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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. X ZR 113/13
  5. Verkündet am:
  6. 8. September 2015
  7. Hartmann
  8. Justizangestellte
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in der Patentnichtigkeitssache
  12. Nachschlagewerk:
  13. ja
  14. BGHZ:
  15. nein
  16. BGHR:
  17. ja
  18. PALplus
  19. EPÜ Art. 54 Abs. 3
  20. Eine ältere nachveröffentlichte Patentanmeldung ist bei der Neuheitsprüfung
  21. auch dann zu berücksichtigen, wenn sie nach ihrer Veröffentlichung zurückgenommen wird oder als zurückgenommen gilt.
  22. BGH, Urteil vom 8. September 2015 - X ZR 113/13 - Bundespatentgericht
  23. -2-
  24. Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. September 2015 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. MeierBeck, die Richter Gröning, Dr. Grabinski und Hoffmann sowie die Richterin
  25. Dr. Kober-Dehm
  26. für Recht erkannt:
  27. Die Berufung der Beklagten gegen das am 3. Juli 2013 verkündete
  28. Urteil des 5. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts wird zurückgewiesen.
  29. Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klägerin ein
  30. Viertel und die Beklagte drei Viertel zu tragen.
  31. Von Rechts wegen
  32. Tatbestand:
  33. 1
  34. Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des auch für die Bundesrepublik
  35. Deutschland erteilten europäischen Patents 595 790 (Streitpatent), das unter
  36. Inanspruchnahme der Priorität der deutschen Patentanmeldung 41 12 712.9
  37. (NK4) vom 18. April 1991 am 9. April 1992 angemeldet wurde und nach Klageerhebung durch Zeitablauf erloschen ist. Von insgesamt acht Patentansprüchen
  38. hat Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung folgenden Wortlaut:
  39. "Verfahren zum kompatiblen Übertragen einer SignalartZusatzinformation (106) in nicht zum vertikalen Rücklauf
  40. -3-
  41. gehörenden Zeilen eines Fernsehsignals, wobei die SignalartZusatzinformation in verbesserten 16:9-Empfängern auswertbar
  42. ist,
  43. dadurch gekennzeichnet, dass als Signalart-Zusatzinformation in
  44. der von Bildsignalen freien Hälfte der ersten oder letzten aktiven
  45. Bildzeile von Fernsehbildern ein Datenpaket übertragen wird,
  46. welches Einlauf-, Start- und Nutzinformationsdaten enthält, wobei
  47. empfangsseitig die Einlaufinformationsdaten für die phasenrichtige Rückgewinnung des Datentaktes der Nutzinformationsdaten dienen und die Startinformationsdaten zur Adressierung der
  48. Nutzinformationsdaten sowie zur selektiven Erfassung des
  49. Beginns der Nutzinformationsdaten dienen, und dass die
  50. Signalart-Zusatzinformation mindestens zwei der folgenden
  51. Fernseh-Signalarten umfasst:
  52. - Standard-Signal, das kein Letterbox-Signal ist und keine BildZusatzinformationen enthält;
  53. - Letterbox-Signal ohne Bild-Zusatzinformationen;
  54. - Letterbox-Signal von Film-Quelle mit Bild-Zusatzinformationen;
  55. - Letterbox-Signal
  56. von
  57. Kamera-Quelle
  58. mit
  59. Bild-Zusatzinformationen, insbesondere mit einer Unterscheidung
  60. zwischen als statisch und als bewegt geltendem Bildinhalt der
  61. Halb- oder Vollbilder."
  62. 2
  63. Die Klägerin, die wegen Verletzung des Streitpatents in Anspruch genommen wird, hat mit der Nichtigkeitsklage geltend gemacht, dem Gegenstand
  64. des Streitpatents, das die angegebene Priorität nicht wirksam beanspruchen
  65. könne, fehle die Patentfähigkeit. Patentanspruch 2 und die Beschreibung enthielten jeweils unzulässige Erweiterungen. Weiterhin sei der Gegenstand nicht
  66. in einer für den Fachmann ausführbaren Weise offenbart.
  67. -4-
  68. 3
  69. Das Patentgericht hat das Streitpatent teilweise für nichtig erklärt, indem
  70. Patentanspruch 1 am Ende folgendes Merkmal angefügt worden ist:
  71. "und dass den Einlaufinformationsdaten ein Impuls der Dauer T2
  72. vorangestellt ist, dessen Pegel der maximalen Amplitude Umax
  73. der Daten entspricht und dessen Breite ein Mehrfaches der
  74. Taktperiode der Daten umfasst."
  75. 4
  76. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie das Streitpatent nur noch beschränkt verteidigt, indem im erteilten Patentanspruch 1 das
  77. Wort "mindestens" sowie die letzten beiden Spiegelstriche und Patentanspruch 2 vollständig gestrichen werden sollen. Die Klägerin, die ihre eigene Berufung zurückgenommen hat, tritt dem Rechtsmittel entgegen.
  78. Entscheidungsgründe:
  79. 5
  80. I.
  81. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zur Sendung von Fernseh-
  82. signalen.
  83. 6
  84. 1.
  85. Nach der Beschreibung im Streitpatent ist bekannt, dass Fernseh-
  86. signale im Breitbildformat 16:9 gemäß der zum Prioritätszeitpunkt in Aussicht
  87. genommenen PALplus-Norm kompatibel zur damals gültigen PAL-Norm so
  88. übertragen werden, dass sie in herkömmlichen Fernsehempfängern mit dem
  89. Bildformat 4:3 als "Letterbox-Bild" mit schwarzen Balken am oberen und unteren Bildrand wiedergegeben werden können. Damit Fernseher mit Bildschirmen
  90. im 16:9-Format aus dem Letterbox-Signal das ursprüngliche Fernsehsignal mit
  91. einer erhöhten Bildauflösung generieren können, wird für die Zeilen der
  92. -5-
  93. schwarzen Balken der Schwarzwert angehoben, so dass in diesen Zeilen weitere Bildinformationen übertragen werden können.
  94. 7
  95. Der Erfindung liegt die Aufgabe zugrunde, mit dem Fernsehsignal Informationen zur jeweils übertragenen Signalart auf eine den bisherigen Standard
  96. möglichst wenig berührende Weise mit zu übertragen.
  97. 8
  98. 2.
  99. Zur Lösung schlägt Patentanspruch 1 in der im Berufungsverfah-
  100. ren verteidigten Fassung ein Verfahren vor, dessen Merkmale sich wie folgt
  101. gliedern lassen (Gliederungsziffern gemäß dem patentgerichtlichen Urteil, jedoch mit teilweise entsprechend dem technischen Ablauf geänderter Abfolge):
  102. 1.
  103. Das Verfahren ist zum kompatiblen Übertragen einer Signalart-Zusatzinformation (106) in Zeilen eines Fernsehsignals geeignet.
  104. 1.1 Die Signalart-Zusatzinformation wird in Zeilen des Fernsehsignals übertragen, die nicht zum vertikalen Rücklauf gehören.
  105. 3a. Die Signalart-Zusatzinformation wird in der von Bildsignalen freien Hälfte der ersten aktiven Bildzeile von
  106. Fernsehbildern übertragen oder
  107. 3b. die Signalart-Zusatzinformation wird in der von Bildsignalen freien Hälfte der letzten aktiven Bildzeile von
  108. Fernsehbildern übertragen.
  109. 2.
  110. Die
  111. Signalart-Zusatzinformation
  112. ist
  113. in
  114. verbesserten
  115. 16:9-Empfängern auswertbar.
  116. 4.
  117. Als Signalart-Zusatzinformation wird ein Datenpaket übertragen.
  118. -6-
  119. 4.1 Das Datenpaket enthält Einlauf-, Start- und Nutzinformationsdaten.
  120. 4.2 Die Einlaufinformationsdaten dienen empfangsseitig für
  121. die phasenrichtige Rückgewinnung des Datentaktes der
  122. Nutzinformationsdaten.
  123. 4.3 Die Startinformationsdaten dienen zur Adressierung der
  124. Nutzinformationsdaten sowie zur selektiven Erfassung
  125. des Beginns der Nutzinformationsdaten.
  126. 5.
  127. Die Signalart-Zusatzinformation umfasst die beiden folgenden Fernseh-Signalarten:
  128. 5.1 Standard-Signal, das kein Letterbox-Signal ist und
  129. keine Bild-Zusatzinformationen enthält,
  130. 5.2 Letterbox-Signal ohne Bild-Zusatzinformationen.
  131. 9
  132. 3.
  133. Im Hinblick auf zwei Merkmale bedarf der Patentanspruch näherer
  134. Erläuterung:
  135. 10
  136. a)
  137. Merkmal 1 ist dahin zu verstehen, dass bei einem kompatibel
  138. übertragenen Fernsehsignal das Fernsehbild sowohl von herkömmlichen Fernsehgeräten gemäß dem alten PAL-Standard im Bildformat 4:3 als auch von
  139. neueren Fernsehgeräten im Breitbildformat 16:9 nach dem PALplus-Standard
  140. wiedergeben werden können.
  141. 11
  142. b)
  143. Die Merkmale 3a und 3b beschreiben konkret, an welchen Stellen
  144. im übertragenen Fernsehbild die Signalart-Zusatzinformation übertragen werden kann, und bestimmen damit Merkmal 1.1 näher. Gemäß dem zum Prioritätszeitpunkt etablierten PAL-Standard werden die Fernsehbilder im Zeilensprungverfahren mit zwei Halbbildern übertragen, indem in jedem Halbbild von
  145. -7-
  146. einer Zeile jeweils zur übernächsten Zeile gesprungen und die übersprungenen
  147. Zeilen jeweils vom nächsten Halbbild übertragen werden. Dabei beginnt das
  148. erste Halbbild in dessen erster Zeile erst in der Mitte der Zeile, so dass deren
  149. erste Hälfte frei bleibt, und im zweiten Halbbild endet die letzte Zeile bereits in
  150. der Mitte, so dass deren zweite Hälfte frei bleibt.
  151. 12
  152. II.
  153. Das Patentgericht hat die Neuheit des Gegenstands von Pa-
  154. tentanspruch 1 in der von der Beklagten bereits in erster Instanz als ersten
  155. Hilfsantrag verteidigten Fassung verneint.
  156. 13
  157. Das Streitpatent habe nur einen Zeitrang vom 9. April 1992; es könne die
  158. Priorität der NK4 nicht wirksam in Anspruch nehmen. Die NK4 betreffe nicht
  159. dieselbe Erfindung. Unter anderem gehe eine Signalart-Zusatzinformation für
  160. die Signalart "Letterbox ohne Zusatzinfo" (Merkmal 5.2) aus der NK4 nicht hervor.
  161. 14
  162. Die europäische Patentanmeldung 555 918 (NK18) sei für die Neuheitsprüfung gemäß Art. 89 iVm Art. 54 Abs. 3 EPÜ zu berücksichtigen, weil sie
  163. wirksam die Priorität der vor dem Streitpatent angemeldeten europäischen Patentanmeldung 92 200 407.2 (NK19) beanspruche. Dem stehe nicht entgegen,
  164. dass die in NK19 formulierten Patentansprüche einen anderen Gegenstand definierten als die in der NK18 formulierten Patentansprüche. Entscheidend sei
  165. vielmehr, dass der Gegenstand der NK18, soweit er im Streitfall für den Neuheitsvergleich herangezogen werde, von dem gesamten Offenbarungsgehalt
  166. der NK19 einschließlich seiner Ausführungsbeispiele mit umfasst gewesen sei.
  167. 15
  168. Die NK18 nehme sämtliche Merkmale des Patentanspruchs 1 sowohl in
  169. der erteilten als auch in der - nunmehr im Berufungsverfahren allein, in erster
  170. Instanz noch hilfsweise - verteidigten Fassung vorweg.
  171. -8-
  172. 16
  173. Die NK18 befasse sich mit Zusatzsignalen in einer PALplus-Systemumgebung zur Übertragung von Steuerdaten in Form von Steuerbits. Als Beispiele für solche Systemparameter benenne sie explizit unter anderem das
  174. Bildverhältnis (4:3 oder 16:9), ob es sich um ein PALplus-Signal oder ein Standard-PAL-Signal handele und ob die "schwarzen Balken" bei Übertragung eines
  175. 16:9-Bildes als 4:3-Bild-Videoinformationen zur Erhöhung der vertikalen Auflösung enthielten. Diese Steuerbits stellten gemäß ihrer Funktion SignalZusatzinformationen dar, die nach der weiteren Beschreibung der NK18 in der
  176. freien Hälfte der ersten aktiven Zeile eines PAL-Fernsehbildes zu übertragen
  177. seien (Merkmale 1.1, 3a) und von einem verbesserten 16:9-Empfänger ausgewertet werden könnten (Merkmal 2). Mit dem Vorschlag, die Signal-Zusatzinformationen an einem standardgemäß freien Platz der Bildzeile zu übertragen, werde dem Fachmann eine zum normalen PAL-Fernsehsignal kompatible
  178. Übertragungsmöglichkeit mitgeteilt (Merkmal 1). Die Signal-Zusatzinformation
  179. werde als Bit-Sequenz und somit als Datenpaket übertragen (Merkmal 4). Gemäß der Beschreibung der NK18 könne diese Bit-Sequenz eine Präambel aufweisen mit einem Trainingssignal für die Datensynchronisation zur phasenrichtigen Rückgewinnung im Empfangsgerät (Merkmal 4.2). Weiterhin enthalte die
  180. Präambel eine Sequenz zur präzisen Lokalisierung des ersten Datenbits im
  181. PALplus-Steuersignal, die damit der Adressierung und der selektiven Erfassung
  182. der Nutzinfomationsdaten diene (Merkmal 4.3). Daraus ergebe sich ein Datenpaket mit Einlauf-, Start- und Nutzinformationsdaten (Merkmal 4.1).
  183. 17
  184. Mit der übertragenen Signalart-Zusatzinformation erhalte das Empfangsgerät Informationen über Fernsehsignalarten (Merkmal 5), wie über das Bildformat (4:3 oder 16:9), womit das Empfangsgerät ein Standard-PAL-Signal im
  185. Bildformat 4:3 erkennen könne (Merkmal 5.1). Weiterhin werde im Falle des
  186. Letterbox-Signals die Zusatzinformation übertragen, ob die bei einem 16:9Format mitübertragenen "schwarzen" Letterbox-Balken Videoinformationen
  187. -9-
  188. enthielten. Der Fachmann erkenne, dass damit auch angezeigt werde, wenn
  189. dies nicht der Fall sei, die Zeilen der schwarzen Balken mithin keine Videoinformationen enthielten. Folglich kennzeichne diese Signalart-Zusatzinformation
  190. unmittelbar auch ein Letterbox-Signal ohne Bild-Zusatzinformationen (Merkmal 5.2).
  191. 18
  192. III.
  193. Dies hält der Nachprüfung im Berufungsverfahren stand.
  194. 19
  195. 1.
  196. Im Ergebnis zu Recht weist das Patentgericht dem Streitpatent
  197. den Zeitrang seiner Anmeldung vom 9. April 1992 zu. Das Streitpatent kann die
  198. Priorität der deutschen Voranmeldung (NK4) vom 18. April 1991 nicht in Anspruch nehmen.
  199. 20
  200. a)
  201. Gemäß Art. 87 Abs. 1 EPÜ kann die Priorität einer früheren An-
  202. meldung nur dann in Anspruch genommen werden, wenn diese dieselbe Erfindung betrifft. Dies setzt voraus, dass die mit der späteren Anmeldung beanspruchte Merkmalskombination dem Fachmann in der früheren Anmeldung in
  203. ihrer Gesamtheit als zu der angemeldeten Erfindung gehörend offenbart ist
  204. (BGH, Urteil vom 11. September 2001 - X ZR 168/98, BGHZ 148, 383, 391
  205. - Luftverteiler). Für die Beurteilung der identischen Offenbarung gelten die Prinzipien der Neuheitsprüfung (BGH, Urteil vom 14. Oktober 2003 - X ZR 4/00,
  206. GRUR 2004, 133, 135 - Elektronische Funktionseinheit; Urteil vom 14. August
  207. 2012 - X ZR 3/10, GRUR 2012, 1133 Rn. 30 - UV-unempfindliche Druckplatte).
  208. 21
  209. b)
  210. Jedenfalls Merkmal 5.2 ist in dem Prioritätsdokument NK4 nicht
  211. unmittelbar und eindeutig offenbart.
  212. 22
  213. Die Übertragung einer Signalart-Zusatzinformation für das Senden von
  214. Letterbox-Signalen ohne (Video-)Zusatzinformationen in den Zeilen der
  215. "schwarzen Balken" wird in der NK4 nicht ausdrücklich erwähnt. Der Fach-
  216. - 10 -
  217. mann, den das Patentgericht zutreffend als einen Diplomingenieur der Nachrichtentechnik mit Hochschulausbildung sowie besonderen Erfahrungen und
  218. Kenntnissen in der Fernsehübertragungstechnik einschließlich der dabei zu berücksichtigenden Standardisierungsvorschriften definiert hat, vermag dieses
  219. Merkmal auch nicht der Gesamtheit der in der NK4 offenbarten Informationen
  220. und Hinweise zu entnehmen.
  221. 23
  222. Soweit die NK4 zum Stand der Technik ausführt, zumindest in einer
  223. Übergangszeit würden auf einem vorhandenen Fernsehkanal sowohl herkömmliche als auch "Letterbox"-Signale übertragen, weshalb jeder Signaltyp durch
  224. eine geeignete Kennung identifizierbar sein müsse (Sp. 1 Z. 16 bis 20), entnimmt der Fachmann daraus die Anregung, solche Kennungen zu generieren.
  225. Im Sinne einer eindeutigen und unmittelbaren Offenbarung liest der Fachmann
  226. dabei jedoch nur Kennungen für Bildformate und Übertragungsmodi mit, deren
  227. Übertragung damals bereits als Standard etabliert oder formuliert war. Das Generieren von noch nicht als Standard etablierten Kennungen für andere Übertragungsformen bedarf nicht zuletzt hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit einer weiteren Überlegung des Fachmanns. Da das Senden einer Kennung für die Übertragung von 16:9-Bildformaten ohne Videozusatzinformationen in den Zeilen
  228. der schwarzen Balken zum Zeitpunkt der Anmeldung der NK4 weder zum PALStandard noch zum PALplus-Standard gehörte, zählt diese Kennung nicht zu
  229. denjenigen, die von der NK4 offenbart werden.
  230. 24
  231. Patentanspruch 1 geht in der von der Beklagten im Berufungsverfahren
  232. verteidigten Fassung somit über den Offenbarungsgehalt der NK4 hinaus und
  233. kann die Priorität nicht in Anspruch nehmen. Inwieweit auch die weiteren vom
  234. Patentgericht angeführten Gründe einer Inanspruchnahme der Priorität entgegenstehen, kann offen bleiben.
  235. - 11 -
  236. 25
  237. 2.
  238. Zu Recht hat das Patentgericht angenommen, dass der Gegen-
  239. stand von Patentanspruch 1 in der im Berufungsverfahren verteidigten Fassung
  240. nicht neu ist. Die NK18 offenbart diesen Gegenstand mit einem früheren Zeitrang.
  241. 26
  242. a)
  243. Der NK18 kommt gemäß Art. 89 EPÜ der von ihr in Anspruch ge-
  244. nommene Zeitrang der NK19 zu.
  245. 27
  246. aa)
  247. Beide Druckschriften stimmen weitestgehend überein. Insbeson-
  248. dere was die vom Patentgericht herangezogenen Beschreibungen anbelangt,
  249. aus denen das Patentgericht die Übereinstimmung mit dem Gegenstand des
  250. Streitpatents abgeleitet hat, sind der Wortlaut der NK18 und der Wortlaut der
  251. NK19 praktisch identisch. In beiden Druckschriften wird, wie auch die Beklagte
  252. zuletzt nicht mehr in Abrede gestellt hat, dieselbe Erfindung offenbart.
  253. 28
  254. bb)
  255. Der Inanspruchnahme der Priorität steht nicht entgegen, dass Tei-
  256. le des Offenbarungsgehalts der NK18 nicht in den in der NK19 formulierten Ansprüchen enthalten sind. Für die Priorität reicht es gemäß Art. 88 Abs. 4 EPÜ
  257. aus, dass entsprechende Ausführungen in der Beschreibung der NK19 enthalten sind, denn maßgeblich ist der gesamte Inhalt der Voranmeldung.
  258. 29
  259. cc)
  260. Die ältere Anmeldung ist zu einem Zeitpunkt veröffentlicht worden,
  261. zu dem sie noch anhängig war. Damit ist sie für die Neuheitsprüfung gemäß
  262. Art. 54 Abs. 3 EPÜ zu berücksichtigen, auch wenn die Anmeldung seit 1996
  263. wegen Nichtzahlung einer Jahresgebühr als zurückgenommen gilt. Eine ältere
  264. Anmeldung ist wegen ihrer Rücknahme, Zurückweisung oder Erledigung durch
  265. Nichtzahlung der Jahresgebühr nur dann nicht mit ihrem Prioritätstag zu berücksichtigen, wenn sie infolgedessen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht
  266. mehr anhängig war (vgl. Benkard/Mellulis, EPÜ, 2. Aufl., Art. 54 Rn. 201a; Benkard/Mellulis, PatG, 10. Aufl., § 3 Rn. 74c; Busse/Keukenschrijver, PatG,
  267. - 12 -
  268. 7. Aufl., § 3 Rn. 147; Schulte/Moufang, PatG, 9. Aufl., § 3 PatG/Art. 54 EPÜ
  269. Rn. 78; Singer/Stauder/Heusler, EPÜ, Art. 54 Rn. 114; BPatGE 33, 171, 173 f.;
  270. siehe auch EPA-JBK vom 9. Dezember 1981 - J 05/81, ABl. 1982, 155, 157).
  271. Wird die Anmeldung nach ihrer Veröffentlichung zurückgenommen, fällt damit
  272. zwar auch die Möglichkeit einer Doppelpatentierung weg. Dies rechtfertigt aber
  273. kein einschränkendes Verständnis des Art. 54 Abs. 3 EPÜ, der kein Doppelpatentierungsverbot formuliert, sondern zum Stand der Technik den - gesamten Inhalt einer älteren nachveröffentlichten europäischen Patentanmeldung in der
  274. ursprünglich eingereichten Fassung zählt. Schon die Entscheidung des Europäischen Patentübereinkommens für die Berücksichtigung des gesamten Inhalts
  275. der Anmeldung ("whole content approach") und gegen die vom Straßburger
  276. Übereinkommen in Art. 4 Abs. 3 und Art. 6 eröffnete Möglichkeit, auf die Ansprüche der früheren Anmeldung abzustellen ("prior claim approach"), macht
  277. deutlich, dass die (umfassende) Berücksichtigung älterer Anmeldungen bei dem
  278. für die Neuheitsprüfung maßgeblichen Stand der Technik nicht nur dazu bestimmt ist, einer Doppelpatentierung vorzubeugen. Sie soll auch den Erstanmelder vor einer Einschränkung seiner wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit
  279. durch die Erteilung eines Patents auf die von ihm offenbarte Erfindung aufgrund
  280. einer späteren Anmeldung eines Dritten schützen (vgl. zu § 3 Abs. 2 PatG: BTDrucks. 7/3712 S. 29 li. Sp.). Dieser Schutzzweck verliert nicht an Bedeutung,
  281. wenn der ältere Anmelder sich nach der Veröffentlichung seiner Anmeldung
  282. entscheidet, die Anmeldung zurückzunehmen und damit die Erfindung für die
  283. Allgemeinheit freizugeben, deren technisches Wissen durch die erneute Offenbarung einer ihr bereits zur Verfügung stehenden technischen Lehre nicht bereichert wird.
  284. 30
  285. b)
  286. Die NK18 betrifft ein erweitertes Fernsehsignal mit Steuerdaten
  287. zum Steuern eines erweiterten Fernsehdecoders.
  288. - 13 -
  289. 31
  290. aa)
  291. Wie das Patentgericht zutreffend ausgeführt hat, offenbart die
  292. NK18 die Merkmale 1 bis 5.1 (ohne das alternative Merkmal 3b). Dies wird von
  293. der Berufung auch nicht in Frage gestellt.
  294. 32
  295. bb) Für das verbleibende Merkmal 5.2 gilt nichts anderes.
  296. 33
  297. Die Beschreibung der NK18 offenbart weiterhin:
  298. "In the PALplus system, some control bits have to be transferred
  299. from the transmitter to the receiver, which indicate important system parameters such as, for example the aspect ratio (4:3 or
  300. 16:9), … , whether the video signal is a PALplus signal or a
  301. standard PAL signal, whether the "black bars", which result when
  302. a 16:9 aspect ratio picture is transmitted within a 4:3 aspect ratio
  303. picture, contain video information to increase the vertical resolution …" (Sp. 3 Z. 21 - 33).
  304. 34
  305. Dem ist unmittelbar und eindeutig zu entnehmen, dass in dem offenbarten Übertragungssystem Steuerbits vorgesehen sein können, die nicht nur unterscheiden, ob es sich bei dem übertragenen Signal um ein PALplus-Signal
  306. oder ein Standard-PAL-Signal handelt. Für Letzteres bedürfte es - wie dem
  307. Fachmann offensichtlich ist - nur einer der drei genannten, in den Steuerbits
  308. codierten Informationen.
  309. 35
  310. Eine offenbarte Lehre ist aus fachmännischer Sicht grundsätzlich als ein
  311. sinnvolles Ganzes zu verstehen; ihre Aussagen sollen weder zu einem widersprüchlichen noch zu einem sinnlosen Bedeutungsgehalt führen (vgl. BGH Urteil vom 12. Mai 2015 - X ZR 43/13, GRUR 2015, 875 Rn. 16 - Rotorelemente).
  312. Die beiden anderen mit Steuerbits codierten Informationen zum Bildseitenverhältnis und zu den Videozusatzinformation in den Zeilen der schwarzen Balken
  313. ergeben nur einen Sinn, wenn hiermit auch Modi ermöglicht werden, die weder
  314. vollständig dem Standard-PAL-Signal mit einem Bild im Bildverhältnis 4:3 noch
  315. vollständig dem PALplus-Signal mit einem Bild im Bildverhältnis 16:9 und
  316. - 14 -
  317. Videozusatzinformationen in den Zeilen der schwarzen Balken entsprechen.
  318. Daraus ergibt sich für die dritte in den Steuerbits codierte Information, dass mit
  319. den beiden möglichen Werten "0" und "1", die ein Steuerbit annehmen kann,
  320. angezeigt wird, ob bei einem 16:9-Bild in einer 4:3-Bildübertragung die Zeilen in
  321. den schwarzen Balken Videozusatzinformationen enthalten oder nicht.
  322. 36
  323. Soweit die Beklagte meint, die Lehre der NK18 bleibe an der erörterten
  324. Stelle entsprechend den zitierten einleitenden Worten "In the PALplus system"
  325. diesem System verhaftet und stehe einem Verständnis entgegen, das aus diesem System herausführe, entspricht dies nicht dem Bedeutungsgehalt der Offenbarung. Die dritte Information bezieht sich ausdrücklich auf den Fall, dass
  326. ein 16:9-Bild mit schwarzen Balken in einem 4:3-Bildformat übertragen wird. Für
  327. diesen Fall soll die Information gegeben werden, ob in den Zeilen der schwarzen Balken Videozusatzinformationen enthalten sind. Die Information wäre für
  328. diesen Fall bedeutungs- und sinnlos, wenn damit nicht auch das Gegenteil angezeigt werden können soll, also ein 16:9-Bild mit schwarzen Balken in einem
  329. 4:3-Bildformat ohne Videozusatzinformationen. Denn sonst wäre das Steuerbit
  330. für diese Information bei einer PALplus-Übertragung immer auf "1" für "ja" zu
  331. setzen, während bei einer Standard-PAL-Übertragung das Steuerbit auf "0" zu
  332. setzen und dieser letztere Fall im Übrigen vom Empfänger nicht auszuwerten
  333. wäre. Das Steuerbit wäre damit synchron zum Steuerbit der zweiten Information
  334. (PALplus oder Standard-PAL) und redundant. Ebenso wäre auch die erste in
  335. den Steuerbits codierte Information (4:3- oder 16:9-Format) synchron und redundant zur zweiten Information, wenn ein 16:9-Bild immer nur im PALplusFormat übertragen würde. Da für eine solche Redundanz kein Sinn ersichtlich
  336. ist, zeigt die Aufzählung der drei oben dargestellten, in Steuerbits codierten Informationen dem Fachmann, dass mit diesen Informationen Fernsehbildübertragungsmodi gekennzeichnet werden können, die weder einem 4:3-StandardPAL-Bild noch einem 16:9-PALplus-Bild vollständig entsprechen. Dazu gehört,
  337. - 15 -
  338. dass mit den Steuerbits auch die Verneinung der dritten Information signalisiert
  339. werden soll, mithin der Umstand, dass die schwarzen Balken bei einem 16:9Bild in einem 4:3-Übertragungsformat keine Videozusatzinformationen enthalten (Merkmal 5.2).
  340. 37
  341. IV.
  342. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG, § 92
  343. Abs. 1, § 97 Abs. 1, § 516 Abs. 3 ZPO.
  344. Meier-Beck
  345. Gröning
  346. Hoffmann
  347. Grabinski
  348. Kober-Dehm
  349. Vorinstanz:
  350. Bundespatentgericht, Entscheidung vom 03.07.2013 - 5 Ni 19/12 (EP) -