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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. VI ZR 173/06
  5. Verkündet am:
  6. 16. Oktober 2007
  7. Holmes,
  8. Justizangestellte
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk:
  13. ja
  14. BGHZ:
  15. nein
  16. BGHR:
  17. ja
  18. HPflG § 1 Abs. 1 und 2, § 13
  19. Im Verhältnis der Eisenbahnbetriebsunternehmer zueinander ist die Versperrung des Fahrwegs allein dem Risikobereich des Eisenbahninfrastrukturunternehmens zuzurechnen.
  20. BGH, Urteil vom 16. Oktober 2007 - VI ZR 173/06 - LG Bautzen
  21. AG Bautzen
  22. - 2 -
  23. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  24. vom 16. Oktober 2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter
  25. Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr
  26. für Recht erkannt:
  27. Auf die Revision der Beklagten und die Anschlussrevision der Klägerin wird das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Bautzen
  28. vom 21. Juli 2006 aufgehoben.
  29. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
  30. über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  31. Von Rechts wegen
  32. Tatbestand:
  33. 1
  34. Die Klägerin, ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, begehrt von der Beklagten, die als Eisenbahninfrastrukturunternehmen den Gleisbetrieb unterhält,
  35. Schadensersatz wegen eines Bahnunfalls.
  36. 2
  37. Am 8. Mai 2003 befuhr ein Triebwagen der Klägerin den von der Beklagten betriebenen Streckenabschnitt Görlitz-Bautzen. Nach Durchfahren einer
  38. - 3 -
  39. Kurve kollidierte er mit einer von mehreren auf dem Gleis stehenden Kühen, die
  40. zuvor von einer Weide auf das Bahngleis gelaufen waren.
  41. Die Klägerin beziffert ihren Schaden an dem Triebwagen auf insgesamt
  42. 3
  43. 3.691,50 € und verlangt davon nach Anrechnung ihrer eigenen Betriebsgefahr
  44. zwei Drittel, also 2.461 €, von der Beklagten ersetzt. Das Amtsgericht hat der
  45. Klägerin Schadensersatz in Höhe von 1.218,26 € zuerkannt. Auf die Berufung
  46. der Klägerin hat das Landgericht das Urteil des Amtsgerichts abgeändert und
  47. der Klägerin hälftigen Schadensersatz, also 1.845,75 € zuerkannt; die Anschlussberufung der Beklagten blieb ohne Erfolg.
  48. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklag-
  49. 4
  50. te ihren Klageabweisungsantrag weiter. Die Klägerin verfolgt mit der Anschlussrevision ihre Klage weiter, soweit das Berufungsgericht zu ihrem Nachteil erkannt hat.
  51. Entscheidungsgründe:
  52. I.
  53. Nach Auffassung des Berufungsgerichts haftet die Beklagte als Eisen-
  54. 5
  55. bahninfrastrukturunternehmerin der Klägerin aus § 1 Abs. 1 HaftpflG. Ein Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt nach § 1 Abs. 2 HaftpflG greife nicht
  56. ein.
  57. 6
  58. Nach § 13 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 HaftpflG sei eine hälftige Aufteilung der
  59. Haftungsverantwortung zwischen den Parteien gerechtfertigt. Eine Kuh auf den
  60. Gleisen sei zwar ein die Betriebsgefahr erhöhender Umstand zu Lasten der Beklagten. Zu Lasten der Klägerin sei aber gefahrerhöhend zu berücksichtigen,
  61. - 4 -
  62. dass sich ihr Zug in Reisegeschwindigkeit bewegt und dies ein rechtzeitiges
  63. Abbremsen unmöglich gemacht habe. Außerdem sei in Rechnung zu stellen,
  64. dass die Beklagte für Risiko erhöhende Umstände einstehen müsse, die sie
  65. auch bei Anwendung jeder praktisch möglichen Sorgfalt nicht habe vermeiden
  66. können. Anders als bei in die Fahrtrasse hineinreichenden Steinen oder Bäumen habe es der Eisenbahninfrastrukturunternehmer bei Tierunfällen praktisch
  67. nicht in der Hand, die Fahrbahn wirksam gegen Hindernisse abzusichern. Hier
  68. sei die Fahrtrasse aus Sicht des Unternehmers vielmehr technisch in Ordnung
  69. und "eigentlich Hindernis frei". Ein praktisches Bedürfnis, Maßnahmen zur Beseitigung des Hindernisses zu ergreifen, entstehe in aller Regel nicht, weil sich
  70. die Tiere wieder entfernten, bevor ein Eingreifen möglich sei.
  71. 7
  72. Das Berufungsgericht erkennt der Klägerin demgemäß hälftigen Ersatz
  73. des von ihr geltend gemachten Schadens zu. Den Vortrag, mit dem die Beklagte den von der Klägerin nach Ansicht des Berufungsgerichts in erster Instanz
  74. schlüssig vorgetragenen Schaden mit Nichtwissen bestritten hat, hat es nach
  75. § 531 Abs. 2 ZPO nicht zugelassen, weil das Bestreiten durch die Beklagte erst
  76. nach Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz am 5. Juli 2005
  77. erfolgt und deswegen nach § 296a ZPO ausgeschlossen gewesen sei. Das der
  78. Beklagten gewährte Schriftsatzrecht habe nicht zum Einreichen neuen Vortrags
  79. oder erstmaligen Bestreiten früheren Vortrags der Klägerin gedient.
  80. II.
  81. 8
  82. Das Berufungsurteil hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die
  83. Anschlussrevision rügt mit Recht die Ausführungen des Berufungsgerichts zur
  84. Bildung der Haftungsquote als rechtsfehlerhaft. Die von der Revision erhobene
  85. Verfahrensrüge greift ebenfalls durch.
  86. - 5 -
  87. 9
  88. 1. Zutreffend ist die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Beklagte der Klägerin gemäß § 1 Abs. 1 HaftpflG dem Grunde nach hafte.
  89. 10
  90. a) Dieser von der Revision nicht angegriffene Ausgangspunkt entspricht
  91. der Rechtsprechung des Senats, nach der das den Gleisbetrieb unterhaltende
  92. Eisenbahninfrastrukturunternehmen als Betriebsunternehmer im Sinne von § 1
  93. Abs. 1 HaftpflG anzusehen ist (Senat BGHZ 158, 130, 133 ff. sowie Urteil vom
  94. 22. Juni 2004 - VI ZR 8/04 - juris Rn. 4; ebenso Filthaut, Haftpflichtgesetz,
  95. 7. Aufl., § 1 Rn. 55 m.w.N.). Auch ein Eisenbahnverkehrsunternehmen kann im
  96. Verhältnis zu dem den benutzten Gleisbetrieb unterhaltenden Eisenbahninfrastrukturunternehmen jedenfalls dann Geschädigter im Sinne von § 1 Abs. 1
  97. HaftpflG sein, wenn die den Unfall auslösenden Ursachen im Bahnbetrieb liegen und dem Risikobereich des Infrastrukturunternehmens zuzuordnen sind
  98. (Senat BGHZ 158, 130, 137 ff. m.w.N.; ebenso OLG Stuttgart, Urteil vom
  99. 12. Februar 2003 - 4 U 180/02 - VersR 2003, 648, 649).
  100. 11
  101. b) Nicht gefolgt werden kann der Revision, soweit sie in Zweifel zieht, ob
  102. sich der Bahnunfall "bei dem Betrieb" der Eisenbahninfrastruktur im Sinne von
  103. § 1 Abs. 1 HaftpflG ereignet hat.
  104. 12
  105. aa) Ein Betriebsunfall im Sinne des § 1 Abs. 1 HaftpflG liegt vor, wenn
  106. ein unmittelbarer äußerer örtlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen dem
  107. Unfall und einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung der Bahn besteht oder wenn der Unfall durch eine dem Bahnbetrieb eigentümliche Gefahr verursacht worden ist (Senat BGHZ 158, 130, 132
  108. m.w.N.). Ein unmittelbarer äußerer örtlicher und zeitlicher Zusammenhang ist
  109. anzunehmen, wenn sich der Unfall, wie im Streitfall, bei der eigentlichen Beförderungstätigkeit ereignet hat (Filthaut, aaO, § 1 Rn. 68). Darüber hinaus steht
  110. der Unfall auch in innerem Zusammenhang mit einer der von der Beklagten be-
  111. - 6 -
  112. triebenen Infrastruktur eigentümlichen Gefahr, weil sich in dem Unfall das Risiko einer Versperrung des Fahrwegs in Zusammenhang mit einem Beförderungsvorgang verwirklichte (vgl. Senat BGHZ 158, 130, 138 f.; Filthaut, aaO,
  113. Rn. 76 ff.).
  114. 13
  115. bb) Im Verhältnis der Betriebsunternehmer zueinander ist die Versperrung des Fahrwegs allein dem Risikobereich des Eisenbahninfrastrukturunternehmens zuzurechnen (Senat BGHZ 158, 130, 142). Das gilt entgegen der Auffassung der Revision gleichermaßen für einen den Fahrweg versperrenden
  116. Stein oder Baum wie auch im Streitfall, in dem Weidevieh die Trasse versperrte
  117. (ebenso OLG Jena, Urteil vom 23. März 2006 - 1 U 1049/05 -; OLG Dresden,
  118. Urteil vom 31. Mai 2006 - 12 U 2215/05). In allen diesen Fällen ist die jederzeitige uneingeschränkte Nutzbarkeit der Trasse für den Schienenverkehr nicht
  119. gewährleistet. Auch in der Versperrung des Fahrwegs durch ein nur kurzfristig
  120. bestehendes, eine dauerhafte Gleisblockade nicht darstellendes Hindernis in
  121. Form von Weidetieren verwirklicht sich eine der Gefahren, die die Beklagte erlaubtermaßen schafft, wenn sie einen Verkehrsweg zum Zwecke des Befahrens
  122. durch Schienenfahrzeuge eröffnet und unterhält. Daraus rechtfertigt sich die
  123. Gefährdungshaftung aus § 1 HaftpflG, die die Beklagte auch bei Einhaltung aller Sorgfalt grundsätzlich bis zur Grenze der höheren Gewalt trifft (vgl. Senat
  124. BGHZ 158, 130, 140 f.).
  125. 14
  126. 2. Einen Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt nach § 1 Abs. 2
  127. HaftpflG hat das Berufungsgericht zu Recht verneint. Höhere Gewalt im Sinne
  128. des § 1 Abs. 2 HaftpflG ist ein "betriebsfremdes, von außen durch elementare
  129. Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis,
  130. das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht
  131. - 7 -
  132. werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist" (vgl. Senatsurteile vom 15. November 1966 - VI ZR
  133. 280/64 - VersR 1967, 138, 139; vom 15. März 1988 - VI ZR 115/87 - NJW-RR
  134. 1988, 986; ferner RGZ 171, 104, 105 f.; BGHZ 7, 338, 339). Das Berufungsgericht hat von der Revision unbeanstandet festgestellt, dass das Entlaufen einer
  135. Kuh von eingezäuntem Gelände und deren Auftauchen auf der Bahntrasse in
  136. ländlichen Gebieten nicht derart ungewöhnlich sei, dass dies als außergewöhnlich und schicksalhaft einzustufen sei, und dass sich der Unfall im Streitfall in
  137. einem solchen ländlichen Gebiet ereignet habe. Dies trägt die Annahme, ein
  138. Haftungsausschluss nach § 1 Abs. 2 HaftpflG greife nicht ein (vgl. zur fehlenden
  139. Außergewöhnlichkeit von Zusammenstößen mit Weidevieh bzw. Wildtieren auf
  140. Bahnkörpern Senatsurteil vom 20. April 1955 - VI ZR 42/54 - VersR 1955, 346,
  141. 347; OLG München NZV 1991, 189, 190; OLG Jena, Urteil vom 23. März 2006
  142. - 1 U 1049/05 -; OLG Dresden, Urteil vom 31. Mai 2006 - 12 U 2215/05 -;
  143. Filthaut, aaO, § 1 Rn. 177 m.w.N.).
  144. 15
  145. 3. Nicht frei von Rechtsfehlern sind dagegen die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verantwortungsanteile nach § 13 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 HaftpflG.
  146. 16
  147. a) Die Entscheidung über die Haftungsverteilung ist grundsätzlich Sache
  148. des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in
  149. Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der
  150. Abwägung rechtlich zulässige Kriterien zu Grunde gelegt worden sind, insbesondere nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen wurde (vgl.
  151. Senatsurteile vom 25. März 2003 - VI ZR 161/02 -, VersR 2003, 783, 785 f.;
  152. vom 13. Dezember 2005 - VI ZR 68/04 -, VersR 2006, 369, 371, jeweils zu
  153. § 254 BGB und § 17 StVG m.w.N.). Dies gilt auch für § 13 HaftpflG. Die Abwägung ist auf Grund aller festgestellten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen;
  154. - 8 -
  155. in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die
  156. Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (vgl. Senatsurteile vom 25. März
  157. 2003 - VI ZR 161/02 - und vom 13. Dezember 2005 - VI ZR 68/04 -, jeweils aaO; Filthaut, aaO, § 4 Rn. 17, § 13 Rn. 12).
  158. 17
  159. b) Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht in jeder Hinsicht beachtet.
  160. 18
  161. aa) Unbedenklich ist allerdings, dass das Berufungsgericht zu Lasten der
  162. Klägerin das Gefahrenpotenzial, das von ihrem Fahrzeug ausgeht, namentlich
  163. für in Fahrt befindliche Züge die fehlende Ausweichmöglichkeit als Folge der
  164. Schienengebundenheit und den langen Bremsweg infolge des hohen Gewichts
  165. des Zuges, als allgemeine Betriebsgefahr in die Abwägung eingestellt hat (vgl.
  166. BGH, Urteil vom 9. Juli 1970 - III ZR 112/67 -, VersR 1970, 1049, 1050; OLG
  167. Dresden, Urteil vom 31. Mai 2006 - 12 U 2215/05; Filthaut, aaO, § 4 Rn. 22
  168. m.w.N.).
  169. 19
  170. bb) Ebenfalls zu Recht hat das Berufungsgericht als allgemeine Betriebsgefahr der Beklagten die Gefahren berücksichtigt, die sich aus dem Bereithalten und dem Eröffnen eines Verkehrs auf der von der Beklagten unterhaltenen Trasse ergeben, insbesondere das Risiko, dass die Trasse nicht hindernisfrei ist. Denn mit der Aufnahme eines dualistischen Eisenbahnbegriffs in das
  171. Allgemeine Eisenbahngesetz vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I 2378, 2396;
  172. AEG) und der dauerhaften Verselbstständigung von Fahrbetrieb und Infrastruktur (§§ 2 Abs. 1, 3 AEG) ist Eisenbahninfrastruktur- und Eisenbahnverkehrsunternehmen ein jeweils eigenständiger Gefahrenkreis zugeordnet, für den jeder
  173. auch im Verhältnis der Betriebsunternehmer untereinander eigenständig die
  174. Verantwortung trägt; im Rahmen der von ihr wahrgenommenen Teilaufgabe des
  175. - 9 -
  176. Bahnbetriebs hat die Beklagte gemäß §§ 2 Abs. 3, 4 Abs. 1 AEG insbesondere
  177. die Sicherheit der Schienentrasse zu gewährleisten und die Eisenbahninfrastruktur in betriebssicherem Zustand zu halten (Senat BGHZ 158, 130, 134 f.,
  178. 140 f.; vgl. auch Filthaut, aaO, § 1 Rn. 55; ders. VersR 2001, 1348, 1351). Dazu
  179. gehört auch die Gewährleistung der Hindernisfreiheit der Trasse, indem diese
  180. von herabfallenden oder herabhängenden Gegenständen oder Tieren freigehalten wird.
  181. 20
  182. cc) Nicht zu beanstanden ist ferner, dass das Berufungsgericht eine Kuh
  183. auf der Trasse zu Lasten der Beklagten als gefahrerhöhenden Umstand eingestuft hat. Besondere Umstände, die nicht schlechthin und regelmäßig mit dem
  184. Betrieb verbunden sind und deshalb die mit ihm ohnehin schon verbundenen
  185. Gefahren vergrößern, begründen eine bei der Abwägung verstärkt ins Gewicht
  186. fallende erhöhte Betriebsgefahr (Filthaut, HaftpflG, 7. Aufl., § 4 Rn. 23; Soergel/Mertens, BGB, 12. Aufl., § 254 Rn. 113).
  187. 21
  188. dd) Soweit das Berufungsgericht allerdings zu Lasten der Klägerin gefahrerhöhend berücksichtigt hat, dass sich ihr Fahrzeug bei Auftauchen der Kühe auf der Fahrtrasse in einer (zulässigen) Reisegeschwindigkeit bewegt habe,
  189. wodurch ein rechtzeitiges Abbremsen vor dem Hindernis unmöglich gewesen
  190. sei, begegnet dies durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Wie oben ausgeführt
  191. begründen die hohe kinetische Energie eines sich in Reisegeschwindigkeit bewegenden Zuges und der entsprechend lange Bremsweg die Gefährdungshaftung der Klägerin im Sinne einer allgemeinen Betriebsgefahr, weswegen sie
  192. nicht zusätzlich anteilserhöhend auf die Abwägung einwirken können (vgl. Senatsurteil vom 11. Juli 1961 - VI ZR 203/60 - VersR 1961, 908, 909; BGH, Urteil
  193. vom 9. Juli 1970 - III ZR 112/67 -, aaO; OLG München, aaO; Filthaut, aaO, § 4
  194. Rn. 26). Deshalb war es rechtsfehlerhaft, dass das Berufungsgericht auf Seiten
  195. beider Parteien eine erhöhte Betriebsgefahr in seine Abwägung eingestellt hat.
  196. - 10 -
  197. 22
  198. ee) Nicht in jeder Hinsicht rechtsfehlerfrei sind auch die Ausführungen
  199. des Berufungsgerichts zu Gesichtspunkten des Verschuldens bzw. der Unabwendbarkeit des Unfallereignisses.
  200. 23
  201. (1) Zu Recht geht das Berufungsgericht davon aus, auf Seiten der Beklagten sei ein Verschulden nicht zu berücksichtigen. Hierzu hat es festgestellt,
  202. dass sich der Unfall in ländlichem Gebiet und auf freier Strecke ereignet habe
  203. und die Kuh, mit der der Zug kollidiert sei, vor dem Unfall von einer Weide aus
  204. auf das Bahngleis gelaufen sei. Eine Verkehrssicherungspflicht des Inhalts,
  205. sämtliche von ihr betriebenen Trassen auf freier Strecke einzuzäunen, um weidendes Vieh am Betreten des Bahnkörpers zu hindern, besteht für die Beklagte
  206. nicht (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juni 1963 - VII ZR 85/62 - MDR 1963, 922;
  207. Filthaut, aaO, § 4 Rn. 54). Umstände, aus denen sich eine von der Anschlussrevision angesprochene Verpflichtung der Beklagten ergeben könnte, auf
  208. Landwirte, deren Weideflächen an die Bahnstrecke angrenzen, dahingehend
  209. einzuwirken, ihre Zaunanlagen in Ordnung zu halten, sind nicht vorgetragen.
  210. 24
  211. (2) Rechtsfehlerhaft stellt das Berufungsgericht aber den Umstand zu
  212. Gunsten der Beklagten in seine Abwägung ein, dass das Unfallereignis im
  213. Streitfall für diese auch bei Anwendung jeder praktisch möglichen Sorgfalt nicht
  214. vermeidbar gewesen sei.
  215. 25
  216. (a) Zwar ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht den Gesichtspunkt, ob es sich um ein unabwendbares Ereignis handelte, überhaupt als
  217. für die Abwägung erheblich angesehen hat. Dass im Streitfall die etwaige Unabwendbarkeit des Unfallereignisses nicht schon einen gesetzlichen Haftungsausschlusstatbestand zu Gunsten der Beklagten darstellt, schließt die Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts bei der nach § 13 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1
  218. HaftpflG vorzunehmenden Abwägung nicht aus. Im Haftungsrecht des Straßen-
  219. - 11 -
  220. verkehrs ist anerkannt, dass die Unabwendbarkeit des Unfallereignisses einen
  221. erheblichen Abwägungsfaktor im Rahmen der Abwägung nach §§ 9 StVG, 254
  222. BGB darstellen kann, auch wenn ihr nach §§ 7 Abs. 2, 17 Abs. 3 StVG nicht die
  223. Bedeutung eines haftungsausschließenden Umstandes zukommt (vgl. Begründung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. 14/7752, S. 30; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 7 StVG Rn. 31; Lemcke, ZfS 2002, 318, 324; wohl auch Steffen, DAR 1998, 135, 137). Entsprechendes gilt auch hier.
  224. 26
  225. (b) Nicht gefolgt werden kann jedoch der Auffassung des Berufungsgerichts, dass es sich zwar bei der Kollision eines Triebwagens mit einem die
  226. Trasse versperrenden Tier, nicht aber bei der Kollision mit einem Stein oder
  227. Baum (s. hierzu Senatsurteile BGHZ 158, 130 ff. sowie vom 22. Juni 2004
  228. - VI ZR 8/04 - juris) um ein für die Beklagte unabwendbares Ereignis handle
  229. (gegen eine derartige Differenzierung OLG Jena, Urteil vom 23. März 2006
  230. - 1 U 1049/05 -; OLG Dresden, Urteil vom 31. Mai 2006 - 12 U 2215/05). Denn
  231. im einen wie im anderen Fall ist es bei Anwendung der höchstmöglichen Sorgfalt denkbar, Streckenabschnitte mit diesbezüglichem erhöhtem Gefährdungspotenzial zu erkennen und Abwehrmaßnahmen zu treffen. Zudem trifft es nicht
  232. zu, dass im Gegensatz zur Blockade durch Steine oder Bäume bei Auftreten
  233. von Weidevieh auf der Trasse diese "eigentlich Hindernis frei" ist. Vielmehr
  234. verwirklicht sich auch dann bei einer Kollision gerade das von der Beklagten zu
  235. tragende Risiko einer Versperrung des Fahrwegs. Nur darauf kommt es im
  236. Rahmen der Gefährdungshaftung der Beklagten an, nicht dagegen darauf, wie
  237. lange die Tiere bereits die Trasse versperrt hatten, bevor sich die Gefahr verwirklichte, oder ob sie sich gewöhnlich vor einer Kollision mit einem herannahenden Zug von der Bahntrasse bereits wieder entfernt haben.
  238. - 12 -
  239. 27
  240. (c) Dass das Berufungsgericht bei seiner Abwägung zu Gunsten der Beklagten in Rechnung gestellt hat, diese habe die Kollision im Streitfall auch bei
  241. Anwendung jeder praktisch möglichen Sorgfalt nicht vermeiden können, wird
  242. zudem von den getroffenen Feststellungen nicht getragen. Dem Berufungsurteil
  243. ist nichts darüber zu entnehmen, wie es zu dem Entlaufen der Kühe aus der
  244. Weide kam, oder dazu, ob der Beklagten keine konkreten Anhaltspunkte im
  245. Vorfeld der zu beurteilenden Kollision erkennbar waren, aus denen sie ein zumindest erhöhtes Risiko solcher Unfälle am Unfallort ableiten konnte. Ist dies
  246. nicht ausgeschlossen, kann das Vorliegen eines für die Beklagte unabwendbaren Ereignisses jedoch nicht angenommen werden. Jedenfalls hätte das Berufungsgericht, wenn es die Unabwendbarkeit des Ereignisses zu Gunsten der
  247. Beklagten in seine Abwägung einstellt, erwägen müssen, ob das Schadensereignis nicht auch für die Klägerin unabwendbar war.
  248. 28
  249. 4. Rechtsfehlerhaft ist auch die von der Revision angegriffene Auffassung des Berufungsgerichts, das Bestreiten der Schadenshöhe durch die Beklagte mit Nichtwissen sei ein nach §§ 531 Abs. 2, 296a ZPO unzulässiges
  250. neues Verteidigungsmittel.
  251. 29
  252. Um neues Vorbringen handelt es sich, wenn dieses sehr allgemein gehaltenen Vortrag der ersten Instanz konkretisiert und erstmals substantiiert,
  253. nicht jedoch, wenn ein bereits schlüssiges Vorbringen aus der ersten Instanz
  254. durch weitere Tatsachenbehauptungen zusätzlich konkretisiert, verdeutlicht oder erläutert wird (vgl. Senat BGHZ 159, 245, 251; 164, 330, 333; BGH, Urteil
  255. vom 26. Juni 2003 - VII ZR 281/02 - NJW-RR 2003, 1321, 1322; Beschluss vom
  256. 21. Dezember 2006 - VII ZR 279/05 - NJW 2007, 1531, 1532). Nach diesen
  257. Grundsätzen handelt es sich bei dem erstmals ausdrücklich erklärten Bestreiten
  258. der Schadenshöhe mit Nichtwissen im erstinstanzlich nachgelassenen Schriftsatz der Beklagten vom 19. Juli 2005 nicht um ein neues Vorbringen, das nach
  259. - 13 -
  260. §§ 531 Abs. 2, 296a ZPO ausgeschlossen ist. Das ausdrückliche Bestreiten mit
  261. Nichtwissen verdeutlicht vielmehr nur die sich bereits aus dem Schriftsatz der
  262. Beklagten vom 17. Juni 2005 ergebende Absicht, die Schadenshöhe bestreiten
  263. zu wollen, nachdem die Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 4. Juli 2005 die Auffassung vertreten hat, die Beklagte habe das Tatsachenvorbringen der Klägerin
  264. nicht bestritten. Bereits aus dem Vorbringen der Beklagten in ihrem Schriftsatz
  265. vom 17. Juni 2005, dass sie den Vortrag der Klägerin zur Schadenshöhe als
  266. gänzlich unschlüssig und unsubstantiiert ansehe, hat sich zugleich ihre Absicht
  267. ergeben, die geltend gemachte Schadenshöhe nicht zu akzeptieren. Dies reichte gemäß § 138 Abs. 3, 4 ZPO als ausreichendes Bestreiten der Schadenshöhe aus.
  268. III.
  269. 30
  270. Das Berufungsurteil konnte im Hinblick auf die fehlerhafte Abwägung
  271. nach § 13 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 HaftpflG und die Zurückweisung des Bestreitens
  272. des klägerischen Vortrags zur Schadenshöhe durch die Beklagte keinen Bestand haben. Das Urteil war deshalb aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit dieses die noch erforderlichen Feststellungen treffen kann. Dadurch erhält das Berufungsgericht auch Gelegenheit,
  273. - 14 -
  274. seine Entscheidung über die Anschlussberufung der Beklagten im Urteilstenor
  275. zum Ausdruck zu bringen, was bisher, wie die Revision zu Recht rügt, unterblieben ist.
  276. Müller
  277. Greiner
  278. Pauge
  279. Wellner
  280. Stöhr
  281. Vorinstanzen:
  282. AG Bautzen, Entscheidung vom 16.08.2005 - 21 C 250/05 LG Bautzen, Entscheidung vom 21.07.2006 - 1 S 113/05 -