weiterer 591,50 € zu
  354. verurteilen. Im Übrigen ist die Anschlussberufung unbegründet.
  355. 41
  356. IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 92 Abs. 2 Nr. 1,
  357. § 97 Abs. 1 ZPO.
  358. Büscher
  359. Schaffert
  360. Löffler
  361. Kirchhoff
  362. Schwonke
  363. Vorinstanzen:
  364. LG Ravensburg, Entscheidung vom 15.11.2012 - 7 O 76/11 KfH 1 OLG Stuttgart, Entscheidung vom 13.06.2013 - 2 U 193/12 (2 W 2/13) -
  365. BUNDESGERICHTSHOF
  366. BESCHLUSS
  367. I ZR 123/13
  368. vom
  369. 11. August 2015
  370. in dem Rechtsstreit
  371. Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. August 2015 durch
  372. den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Büscher, die Richter Prof. Dr. Schaffert,
  373. Dr. Kirchhoff, Dr. Löffler und die Richterin Dr. Schwonke
  374. beschlossen:
  375. Das Urteil vom 8. Januar 2015 wird wegen offenbarer Unrichtigkeit
  376. gemäß § 319 Abs. 1 ZPO wie folgt berichtigt:
  377. In Rn. 12 viert- und drittletzte Zeile muss es heißen "Die Abweisung der Klage" statt "Die Verurteilung der Beklagten".
  378. Büscher
  379. Schaffert
  380. Löffler
  381. Kirchhoff
  382. Schwonke
  383. Vorinstanzen:
  384. LG Ravensburg, Entscheidung vom 15.11.2012 - 7 O 76/11 KfH 1 OLG Stuttgart, Entscheidung vom 13.06.2013 - 2 U 193/12 (2 W 2/13) -