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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. Urteil
  4. 4 StR 343/02
  5. vom
  6. 12. Dezember 2002
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes u.a.
  10. -2-
  11. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 12.
  12. Dezember 2002, an der teilgenommen haben:
  13. Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
  14. Dr. Tepperwien,
  15. Richter am Bundesgerichtshof
  16. Maatz,
  17. Athing,
  18. Dr. Ernemann,
  19. Richterin am Bundesgerichtshof
  20. Sost-Scheible
  21. als beisitzende Richter,
  22. Staatsanwalt
  23. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  24. Rechtsanwalt
  25. als Verteidiger,
  26. Rechtsanwältin
  27. als Vertreterin der Nebenklägerin,
  28. Justizangestellte
  29. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  30. für Recht erkannt:
  31. -3-
  32. 1.
  33. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil
  34. des Landgerichts Dortmund vom 20. März 2002 im
  35. Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
  36. 2.
  37. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
  38. Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des
  39. Landgerichts zurückverwiesen.
  40. Von Rechts wegen
  41. Gründe:
  42. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen in elf Fällen, wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit
  43. mit Mißbrauch einer Schutzbefohlenen in sechs Fällen, wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen in 15 Fällen sowie wegen Erwerbs einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe in Tateinheit mit Ausübung der tatsächlichen Gewalt über diese Waffe und mit Erwerb von Munition zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Mit ihrer auf die Sachbeschwerde
  44. gestützten, wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten und zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Revision, die vom Generalbundesanwalt
  45. vertreten wird, wendet sich die Staatsanwaltschaft dagegen, daß die Anordnung der Sicherungsverwahrung unterblieben ist. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
  46. -4-
  47. 1. Nach den Feststellungen kam es ab Anfang des Jahres 1999 zu einer
  48. Abkühlung der Beziehung des Angeklagten zu seiner zweiten Ehefrau, die sexuelle Kontakte zum Angeklagten immer häufiger ablehnte. Er suchte deshalb
  49. seit dieser Zeit vermehrt "Liebe und Zuneigung" bei der am 20. Februar 1987
  50. geborenen Tochter seiner Ehefrau, die im gemeinsamen Haushalt lebte und
  51. deren Erziehung ihm mitübertragen war. Ab Frühjahr/Sommer 1999 nahm der
  52. Angeklagte in sechs Fällen bei dem damals 12jährigen Mädchen unterschiedliche sexuelle Handlungen vor, ab Juli 2000 bis Anfang Februar 2001 vollzog er
  53. bei der nunmehr 13Jährigen in zehn Fällen den Geschlechtsverkehr (Einzelstrafen jeweils drei Jahre Freiheitsstrafe) und in einem Fall kam es zum Oralverkehr (Einzelstrafe: zwei Jahre drei Monate Freiheitsstrafe). In weiteren
  54. 15 Fällen führte er bis Juni 2001 mit dem mittlerweile 14jährigen Mädchen den
  55. Geschlechtsverkehr durch (Einzelstrafen je zwei Jahre Freiheitsstrafe). Die
  56. Duldung der sexuellen Handlungen erreichte der Angeklagte dadurch, daß er
  57. der Geschädigten immer wieder damit drohte, er werde sie zu ihrer Großmutter
  58. nach Rußland zurückschicken, wenn sie sich ihm nicht fügen oder sich einem
  59. Dritten gegenüber offenbaren sollte. Kurz nachdem sich seine Ehefrau im Juni
  60. 2001 von ihm getrennt und mit ihren beiden Kindern aus der ehelichen Wohnung ausgezogen war, erwarb der Angeklagte - nach seinen Angaben in
  61. Selbstmordabsicht - eine funktionsfähige halbautomatische Selbstladepistole
  62. nebst Magazin, Schalldämpfer und scharfen Patronen, die er bis zu seiner
  63. Festnahme am 16. August 2001 in seinem Pkw aufbewahrte.
  64. Der Angeklagte ist vorbestraft. Er wurde im Jahre 1986 wegen Beihilfe
  65. zum versuchten Betrug zu einer Geldstrafe, 1988 wegen eines im September
  66. 1986 begangenen Meineids zu einem Jahr Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung
  67. zur Bewährung ausgesetzt worden war, und im Jahre 1990 wegen Totschlags
  68. -5-
  69. in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb einer Schußwaffe und Ausübung der tatsächlichen Gewalt über diese zu einer weiteren Freiheitsstrafe von acht Jahren
  70. verurteilt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, daß der Angeklagte im März 1990
  71. seine erste Ehefrau, die sich von ihm trennen wollte, mit einem einige Wochen
  72. zuvor erworbenen Kleinkalibergewehr erschossen hatte.
  73. 2. Obwohl nach den Feststellungen unter Beachtung des § 66 Abs. 4
  74. Satz 4 StGB die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht nur nach § 66 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StGB, sondern auch
  75. nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 und 2 StGB vorliegen, hat das Landgericht
  76. diese Maßregel nicht angeordnet, weil kein Hang im Sinne des § 66 Abs. 1
  77. Nr. 3 StGB festzustellen sei. Es hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht,
  78. daß es sich bei dem im Jahre 1986 begangenen Meineid, dem Tötungsdelikt
  79. vom März 1990 und den nunmehr abgeurteilten Sexualstraftaten um Taten
  80. handelt, die für einen Hang des Angeklagten zur Begehung von Straftaten exemplarisch sind (vgl. hierzu BGHSt 21, 263 ff.; 24, 153, 156; 24, 243, 244; BGH
  81. NStZ 1984, 309). Die diesem Ergebnis zugrundeliegende Bewertung begegnet
  82. durchgreifenden rechtlichen Bedenken, da sie wesentliche Umstände der Fallgestaltungen nicht berücksichtigt hat.
  83. Nicht zu beanstanden ist allerdings der Ausgangspunkt des Landgerichts: Handelt es sich bei den Straftaten, die die formellen Voraussetzungen
  84. der Sicherungsverwahrung begründen (sog. Symptomtaten), um solche ganz
  85. verschiedener Art, die überdies unterschiedliche Rechtsgüter verletzen, ist ihr
  86. Indizwert für einen verbrecherischen Hang des Täters besonders sorgfältig zu
  87. prüfen und zu begründen (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 10). So begegnet
  88. auch die Begründung, mit welcher die Strafkammer es abgelehnt hat, den im
  89. -6-
  90. Jahre 1986 begangenen Meineid als symptomatisch für einen Hang des Angeklagten zur Begehung erheblicher Straftaten anzusehen, keinen rechtlichen
  91. Bedenken. Eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB
  92. scheidet deshalb aus (vgl. BGHSt 21, 263, 265). Bei seiner weiteren Prüfung
  93. hat das Landgericht allerdings maßgeblich darauf abgestellt, daß es sich bei
  94. dem Tötungsdelikt und den sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf seine
  95. Stieftochter um auf einzigartigen und besonderen Lebensumständen beruhende Taten gehandelt habe; die Sexualdelikte seien überdies unter Ausnutzung
  96. einer "Fülle günstiger Umstände" begangen worden. Eine Sexualperversion
  97. liege beim Angeklagten nicht vor. Die Strafkammer hat sich hingegen nicht erkennbar damit auseinandergesetzt, daß diese Straftaten, die als Symptomtaten
  98. für eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 und 3 StGB in
  99. Betracht kommen, nach den getroffenen Feststellungen auf einer fest eingewurzelten Neigung des Angeklagten (vgl. BGHR aaO Hang 4 und 8), im Rahmen einer Beziehung schwere Straftaten zum Nachteil der jeweiligen Partnerin
  100. zu begehen, beruhen können.
  101. Nach den Ausführungen des Sachverständigen besteht bei dem asthenischen und narzißtisch veranlagten Angeklagten eine dauerhafte, erhebliche,
  102. gleichwohl dessen Schuldfähigkeit in den vorliegenden Fällen nicht erheblich
  103. beeinträchtigende Persönlichkeitsstörung, die zu einer Unfähigkeit, (eheliche)
  104. Beziehungen angemessen zu kontrollieren, geführt habe. Er könne sich aus
  105. Beziehungen, selbst wenn sie gescheitert seien, nicht lösen, sondern neige
  106. dazu, in seiner Eifersucht Besitz über die jeweilige Partnerin zu ergreifen. Es
  107. bestehe die Gefahr, daß der Angeklagte, falls er sich eine neue Partnerin suche, auch künftig versuchen werde, eine aufgrund seiner mangelnden Bindungsfähigkeit gescheiterte Beziehung aufrecht zu erhalten und dabei auf-
  108. -7-
  109. grund seines Narzißmus und seiner Neigung zur Besitzergreifung straffällig zu
  110. werden (UA 71 und 88).
  111. Diese abnorme charakterliche Neigung des Angeklagten war sowohl bei
  112. dem Tötungsdelikt als auch bei den Sexualstraftaten wesentliche Ursache für
  113. deren Begehung. So kam es zu der über mehrere Wochen hinweg geplanten
  114. Tötung seiner ersten Ehefrau, als der Angeklagte erkannt hatte, daß der ihn
  115. "völlig beherrschende Wunsch, sie zurückzugewinnen, endgültig gescheitert
  116. war". Diese Straftat war nach den Feststellungen auch von dem Gedanken getragen, die Ehefrau zu bestrafen. Die vom Landgericht abgeurteilten Sexualdelikte hat der Angeklagte begangen, weil er die Geschädigte mehr und mehr an
  117. Stelle seiner Ehefrau als feste und dauerhafte Partnerin betrachtete, auf die er
  118. auch sein Sexualleben verlagerte. Er entwickelte, wie in der Beziehung zu seiner ersten Ehefrau, eine derartige Eifersucht auf die Geschädigte, "die er möglichst allein für sich besitzen wollte", daß er sie überwachte, um zu verhindern,
  119. daß sie Beziehungen zu anderen Jungen aufnehmen konnte. So hörte er etwa
  120. ihr Telefon ab, las ihre Tagebücher, folgte ihr heimlich ins Schwimmbad und
  121. vernachlässigte schließlich sogar seine Arbeit, um zu Hause mit seiner Stieftochter zusammen sein zu können. Auch nachdem seine Ehefrau mit ihren Kindern Mitte Juni 2001 aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, verfolgte der Angeklagte sein Ansinnen, die Geschädigte zur Rückkehr zu bewegen, hartnäckig weiter. Gerade in diesem Zusammenhang gewinnt schon für
  122. die Beurteilung eines Hanges im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB der zweifache Erwerb einer Waffe, die sich der Angeklagte jeweils in einer angespannten
  123. Trennungssituation verschaffte, und die er im vorliegenden Fall auch nach
  124. Aufgabe seiner - nach Auffassung des Landgerichts als unwiderlegt erachteten
  125. - Selbstmordabsicht jederzeit greifbar in seinem Besitz behielt, an Bedeutung.
  126. -8-
  127. Der Senat kann nicht ausschließen, daß das Landgericht Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2, Abs. 3 StGB angeordnet hätte, wenn es sich
  128. mit diesen Umständen auseinandergesetzt hätte. Einer Gefährdung der Allgemeinheit im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB stünde nicht entgegen, daß von
  129. der naheliegenden Gefahr erheblicher Übergriffe in erster Linie Menschen im
  130. sozialen Nahbereich des Angeklagten betroffen wären (vgl. BGHR aaO Gefährlichkeit 2). Deshalb verliert auch der Umstand, daß der Angeklagte noch
  131. kurz vor seiner Festnahme eine neue Beziehung anstrebte - worauf die Strafkammer wesentlich abgestellt hat - an Gewicht, zumal dies ersichtlich nicht
  132. Ausdruck der Bewältigung seiner partnerschaftlichen Probleme war, sondern
  133. darauf beruhte, daß er "große Angst vor dem Alleinsein" hatte.
  134. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des gesamten Rechtsfolgenausspruchs des Angeklagten. Der Senat kann hier nicht ausschließen, daß das
  135. Landgericht auf andere Strafen erkannt hätte, hätte es auch die Sicherungsverwahrung angeordnet.
  136. Sollte der neue Tatrichter nicht hinreichend sicher die Voraussetzungen
  137. des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB feststellen können, wird er, da jedenfalls auch die
  138. formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 StGB vorliegen, Gelegenheit haben zu prüfen, ob gemäß § 66 a Abs. 1 StGB (BGBl 2002 I 3344) i.V.m. § 2
  139. Abs. 6 StGB, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorzubehalten
  140. ist.
  141. -9-
  142. Für die erneute Prüfung der Frage, ob der Angeklagte infolge eines
  143. Hanges für die Allgemeinheit gefährlich ist, wird es sich empfehlen, einen weiteren psychiatrischen Sachverständigen hinzuzuziehen.
  144. Tepperwien
  145. Maatz
  146. Ernemann
  147. Athing
  148. Sost-Scheible