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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 1 StR 328/15
  4. vom
  5. 5. August 2015
  6. BGHSt:
  7. ja
  8. BGHR:
  9. ja
  10. Nachschlagewerk: ja
  11. Veröffentlichung: ja
  12. _____________________________
  13. StGB §§ 212, 13 Abs. 1
  14. Eine bewusste Selbstgefährdung lässt grundsätzlich die Erfolgsabwendungspflicht des eintrittspflichtigen Garanten nicht entfallen, wenn sich das allein auf
  15. Selbstge- fährdung angelegte Geschehen erwartungswidrig in Richtung auf den
  16. Verlust des Rechtsguts entwickelt.
  17. BGH, Beschluss vom 5. August 2015 - 1 StR 328/15 - LG München I
  18. in der Strafsache
  19. gegen
  20. wegen Totschlags durch Unterlassen u.a.
  21. -2-
  22. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. August 2015 gemäß § 349
  23. Abs. 2 StPO beschlossen:
  24. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
  25. München I vom 19. Dezember 2014 wird verworfen.
  26. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die
  27. dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
  28. Gründe:
  29. 1
  30. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags durch Unterlassen und wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit versuchter
  31. schwerer räuberischer Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs
  32. Jahren verurteilt.
  33. 2
  34. Seine dagegen auf die ausgeführte Sachrüge gestützte Revision ist unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
  35. I.
  36. 3
  37. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch
  38. wegen Totschlags durch Unterlassen (§ 212 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB) im Fall
  39. B.II.1. der Urteilsgründe (Geschehen vom 18. April 2013). Das Landgericht hat
  40. ohne Rechtsfehler den Angeklagten für rechtlich verpflichtet gehalten, den Tod
  41. -3-
  42. des später verstorbenen A.
  43. zu verhindern und hat ihm den eingetretenen
  44. Tod des Geschädigten zu seinem Vorsatz zugerechnet.
  45. 4
  46. 1. Nach den auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung beruhenden
  47. Feststellungen hatten sich mehrere Personen, u.a. der Angeklagte und A.
  48. ,
  49. bereits im Verlaufe des Nachmittags getroffen und gemeinsam Alkohol sowie
  50. verschiedene Betäubungsmittel konsumiert. Gegen Abend begab sich die
  51. Gruppe in die in einem größeren Gebäudekomplex gelegene Wohnung des
  52. Angeklagten. Dort nahmen die Anwesenden weiterhin u.a. Alkohol, Amphetamin und Cannabis zu sich. Im Verlaufe des Abends bot der Angeklagte den
  53. übrigen Personen in der Wohnung an, Gammabutyrolacton (GBL) zu konsumieren. Dieser Stoff befand sich unverdünnt in einer im Besitz des Angeklagten
  54. befindlichen Glasflasche. Außer dem nicht revidierenden Mitangeklagten F.
  55. ging keiner der sonstigen Anwesenden auf das Angebot ein. Nachdem der Angeklagte und der Mitangeklagte etwa zwei bis drei Milliliter GBL, verdünnt in
  56. einem halben Liter Wasser, konsumiert hatten, blieb die Flasche mit dem GBL
  57. frei zugänglich in der Wohnung des Angeklagten stehen. Spätestens nach dem
  58. eigenen Konsum wies der Angeklagte seine Gäste darauf hin, dass GBL nicht
  59. unverdünnt zu sich genommen werden dürfe.
  60. 5
  61. Einige Zeit danach setzte der später verstorbene A.
  62. die Flasche mit
  63. dem unverdünnten GBL direkt an und trank eine durch das Landgericht nicht
  64. mehr näher feststellbare Menge der Substanz. Der Angeklagte und der Mitangeklagte, die von der Aufnahme einer tödlich wirkenden Menge ausgingen, versuchten erfolglos, A.
  65. zum Erbrechen zu veranlassen. Dieser verlor viel-
  66. mehr das Bewusstsein. Nachdem A.
  67. in eine stabile Seitenlage gebracht
  68. worden war, beschränkte sich der Angeklagte – wie auch die übrigen Anwesenden darauf – die Atemfrequenz des bewusstlosen Geschädigten zu kontrol-
  69. -4-
  70. lieren. Spätestens als der Angeklagte wahrnahm, dass A.
  71. lediglich noch
  72. alle sechs bis acht Sekunden atmete, nahm er billigend in Kauf, dass der Geschädigte ohne das unverzügliche Herbeirufen von ärztlicher Hilfe an den Folgen der Einnahme des unverdünnten GBL versterben werde. Dennoch blieb er
  73. untätig. Hätte er zu diesem Zeitpunkt medizinische Hilfe angefordert, wäre das
  74. Leben des Geschädigten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden. Auch nachdem – vom Angeklagten wahrgenommen – die Atemfrequenz von A.
  75. noch niedriger, die Atmung zudem unregelmäßig und ge-
  76. räuschintensiv wurde, leitete der Angeklagte zunächst weiterhin keine Rettungsmaßnahmen ein.
  77. 6
  78. Später wurde, nicht ausschließbar auf die Initiative des Angeklagten, ein
  79. erster Rettungswagen verständigt. Als der Angeklagte beobachtete, dass dieser
  80. Rettungswagen abfuhr, ohne A.
  81. aufgenommen zu haben, ließ er einen
  82. zweiten Rettungswagen herbeirufen. Dessen Besatzung unternahm Wiederbelebungsversuche. Diese führten jedoch nicht zum Erfolg. A.
  83. verstarb an
  84. einem durch den Konsum von GBL ausgelösten Atemstillstand und der
  85. dadurch bewirkten Sauerstoffunterversorgung des Gehirns.
  86. 7
  87. 2. Nach diesen Feststellungen hat sich der Angeklagte wegen Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht.
  88. 8
  89. a) Der Angeklagte hatte im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB rechtlich dafür
  90. einzustehen, dass der Tod des Geschädigten A.
  91. nach dessen Konsum von
  92. GBL nicht eintritt. Diese Pflicht zur Abwendung des Todeserfolgs resultierte aus
  93. der tatsächlichen Herrschaft des Angeklagten über die in seinem Besitz befindliche und von ihm in seiner Wohnung für die übrigen dort Anwesenden frei zugängliche Flasche mit dem hochgradig gesundheits- und lebensgefährlichen
  94. GBL.
  95. -5-
  96. 9
  97. aa) In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass
  98. jeder, der eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, die nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Vorkehrungen zum Schutz anderer Personen zu treffen
  99. hat (BGH, Urteil vom 13. November 2008 – 4 StR 252/08, BGHSt 53, 38, 41 f.
  100. Rn. 16 mwN; siehe auch BGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – 2 StR 295/11,
  101. NStZ 2012, 319). Die entsprechende Pflicht beschränkt sich auf das Ergreifen
  102. solcher Maßnahmen, die nach den Gesamtumständen zumutbar sind und die
  103. ein verständiger und umsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält,
  104. um Andere vor Schäden zu bewahren. Eine aus der Zuständigkeit für eine Gefahrenquelle folgende Erfolgsabwendungspflicht gemäß § 13 Abs. 1 StGB besteht allerdings lediglich dann, wenn mit der Eröffnung der Gefahrenquelle die
  105. nahe liegende Möglichkeit begründet wurde, dass Rechtsgüter anderer Personen verletzt werden können (vgl. bereits BGH, Urteil vom 13. November 2008
  106. – 4 StR 252/08, BGHSt 53, 38, 42 Rn. 16; BGH, Urteil vom 21. Dezember 2011
  107. – 2 StR 295/11, NStZ 2012, 319). In welchem Umfang die Erfolgsabwendungspflicht besteht, bestimmt sich nach dem Grad der Gefahr. Die Anforderungen
  108. an den für die Gefahrenquelle Zuständigen sind umso höher, je größer bei erkennbarer Gefährlichkeit einer Handlung die Schadenswahrscheinlichkeit und
  109. Schadensintensität sind (BGH, Urteil vom 13. November 2008 – 4 StR 252/08,
  110. BGHSt 53, 38, 42 Rn. 16 mwN).
  111. 10
  112. bb) An diesen Grundsätzen gemessen ist die rechtliche Würdigung des
  113. Tatgerichts, der Angeklagte sei Garant für das Leben des später verstorbenen
  114. A.
  115. 11
  116. gewesen, nicht zu beanstanden.
  117. Die dem Konsum des unverdünnten GBL durch A.
  118. zeitlich voraus-
  119. gegangenen Umstände legten die Möglichkeit nahe, dass es wegen des freien
  120. Zugangs aller in der Wohnung des Angeklagten Anwesenden zu einem Zugriff
  121. -6-
  122. auf die Flasche mit dem GBL kommen werde. Alle sich dort Aufhaltenden und
  123. damit auch A.
  124. hatten bereits im Verlaufe des Nachmittags außerhalb der
  125. Wohnung unterschiedliche Suchtmittel zu sich genommen. In der Wohnung
  126. war es zu weiterem Konsum von Alkohol und verschiedenen Betäubungsmitteln
  127. gekommen. Angesichts dieses wahllosen Suchtmittelkonsumverhaltens der in
  128. der Wohnung anwesenden Personen war trotz der zunächst ausbleibenden
  129. Reaktion der Gäste auf die Aufforderung des Angeklagten, von dem GBL zu
  130. konsumieren, die Gefahr eines Zugriffs auch auf diese Substanz nahe liegend.
  131. Unabhängig von dem jeweils konkreten Umfang des Suchtmittelkonsums der
  132. verschiedenen Gäste und den jeweiligen individuellen Auswirkungen auf die
  133. Fähigkeit zur Risikoeinschätzung, entspricht eine enthemmende Wirkung von
  134. Suchtmittelkonsum allgemeiner Erfahrung. Dass es angesichts des bis zum
  135. Vorfallzeitpunkt von allen Anwesenden gezeigten Konsumverhaltens auch zu
  136. der Einnahme von GBL kommen würde, war daher eine voraussehbare Entwicklung.
  137. 12
  138. Wegen der mit einer Einnahme des unverdünnt in der für jeden Anwesenden frei zugänglichen Flasche befindlichen GBL einhergehenden hohen
  139. Gefährlichkeit für das Leben und die Gesundheit von Konsumenten waren an
  140. den Angeklagten als Inhaber der Sachherrschaft über den gefährlichen Gegenstand hohe Sorgfaltsanforderungen zu stellen, um der Lebensgefährlichkeit des
  141. Konsums zu begegnen. Die ausgesprochene Warnung des Angeklagten, GBL
  142. nicht unverdünnt zu sich zu nehmen, genügte angesichts des frei zugänglichen
  143. Aufstellens der Flasche in der Wohnung in Anwesenheit mehrerer Personen,
  144. die bereits zuvor Alkohol und verschiedene Drogen konsumiert hatten, dazu
  145. nicht. Der Angeklagte hat daher als für die Flasche zuständiger Besitzer durch
  146. den geschilderten Umgang mit ihr eine Gefahrenquelle eröffnet. Dies begründete grundsätzlich seine Pflicht, dem von dieser Quelle für die Rechtsgüter Dritter
  147. -7-
  148. ausgehenden Gefährlichkeitspotential durch geeignete und ihm zumutbare
  149. Maßnahmen zu begegnen.
  150. 13
  151. b) Diese Pflicht entfiel – wie das Landgericht rechtsfehlerfrei angenommen hat – auch nicht deshalb, weil der später verstorbene A.
  152. trotz der
  153. ausgesprochenen Warnung des Angeklagten aus eigenem Entschluss das
  154. GBL unverdünnt zu sich genommen hat.
  155. 14
  156. aa) Zwar unterfällt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung
  157. grundsätzlich nicht den Tatbeständen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts, wenn sich das mit der Gefährdung vom Opfer bewusst eingegangene
  158. Risiko realisiert. Wer eine solche Gefährdung veranlasst, ermöglicht oder fördert, kann daher nicht wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts
  159. verurteilt werden; denn er nimmt an einem Geschehen teil, welches – soweit es
  160. um die Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht – kein tatbestandsmäßiger und damit strafbarer Vorgang ist (siehe nur BGH, Urteil vom
  161. 28. Januar 2014 – 1 StR 494/13, BGHSt 59, 150, 167 Rn. 71 mit zahlr.
  162. Nachw.). Diese Grundsätze gelten sowohl für die vorsätzliche als auch die fahrlässige Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung oder Selbstverletzung (BGH, Urteil vom 28. Januar
  163. 2014 – 1 StR 494/13, BGHSt 59, 150, 168 Rn. 71).
  164. 15
  165. bb) Eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung seines Lebens durch
  166. den Verstorbenen A.
  167. schloss jedoch die aus der Herrschaft über eine Ge-
  168. fahrenquelle resultierende Pflicht des Angeklagten zur Abwendung des drohenden Todeserfolgs gerade nicht aus, als sich nach der unverdünnten Einnahme von GBL gerade das Gefahrenpotential für das Leben A.
  169. s zu reali-
  170. -8-
  171. sieren begann, das der Angeklagte durch das dem Zugriff seiner Gäste offene
  172. Abstellen der Flasche mit dem genannten Stoff gerade eröffnet hatte.
  173. 16
  174. (1) Der Bundesgerichtshof hat bereits entschieden, dass die Erfolgsabwendungspflicht eines Garanten nicht entfällt, wenn sein Verhalten zunächst
  175. lediglich eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung derjenigen Person ermöglicht, für dessen Rechtsgut bzw. Rechtsgüter er als Garant rechtlich im Sinne
  176. von § 13 Abs. 1 StGB einzustehen hat (vgl. BGH, Urteile vom 27. Juni 1984
  177. – 3 StR 144/84, NStZ 1984, 452 und vom 9. November 1984 – 2 StR 257/84;
  178. im Ergebnis auch BGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – 2 StR 295/11, NStZ
  179. 2012, 319). Die Straflosigkeit des auf die Herbeiführung des Risikos gerichteten
  180. Verhaltens ändere nichts daran, dass für den Täter Garantenpflichten in dem
  181. Zeitpunkt bestehen, in dem aus dem allgemeinen Risiko eine besondere Gefahrenlage erwächst. Mit dem Eintritt einer solchen Gefahrenlage ist der Täter
  182. verpflichtet, den drohenden Erfolg abzuwenden (BGH, Urteile vom 27. Juni
  183. 1984 – 3 StR 144/84, NStZ 1984, 452 und vom 9. November 1984 – 2 StR
  184. 257/84; in der Sache ebenso BGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – 2 StR
  185. 295/11, NStZ 2012, 319).
  186. 17
  187. (2) An diesen Grundsätzen ist jedenfalls dann festzuhalten, wenn – wie
  188. nach den tatrichterlichen Feststellungen hier (UA S. 22) – das Verhalten des
  189. Opfers sich in Bezug auf das Rechtsgut Leben in einer (möglichen) eigenverantwortlichen Selbstgefährdung erschöpft. Entgegen in der Strafrechtswissenschaft geäußerter Kritik (etwa Roxin, Strafrecht, AT/1, 4. Aufl., § 11 Rn. 112;
  190. Kühl in Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., Vor § 211 Rn. 16; Fünfsinn StV 1985, 57
  191. f.) ist es in diesen Konstellationen nicht wertungswidersprüchlich, zwar jegliche
  192. Beteiligung an der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung selbst für einen Garanten straffrei zu stellen, bei Realisierung des von dem betroffenen Rechts-
  193. -9-
  194. gutsinhaber eingegangenen Risikos aber eine strafbewehrte Erfolgsabwendungspflicht aus § 13 Abs. 1 StGB anzunehmen. Denn anders als in den
  195. Selbsttötungsfällen erschöpft sich im Fall der Selbstgefährdung die Preisgabe
  196. des eigenen Rechtsguts gerade darin, dieses in einem vom Betroffenen jedenfalls in seinem wesentlichen Grad zutreffend erkannten Umfang (Kenntnis
  197. sämtlicher rechtsgutsbezogener Risiken des fraglichen Verhaltens wird nicht
  198. gefordert, vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 5 StR 491/10, NStZ
  199. 2011, 341, 342; siehe auch BGH, Urteil vom 28. Januar 2014 – 1 StR 494/13,
  200. BGHSt 59, 150, 169 f. Rn. 80 und 81) einem Risiko auszusetzen. Eine Hinnahme des als möglich erkannten Erfolgseintritts bei Realisierung des eingegangenen Risikos ist mit der Vornahme der Selbstgefährdung gerade nicht
  201. notwendig verbunden (siehe insoweit auch Freund in Münchener Kommentar
  202. zum StGB, 2. Aufl., § 13 Rn. 190; in der Sache anders dagegen Murmann NStZ
  203. 2012, 387, 388 f.).
  204. 18
  205. Entwickelt sich das allein auf Selbstgefährdung angelegte Geschehen
  206. erwartungswidrig in Richtung auf den Verlust des Rechtsguts, umfasst die ursprüngliche Entscheidung des Rechtsgutsinhabers für die (bloße) Gefährdung
  207. seines Rechtsguts nicht zugleich den Verzicht auf Maßnahmen zum Erhalt des
  208. nunmehr in einen Zustand konkreter Gefahr geratenen Rechtsguts (vgl. Freund
  209. aaO). Eine Person, die nach den allgemeinen Grundsätzen des § 13 Abs. 1
  210. StGB Garant für das bedrohte Rechtsgut ist, trifft dann im Rahmen des tatsächlich Möglichen und ihr rechtlich Zumutbaren die Pflicht, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs abzuwenden.
  211. 19
  212. Dem ist der Angeklagte nicht nachgekommen, weil er in dem Zeitraum,
  213. in dem noch die Möglichkeit der Abwendung des Todes von A.
  214. bestand,
  215. auf das Herbeirufen der lebensnotwendigen medizinischen Hilfe verzichtet hat.
  216. - 10 -
  217. 20
  218. (3) Ob für den Fall eines eigenverantwortlichen Suizids nach Verlust der
  219. Handlungsherrschaft des den Selbstmord Anstrebenden etwas anderes gilt
  220. (vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – 2 StR 295/11, NStZ 2012, 319),
  221. bedarf keiner Entscheidung. Denn das Landgericht hat einen Selbsttötungswillen des Verstorbenen A.
  222. mit rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung ausge-
  223. schlossen (UA S. 40).
  224. 21
  225. c) Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht, vor allem gestützt auf das
  226. rechtsmedizinische Sachverständigengutachten, festgestellt, dass A.
  227. bei
  228. rechtzeitigem Verständigen von medizinischer Hilfe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte gerettet werden können (UA S. 60–62).
  229. 22
  230. d) Die Feststellungen zum bedingten Tötungsvorsatz werden durch eine
  231. umfassende, die Anforderungen an die Wissens- und die Willenskomponente
  232. dieser Vorsatzform berücksichtigende Gesamtwürdigung getragen (UA S. 63–
  233. 67).
  234. II.
  235. 23
  236. Der Schuldspruch wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit
  237. mit versuchter schwerer räuberischer Erpressung im Fall B.II.2. der Urteilsgründe (Geschehen vom 26./27. Mai 2013) weist ebenfalls keinen Rechtsfehler zum
  238. Nachteil des Angeklagten auf.
  239. 24
  240. 1. Die getroffenen Feststellungen belegen die Tathandlung des SichBemächtigens im Sinne von § 239a Abs. 1 Halbs. 1 StGB spätestens ab dem
  241. Zeitpunkt des Verbringens des Nebenklägers in die Wohnung des (weiteren)
  242. - 11 -
  243. nicht revidierenden Mitangeklagten J.
  244. . Sich-Bemächtigen liegt bereits vor,
  245. wenn der Täter die physische Herrschaft über einen anderen erlangt hat; dafür
  246. ist weder eine Ortsveränderung erforderlich noch muss der Tatbestand der
  247. Freiheitsberaubung erfüllt sein (BGH, Urteil vom 22. Oktober 2009 – 3 StR
  248. 372/09, NStZ 2010, 516). Die Umstände des Festhaltens in der fraglichen
  249. Wohnung (UA S. 26 und 27) ergeben die Erlangung physischer Herrschaft über
  250. den Nebenkläger. Dass es diesem zwischenzeitlich gelungen war, sich aus einer Fesselung durch Handschellen zu befreien, steht dem angesichts der sonstigen Umstände seines Festhaltens in der Wohnung nicht entgegen.
  251. 25
  252. 2. Soweit das Landgericht bezüglich § 239a StGB auf eine stabilisierte
  253. Bemächtigungslage abgestellt hat (UA S. 91), wäre es darauf nicht angekommen, weil der Angeklagte und sein nicht revidierender Mitangeklagter F.
  254. nach den getroffenen Feststellungen (auch) die Sorge des Vaters des geschädigten Nebenklägers um dessen Wohl zu einer Erpressung ausnutzen wollten.
  255. In solchen meist sog. Drei-Personen-Verhältnissen kommt nach der neueren
  256. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Bemächtigungslage und deren
  257. Stabilisierung geringere Bedeutung zu als in sog. Zwei-Personen-Verhältnissen
  258. (Nachw. bei Fischer, StGB, 62. Aufl., § 239a Rn. 8b). Dass das Tatgericht sogar strengere Anforderungen an die Verwirklichung des Tatbestands gestellt
  259. hat, geht ersichtlich nicht zu Lasten des Angeklagten.
  260. III.
  261. 26
  262. Der Rechtsfolgenausspruch hält ebenfalls rechtlicher Prüfung stand.
  263. - 12 -
  264. 27
  265. Das Unterbleiben der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB hat das Landgericht ohne Rechtsfehler mit dem
  266. Fehlen eines Hangs des Angeklagten, alkoholische Getränke oder sonstige
  267. berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, begründet.
  268. 28
  269. 1. Hang im Sinne von § 64 StGB verlangt eine chronische, auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit oder zumindest eine eingewurzelte, auf
  270. psychischer Disposition beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu
  271. nehmen. Ausreichend für die Annahme eines Hangs zum übermäßigen Genuss
  272. von Rauschmitteln ist jedenfalls, dass der Betroffene aufgrund seiner Konsumgewohnheiten sozial gefährdet oder gefährlich erscheint. Insoweit kann dem
  273. Umstand, dass durch den Rauschmittelgenuss bereits Gesundheit, Arbeits- und
  274. Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt sind, zwar indizielle Bedeutung für
  275. das Vorliegen eines Hangs zukommen; das Fehlen dieser Beeinträchtigungen
  276. schließt indessen nicht notwendigerweise die Bejahung eines Hangs aus (BGH,
  277. Beschluss vom 18. September 2013 – 1 StR 382/13, BGHR StGB § 64 Satz 1
  278. Hang 1 mwN; Urteil vom 15. Mai 2014 – 3 StR 386/13 Rn. 10 [in NStZ-RR
  279. 2014, 271 nur LS]).
  280. 29
  281. 2. Diese Grundsätze hat das Landgericht zugrunde gelegt, sachverständig beraten jedoch die Voraussetzungen des Hangs weder im Sinne körperlicher Sucht noch psychischer Disposition, sondern lediglich einen schädlichen
  282. Gebrauch von Alkohol und sonstigen Mitteln festzustellen vermocht. Dabei hat
  283. es im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend berücksichtigt, dass vorhandene
  284. Beeinträchtigungen der Gesundheit sowie der Arbeits- und Lebensfähigkeit
  285. ebenso lediglich indizielle Bedeutung für den Hang haben wie umgekehrt das
  286. - 13 -
  287. (bisherige) Fehlen solcher Beeinträchtigungen nur Indizien sind, die auf die
  288. Abwesenheit eines Hangs hindeuten können.
  289. 30
  290. Da dem Landgericht die jeweils allein indizielle Bedeutung bewusst war,
  291. ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass es unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte vor allem aus dem geregelten Arbeitsleben des Angeklagten,
  292. seiner Fähigkeit, bisherige soziale Bindungen fortzuführen und neue zu knüpfen, sowie eingelegten Konsumpausen und dem Fehlen von Entzugserscheinungen nach der Festnahme in Übereinstimmung mit dem psychiatrischen
  293. Sachverständigen einen Hang verneint hat.
  294. 31
  295. 3. Angesichts des Vorstehenden kommt es nicht darauf an, ob auch
  296. – wie das Landgericht in Hilfserwägungen meint – der symptomatische Zusammenhang zwischen den begangenen Taten und einem (unterstellten) Hang
  297. fehlte.
  298. Raum
  299. Jäger
  300. Mosbacher
  301. Radtke
  302. Fischer