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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 3 StR 533/09
  5. vom
  6. 28. Januar 2010
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen versuchten Totschlags u. a.
  10. -2-
  11. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 28. Januar
  12. 2010, an der teilgenommen haben:
  13. Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
  14. Becker,
  15. die Richter am Bundesgerichtshof
  16. von Lienen,
  17. Hubert,
  18. Dr. Schäfer,
  19. Mayer
  20. als beisitzende Richter,
  21. Staatsanwältin
  22. Staatsanwalt
  23. in der Verhandlung,
  24. bei der Verkündung
  25. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  26. Rechtsanwalt
  27. als Verteidiger,
  28. Justizamtsinspektor
  29. als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
  30. für Recht erkannt:
  31. -3-
  32. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Verden vom 18. Juni 2009 werden verworfen.
  33. Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dadurch entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt; der Angeklagte trägt die Kosten
  34. seiner Revision und die dem Nebenkläger dadurch entstandenen
  35. notwendigen Auslagen.
  36. Von Rechts wegen
  37. Gründe:
  38. 1
  39. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt sowie bestimmt, dass hiervon ein Jahr wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als vollstreckt gilt. Vom Vorwurf, dem Nebenkläger eine Halskette gestohlen zu haben, hat es ihn freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft
  40. beanstandet mit ihrer zum Nachteil des Angeklagten eingelegten, auf die Rüge
  41. der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, dass das Landgericht keinen Tötungsvorsatz angenommen hat. Der Angeklagte wendet sich mit einer nicht ausgeführten Formalund der allgemeinen Sachrüge gegen seine Verurteilung. Beide Rechtsmittel
  42. haben keinen Erfolg.
  43. -4-
  44. Nach den Feststellungen des Landgerichts gerieten der Angeklagte und
  45. 2
  46. der Nebenkläger H.
  47. in einer Diskothek in Streit. Bei der sich anschließenden
  48. tätlichen Auseinandersetzung wurde der Angeklagte im Gesicht verletzt und
  49. ging zu Boden. Um sich zu revanchieren, verabredete er mit dem Zeugen
  50. I.
  51. sowie zwei weiteren männlichen Personen, vor der Diskothek auf den
  52. Nebenkläger zu warten und diesen zu verletzen. Als der Nebenkläger die Diskothek verließ, schlugen der Zeuge I.
  53. und die zwei weiteren Personen mit
  54. den Fäusten auf ihn ein. Er wehrte sich. Während der turbulenten Auseinandersetzung fuchtelte der Angeklagte mit einem Klappmesser vor dem Nebenkläger
  55. herum und fügte ihm vier Stichverletzungen zu. Er traf ihn in den
  56. oberen Rückenbereich, den linken Oberschenkel, den rechten Oberarm sowie
  57. in die linke Halsseite im Bereich des Übergangs von Schulter und Hals. Der
  58. Nebenkläger fiel mehrfach zu Boden und blieb schließlich liegen. Der Angeklagte schlug weiter auf ihn ein und sagte zu ihm: "Leg dich niemals mit einem Albaner an, sonst wirst du sehen, was passiert." Sodann wurde er von einer anderen Person weggezogen und flüchtete. Die dem Nebenkläger zugefügten Stiche verursachten keine akut lebensgefährlichen Verletzungen.
  59. 3
  60. I. Revision der Staatsanwaltschaft
  61. 4
  62. Die Beweiswürdigung, auf welche die Überzeugung der Strafkammer
  63. gründet, es sei lediglich ein Körperverletzungs-, nicht aber ein - auch nur bedingter - Tötungsvorsatz festzustellen, weist nach den Maßstäben sachlichrechtlicher Überprüfung durch das Revisionsgericht (s. allgemein BGH NJW
  64. 2005, 2322, 2326) einen durchgreifenden Rechtsfehler nicht auf. Hierzu gilt:
  65. -5-
  66. 1. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt
  67. 5
  68. des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fern liegend erkennt,
  69. ferner, dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung zumindest abfindet. Da die Schuldformen des bedingten Vorsatzes und der bewussten Fahrlässigkeit im Grenzbereich eng beieinander liegen, müssen bei der Annahme bedingten Vorsatzes beide Elemente
  70. der inneren Tatseite, also sowohl das Wissens- als auch das Willenselement,
  71. umfassend geprüft und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen belegt
  72. werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes liegt es
  73. bei äußert gefährlichen Gewalthandlungen zwar nahe, dass der Täter mit der
  74. Möglichkeit, das Opfer könne durch diese zu Tode kommen, rechnet und, weil
  75. er gleichwohl sein gefährliches Handeln fortsetzt, auch einen solchen Erfolg
  76. billigend in Kauf nimmt. Deshalb ist in derartigen Fällen ein Schluss von der objektiven Gefährlichkeit der Handlungen des Täters auf bedingten Tötungsvorsatz grundsätzlich möglich. Angesichts der hohen Hemmschwelle gegenüber
  77. einer Tötung ist jedoch immer auch in Betracht zu ziehen, dass der Täter die
  78. Gefahr der Tötung nicht erkennt oder jedenfalls darauf vertraut haben könnte,
  79. ein solcher Erfolg werde nicht eintreten. Insbesondere bei spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus dem Wissen
  80. um den möglichen Erfolgseintritt nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der
  81. Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen
  82. werden, dass auch das - selbstständig neben dem Wissenselement stehende voluntative Vorsatzelement gegeben ist (st. Rspr.; s. BGH NStZ 2009, 91 m. w.
  83. N.).
  84. 6
  85. 2. Den sich hieraus ergebenden Anforderungen entspricht das angefochtene Urteil.
  86. -6-
  87. 7
  88. a) Das Landgericht hat die gebotene Gesamtschau der bedeutsamen objektiven und subjektiven Tatumstände vorgenommen und dabei insbesondere
  89. die objektive Gefährlichkeit der Verletzungshandlungen, den Tathergang, die
  90. Motivationslage des Angeklagten sowie sein Nachtatverhalten bedacht. Bei seiner Bewertung der Beweistatsachen hat es sich nicht mit allgemeinen, formelhaften Wendungen begnügt; vielmehr hat es seine Überzeugung, es sei lediglich der subjektive Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2, 5 StGB feststellbar, mit
  91. auf den konkreten Fall abgestellten Erwägungen begründet.
  92. 8
  93. b) Die von dem Angeklagten gegenüber dem am Boden liegenden Nebenkläger abgegebene Erklärung hat das Landgericht rechtsfehlerfrei dahin
  94. interpretiert, der Angeklagte habe einschüchternd, erzieherisch und belehrend
  95. auf den Nebenkläger einwirken wollen. Hieraus hat es den - möglichen Schluss gezogen, die Äußerung spreche für das Vorliegen lediglich des Vorsatzes zur Verletzung, nicht aber zur Tötung des Nebenklägers; denn die Warnfunktion der Erklärung habe nur dann Erfolg haben können, wenn dieser überlebt. Dass eine andere Interpretation ebenfalls in Betracht gekommen wäre,
  96. gefährdet den Bestand des Urteils selbst dann nicht, wenn diese näher gelegen
  97. hätte. Soweit die Staatsanwaltschaft die Äußerung als "verbalisiertes Tötungsmotiv" qualifiziert, das für die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes
  98. spreche, ersetzt sie lediglich die tatrichterliche Bewertung durch eine eigene.
  99. Hiermit kann sie im Revisionsverfahren nicht mit Erfolg gehört werden.
  100. 9
  101. c) Es ist weiter nicht zu besorgen, das Landgericht habe bei der Würdigung der Bemerkung verkannt, dass zur Beurteilung der Frage des Vorsatzes
  102. der Tatzeitpunkt maßgebend ist; denn die Strafkammer hat im Rahmen der
  103. Beweiswürdigung ausdrücklich sowohl den Zeitpunkt, in dem der Angeklagte
  104. dem Nebenkläger die Messerstiche beibrachte, als auch denjenigen in den Blick
  105. -7-
  106. genommen, in dem der Angeklagte den am Boden liegenden Nebenkläger verließ und flüchtete.
  107. 10
  108. d) Das Landgericht war entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft
  109. auch nicht gehalten, in die Erwägungen zum Tötungsvorsatz ausdrücklich einzustellen, dass der Angeklagte durch eine weitere Person von dem Nebenkläger weggezogen wurde; denn zu diesem Zeitpunkt hatte er den potentiell tödlichen Angriff mit dem Messer bereits beendet ohne erkannt zu haben, dass er
  110. den Nebenkläger tödlich verletzt haben könnte, und schlug "nur noch" mit den
  111. Händen auf ihn ein.
  112. 11
  113. e) Die Hinweise der Strafkammer, aus bestimmten Umständen könnten
  114. "nicht zwingend" bestimmte Schlüsse auf den Tötungsvorsatz gezogen werden,
  115. begründen hier nicht die Besorgnis, das Tatgericht habe zu hohe Anforderungen an seine für eine Verurteilung notwendige Überzeugung gestellt. Zwar
  116. müssen die vom Tatrichter gezogenen Schlüsse nicht "zwingend" sein; die
  117. Feststellung von Tatsachen verlangt keine absolute, von niemandem anzweifelbare Gewissheit (st. Rspr.; s. etwa BGH, Urt. vom 21. Dezember 2006 3 StR 427/06 m. w. N.). Jedoch hat das Landgericht zu Beginn seiner Beweiswürdigung zum Tötungsvorsatz ausgeführt, die Feststellungen genügten nicht,
  118. den "für eine Verurteilung erforderlichen sicheren - vernünftigen Zweifeln
  119. Schweigen gebietenden - Schluss" zu ziehen, der Angeklagte habe mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt. Damit hat die Strafkammer zunächst
  120. deutlich gemacht, dass sie für die Überzeugungsbildung ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit als genügend ansieht, das vernünftige, nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht aufkommen lässt; sodann hat sie die einzelnen relevanten Umstände einer näheren Betrachtung unterzogen. Der Senat schließt vor diesem Hintergrund trotz
  121. der - allerdings für sich betrachtet rechtlich bedenklichen - späteren Formulie-
  122. -8-
  123. rungen aus, dass der Strafkammer bei der konkreten Bewertung der einzelnen
  124. Beweistatsachen der zuvor zutreffend angegebene Maßstab aus dem Blick geraten sein könnte.
  125. 12
  126. II. Revision des Angeklagten
  127. 13
  128. Das Rechtsmittel des Angeklagten ist unbegründet im Sinne des § 349
  129. Abs. 2 StPO. Die Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht ausgeführt und
  130. deshalb unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Überprüfung des Urteils
  131. aufgrund der allgemein erhobenen Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum
  132. Nachteil des Angeklagten ergeben.
  133. Becker
  134. von Lienen
  135. Schäfer
  136. Hubert
  137. Mayer