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13 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. VII ZB 40/17
  4. vom
  5. 5. Juli 2018
  6. in dem Zwangsvollstreckungsverfahren
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. ZPO § 850d Abs. 1 Satz 2
  14. a) Der unpfändbare notwendige Unterhalt des Schuldners im Sinne des § 850d
  15. Abs. 1 Satz 2 ZPO entspricht grundsätzlich dem notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des 3. und 11. Kapitels des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
  16. (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 25. November 2010 - VII ZB 111/09,
  17. NJW-RR 2011, 706).
  18. b) Die Angemessenheit der Aufwendungen für die Unterkunft ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten konkret zu ermitteln. Dabei ist vorrangig das ortsübliche Mietpreisniveau, wie es sich aus einem qualifizierten Mietspiegel (§ 558d BGB),
  19. einem Mietspiegel (§ 558c BGB) oder unmittelbar aus einer Mietdatenbank
  20. (§ 558e BGB) ableiten lässt, heranzuziehen (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 23. Juli 2009 - VII ZB 105/08, FamRZ 2009, 1747).
  21. In Fällen, in denen der Schuldner mit anderen Personen in einer Wohnung
  22. zusammenlebt und die von ihm aufgewendeten Kosten für Unterkunft und
  23. Heizung nicht nur seinen eigenen Wohnbedarf, sondern zugleich den Wohnbedarf dieser Personen decken, ist die Höhe des angemessenen Bedarfs
  24. des Schuldners für Unterkunft und Heizung fiktiv nach den Kosten zu ermitteln, die der Schuldner nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zur
  25. Deckung seines eigenen Wohnbedarfs aufwenden müsste.
  26. c) Das sozialrechtliche Kopfteilprinzip (BSG, NZM 2014, 681) ist im formalisierten Zwangsvollstreckungsverfahren im Rahmen des § 850d Abs. 1 Satz 2
  27. ZPO nicht anzuwenden.
  28. BGH, Beschluss vom 5. Juli 2018 - VII ZB 40/17 - LG Kiel
  29. AG Eckernförde
  30. ECLI:DE:BGH:2018:050718BVIIZB40.17.0
  31. -2-
  32. Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. Juli 2018 durch die Richter
  33. Dr. Kartzke, Halfmeier und Prof. Dr. Jurgeleit und die Richterinnen Graßnack
  34. und Dr. Brenneisen
  35. beschlossen:
  36. Die Rechtsbeschwerde des Gläubigers gegen den Beschluss der
  37. 13. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 28. April 2017 wird auf
  38. seine Kosten zurückgewiesen.
  39. Gründe:
  40. I.
  41. 1
  42. Der Gläubiger betreibt gegen den Schuldner die Zwangsvollstreckung
  43. wegen Unterhaltsansprüchen eines nichtehelichen minderjährigen Kindes des
  44. Schuldners, die gemäß § 7 Abs. 1 UVG auf ihn übergegangen sind. Durch Beschluss des Amtsgerichts - Vollstreckungsgericht - vom 21. September 2016
  45. wurden Lohnzahlungsansprüche des Schuldners gegen den Drittschuldner gepfändet und dem Gläubiger zur Einziehung überwiesen.
  46. 2
  47. Der Schuldner bewohnt mit seiner Ehefrau und einer gemeinsamen minderjährigen Tochter eine Mietwohnung, deren Warmmiete monatlich 725,32 €
  48. beträgt. Gemäß § 850d ZPO wurde zugunsten des Schuldners ein Pfändungsfreibetrag vom Nettoeinkommen in Höhe von monatlich 870 € sowie zur gleichmäßigen Befriedigung der Unterhaltsansprüche der Personen, die dem unterhaltsberechtigten nichtehelichen Kind gleichstehen, der hälftige Anteil des Nettoeinkommens festgesetzt, das nach Abzug des notwendigen Unterhalts des
  49. -3-
  50. Schuldners verbleibt. Auf Antrag des Schuldners hat das Amtsgericht
  51. - Vollstreckungsgericht - den dem Schuldner verbleibenden Pfändungsfreibetrag vom Nettoeinkommen von 870 € auf monatlich 944,66 € heraufgesetzt.
  52. Hierbei hat es den Mietanteil des Schuldners in Höhe von 471,46 €, dies sind
  53. ca. 65 % der Mietkosten, in Ansatz gebracht, der der Höhe nach dem Anteil des
  54. Einkommens des Schuldners am Familieneinkommen entspricht (1.549,60 €
  55. Lohn von insgesamt 2.400,21 € Familieneinkommen). Die vom Gläubiger hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde, mit der er geltend gemacht hat, zugunsten des Schuldners sei ein nach Kopfteilen zu bemessender Mietanteil in
  56. Höhe von 241,77 € zu berücksichtigen, wonach sich ein Sockelbetrag für den
  57. Schuldner in Höhe von lediglich 714,97 € ergebe, ist erfolglos geblieben.
  58. 3
  59. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde möchte der Gläubiger weiterhin die Zurückweisung des vom Schuldner gestellten
  60. Erhöhungsantrags erreichen.
  61. II.
  62. 4
  63. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2, § 575 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen
  64. Erfolg.
  65. 5
  66. 1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung
  67. ausgeführt, die Kosten für Unterkunft und Heizung als Teil des notwendigen
  68. Unterhalts, der dem Schuldner gemäß § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO zu belassen
  69. sei, seien nicht nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung entsprechend dem
  70. "Kopfteilprinzip" auf die im Haushalt lebenden Personen zu verteilen. Vielmehr
  71. seien bei der Berechnung des fiktiven Sozialhilfebedarfs des jeweiligen Schuldners grundsätzlich dessen tatsächliche Aufwendungen für Unterkunft und Hei-
  72. -4-
  73. zung zu berücksichtigen, soweit sie angemessen seien. Da in Fällen, in denen
  74. der Schuldner mit anderen Personen in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenwohne und nur der Schuldner die Wohnkosten für die gesamte Bedarfsgemeinschaft trage, die tatsächlichen Aufwendungen für eine einzelne Person
  75. nicht angemessen sein dürften, seien bei der Berechnung des fiktiven Sozialhilfebedarfs des Schuldners die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung zu berücksichtigen, die anzusetzen wären, lebte er tatsächlich allein in
  76. einem Haushalt.
  77. 6
  78. Bei dieser fiktiven Berechnung sei davon auszugehen, dass der allein
  79. wohnende Schuldner über eine etwa 40-50 m² große Wohnung verfüge und
  80. entsprechende Heizkosten anfielen, welche mit einem Pauschalbetrag anzusetzen seien. Unter Berücksichtigung der Mietspiegel der letzten Jahre für E. sei
  81. das Ansetzen eines Betrags nicht unter 471,46 € für Wohn- und Heizkosten
  82. einer Person noch als angemessen anzusehen, so dass - im Ergebnis - der
  83. vom Amtsgericht angesetzte Betrag nicht zu beanstanden sei.
  84. 7
  85. 2. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung stand.
  86. 8
  87. Das Beschwerdegericht hat dem Antrag des Schuldners, den ihm aufgrund des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses des Amtsgerichts
  88. - Vollstreckungsgericht - vom 21. September 2016 gemäß § 850d Abs. 1
  89. Satz 2 ZPO monatlich pfandfrei zu belassenden Betrag auf 944,66 € zu erhöhen, zu Recht stattgegeben.
  90. 9
  91. a) Der unpfändbare notwendige Unterhalt des Schuldners im Sinne des
  92. § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO entspricht grundsätzlich dem notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des 3. und 11. Kapitels des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (BGH, Beschluss vom 25. November 2010 - VII ZB 111/09 Rn. 9,
  93. NJW-RR 2011, 706; Beschluss vom 5. August 2010 - VII ZB 17/09 Rn. 3,
  94. FamRZ 2010, 1798; Beschluss vom 12. Dezember 2007 - VII ZB 38/07 Rn. 13,
  95. -5-
  96. NJW-RR 2008, 733 m.w.N.). Bestandteil des notwendigen Unterhalts im Sinne
  97. des § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO ist ein Betrag in Höhe des Regelsatzes nach
  98. dem
  99. Zwölften
  100. Buch
  101. Sozialgesetzbuch
  102. (BGH,
  103. Beschluss
  104. vom
  105. 25. November 2010 - VII ZB 111/09 Rn. 13 m.w.N., NJW-RR 2011, 706). § 35
  106. Abs. 1 Satz 1 SGB XII bestimmt weiter, dass der Leistungsbedarf für die Unterkunft in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt wird.
  107. 10
  108. Die Kosten für Unterkunft und Heizung werden nach konkretem Bedarf
  109. ersetzt, soweit sie nicht den angemessenen Umfang übersteigen. Die Angemessenheit der Aufwendungen ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten konkret zu ermitteln.
  110. Dabei ist vorrangig das ortsübliche Mietpreisniveau, wie es sich aus einem qualifizierten Mietspiegel (§ 558d BGB), einem Mietspiegel (§ 558c BGB) oder unmittelbar aus einer Mietdatenbank (§ 558e BGB) ableiten lässt, heranzuziehen
  111. (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juli 2009 - VII ZB 105/08 Rn. 23, FamRZ 2009,
  112. 1747; Beschluss vom 18. Juli 2003 - IXa ZB 151/03, juris Rn. 16, BGHZ 156,
  113. 30; BSG, FEVS 60, 145, juris Rn. 13 ff.). In Fällen, in denen der Schuldner mit
  114. anderen Personen in einer Wohnung zusammenlebt und die von ihm aufgewendeten Kosten für Unterkunft und Heizung nicht nur seinen eigenen Wohnbedarf, sondern zugleich den Wohnbedarf dieser Personen decken, ist die Höhe des angemessenen Bedarfs des Schuldners für Unterkunft und Heizung fiktiv nach den Kosten zu ermitteln, die der Schuldner nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zur Deckung seines eigenen Wohnbedarfs aufwenden
  115. müsste. Zutreffend stellt das Beschwerdegericht darauf ab, dass hierzu die fiktiv
  116. anfallenden Wohn- und Heizkosten für eine alleinstehende Person anzusetzen
  117. sind.
  118. 11
  119. b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde sind die Aufwendungen des Schuldners für Unterkunft und Heizung in diesem Fall nicht nach
  120. dem sozialrechtlichen Kopfteilprinzip zu verteilen. Im formalisierten Zwangsvoll-
  121. -6-
  122. streckungsverfahren (vgl. hierzu allg.: BGH, Beschluss vom 2. Dezember 2015
  123. - VII ZB 42/14 Rn. 7, NJW-RR 2016, 319; Beschluss vom 29. März 2012
  124. - V ZB 103/11
  125. Rn. 9,
  126. ZWE 2012,
  127. 270;
  128. Beschluss
  129. vom
  130. 29. Mai 2008
  131. - IX ZB 102/07 Rn. 18, BGHZ 177, 12; Beschluss vom 30. Januar 2004
  132. - IXa ZB 233/03, juris Rn. 8, WM 2004, 646) findet das Kopfteilprinzip einschließlich der hiervon bestehenden Ausnahmen keine Anwendung. Es ist nicht
  133. Aufgabe des Vollstreckungsgerichts, Feststellungen dazu zu treffen, ob der
  134. Schuldner in einer Bedarfsgemeinschaft lebt und ob der Gesamtbedarf dieser
  135. Bedarfsgemeinschaft auch unter Berücksichtigung des Einkommens der mit
  136. dem Schuldner in dieser Gemeinschaft lebenden Personen nicht durch eigene
  137. Kräfte und Mittel gedeckt ist und ob Umstände vorliegen, die im Einzelfall eine
  138. Ausnahme vom Kopfteilprinzip rechtfertigen.
  139. 12
  140. aa) Nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung sind Aufwendungen für
  141. Unterkunft und Heizung im Regelfall unabhängig von Alter und Nutzungsintensität anteilig pro Kopf aufzuteilen, wenn Hilfebedürftige eine Unterkunft gemeinsam mit anderen Personen nutzen. Dies bedeutet, dass innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft die Aufteilung der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung
  142. der Hilfebedürftigen grundsätzlich nach Kopfteilen zu erfolgen hat und es ohne
  143. Belang ist, wer den Mietzins schuldet und wer welchen Teil der Wohnung tatsächlich nutzt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, NZM 2014, 681 Rn. 20 ff. m.w.N.; BSGE
  144. 97, 265). Die Anwendung des Kopfteilprinzips setzt voraus, dass eine Bedarfsgemeinschaft besteht und der Gesamtbedarf dieser Gemeinschaft nicht aus
  145. eigenen Kräften und Mitteln gedeckt ist. Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ist dabei unter anderem auch das Einkommen des Partners
  146. zu berücksichtigen (vgl. BSG, NZM 2014, 681 Rn. 11). Dabei sind Ausnahmen
  147. vom Kopfteilprinzip beispielsweise bei einem über das normale Maß hinausgehenden Bedarf einer der in der Wohnung lebenden Person wegen Behinderung
  148. oder Pflegebedürftigkeit denkbar oder wenn der Unterkunftskostenanteil eines
  149. -7-
  150. Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft wegen einer bestandskräftigen Sanktion
  151. weggefallen ist und die Anwendung des Kopfteilprinzips zu Mietschulden für die
  152. anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft führen würde (vgl. BSG, NZM
  153. 2014, 681 Rn. 23 m.w.N. zur Rspr.).
  154. 13
  155. bb) Zur Feststellung dieser für die Anwendung des Kopfteilprinzips erforderlichen Voraussetzungen und etwaiger zu berücksichtigender Ausnahmen ist
  156. das formalisierte Zwangsvollstreckungsverfahren nicht geeignet. In diesem Verfahren wird dem Vollstreckungsgericht die für die Anwendung des Kopfteilprinzips erforderliche Prüfung nicht abverlangt. Das Vollstreckungsgericht hat deshalb nicht zu prüfen, ob nach sozialrechtlichen Kriterien eine Bedarfsgemeinschaft vorliegt und der Gesamtbedarf dieser Gemeinschaft aus eigenen Kräften
  157. und Mitteln nicht vollständig gedeckt ist und ob nach den Umständen des Einzelfalls eine Ausnahme vom Kopfteilprinzip eingreift.
  158. 14
  159. cc) Der Schuldner wird durch die Unanwendbarkeit des sozialrechtlichen
  160. Kopfteilprinzips zur Bestimmung des ihm für seinen notwendigen Unterhalt und
  161. zur Erfüllung seiner laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten zu belassenden
  162. Betrags im Sinne des § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO nicht in unzulässiger Weise
  163. begünstigt. Denn es steht grundsätzlich zur freien Disposition des Unterhaltspflichtigen, wie er die ihm zu belassenden, ohnehin knappen Mittel einsetzt.
  164. Diese Lebensgestaltungsautonomie kann dem Unterhaltsschuldner auch gegenüber von Unterhaltsansprüchen für ein minderjähriges Kind nicht verwehrt
  165. werden (vgl. BGH, Urteil vom 23. August 2006 - XII ZR 26/04 Rn. 22 m.w.N.,
  166. NJW 2006, 3561).
  167. 15
  168. c) Das Beschwerdegericht hat - von der Rechtsbeschwerde unbeanstandet - die nach den konkreten Umständen vom Schuldner als Einzelperson
  169. fiktiv aufzuwendenden Kosten der Unterkunft unter Berücksichtigung der orts-
  170. -8-
  171. üblichen Vergleichsmiete in Höhe von 471,46 € ermittelt. Dies lässt Rechtsfehler nicht erkennen.
  172. III.
  173. 16
  174. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
  175. Kartzke
  176. Halfmeier
  177. Graßnack
  178. Jurgeleit
  179. Brenneisen
  180. Vorinstanzen:
  181. AG Eckernförde, Entscheidung vom 24.01.2017 - 10 M 1255/16 LG Kiel, Entscheidung vom 28.04.2017 - 13 T 13/17 -