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241 lines
10 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. VI ZB 80/06
  4. vom
  5. 8. Mai 2007
  6. in dem Rechtsstreit
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. ZPO § 519 Abs. 1
  14. Zum Beweis des rechtzeitigen Eingangs mit Einwurf der Berufungsschrift in den
  15. Nachtbriefkasten durch den Prozessbevollmächtigten des Rechtsmittelführers.
  16. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2007 - VI ZB 80/06 - LG Dresden
  17. AG Pirna
  18. -2-
  19. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Mai 2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und
  20. die Richter Pauge und Zoll
  21. beschlossen:
  22. Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der
  23. 4. Zivilkammer des Landgerichts Dresden vom 7. November 2006
  24. aufgehoben.
  25. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
  26. des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  27. Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens: 786,41 €
  28. Gründe:
  29. I.
  30. 1
  31. Der Kläger nimmt die Beklagten auf Ersatz materieller und immaterieller
  32. Schäden nach einem Verkehrsunfall vom 3. Juli 2005 in Anspruch. Das Amtsgericht P.
  33. hat die Klage zum Teil abgewiesen. Dieses Urteil ist den Prozess-
  34. bevollmächtigten des Klägers am 30. August 2006 zugestellt worden. Mit
  35. Schriftsatz vom 29. September 2006 hat der Kläger Berufung eingelegt. Der
  36. Schriftsatz ist beim Berufungsgericht ausweislich des Eingangsstempels am
  37. -3-
  38. 3. Oktober
  39. 2006
  40. eingegangen.
  41. 4. Zivilkammer des Landgerichts D.
  42. Mit
  43. Verfügung
  44. des
  45. Vorsitzenden
  46. der
  47. vom 5. Oktober 2006 wurde der Klä-
  48. ger darauf hingewiesen, "dass die Berufung unzulässig sein dürfte, da … die
  49. Berufungsfrist nicht eingehalten sein dürfte".
  50. 2
  51. Mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2006 beantragte der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte dar, der Prozessbevollmächtigte des
  52. Klägers habe sich in Kenntnis der am 2. Oktober 2006 ablaufenden Frist persönlich zum Landgericht D.
  53. begeben und die Berufungsschrift zusammen
  54. mit einem anderen Schriftsatz am 2. Oktober 2006 zwischen 13.00 und
  55. 14.00 Uhr in den Nachtbriefkasten gesteckt. Auch auf dem anderen Schriftsatz
  56. sei als Eingangsstempel der 3. Oktober 2006 vermerkt worden. Voraussetzung
  57. für eine Wiedereinsetzung sei die Versäumung einer Frist. Der Unterzeichner
  58. des Schriftsatzes trage ausdrücklich vor, dass keine Frist versäumt worden sei.
  59. Ob für eine Wiedereinsetzung Raum bleibe, möge das Gericht entscheiden. Der
  60. Unterzeichner sei sich sicher, die Schriftsätze bereits am 2. Oktober 2006 in
  61. den Briefkasten des Landgerichts gesteckt und am 3. Oktober 2006, einem Feiertag, keine Post zum Landgericht gebracht zu haben. Er sei ohne weiteres bereit, dies gemäß § 236 Abs. 2 ZPO an Eides statt zu versichern.
  62. 3
  63. Mit Verfügung vom 13. Oktober 2006 ordnete der Vorsitzende des Berufungsgerichts eine Anfrage bei der Poststelle an, ob am 2. bzw. 3. Oktober
  64. 2006 Probleme technischer Art beim Nachtbriefkasten bekannt seien. Nach Mitteilung der Poststelle (Herr H.) - so ein weiterer Vermerk in der Akte - seien an
  65. diesen Tagen keine Probleme aufgetreten. Eine Mitteilung der Nachfrage und
  66. ihrer Beantwortung an den Kläger erfolgte nicht.
  67. 4
  68. Mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2006, per Fax am selben Tag beim
  69. Landgericht eingegangen, beantragte der Kläger Verlängerung der Berufungs-
  70. -4-
  71. begründungsfrist bis 20. November 2006 und bat, zunächst über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden. Die Fristverlängerung hat der Vorsitzende
  72. des Berufungsgerichts antragsgemäß am 26. Oktober 2006 gewährt.
  73. 5
  74. Die Beklagten sind dem Antrag auf Wiedereinsetzung entgegengetreten.
  75. Der Schriftsatz des Klägers vom 12. Oktober 2006 enthalte keine Beweisangebote. Die bloße Behauptung rechtzeitigen Eingangs genüge nicht. Die Rechtzeitigkeit müsse vielmehr zur vollen Überzeugung des Gerichts nachgewiesen
  76. werden.
  77. 6
  78. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 7. November 2006 hat das
  79. Landgericht die Berufung des Klägers und seinen Antrag auf Wiedereinsetzung
  80. in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig
  81. verworfen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, ausweislich des
  82. Posteingangsstempels sei die Berufung erst nach Ablauf der Berufungsfrist am
  83. 3. Oktober 2006 eingegangen. Der Eingangsstempel entfalte nach § 418 ZPO
  84. Beweiskraft. Der Gegenbeweis sei mit der Behauptung des Einwurfs am
  85. 2. Oktober 2006 nicht angetreten. Eine Nachfrage habe im Übrigen ergeben,
  86. dass es am 2./3. Oktober 2006 zu keinen technischen Problemen gekommen
  87. sei. Der Wiedereinsetzungsantrag sei unzulässig, weil nur die Einhaltung der
  88. Frist behauptet werde.
  89. 7
  90. Mit seiner Rechtsbeschwerde vom 30. November 2006 begehrt der Kläger, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten
  91. Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
  92. -5-
  93. II.
  94. 8
  95. Der angefochtene Beschluss hält den Angriffen der Rechtsbeschwerde
  96. nicht stand.
  97. 9
  98. 1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1
  99. Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil nach § 574 Abs. 2
  100. Nr. 2 ZPO die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung
  101. des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (vgl. BVerfGE 79, 372, 376 f.; BVerfG
  102. NJW-RR 2002, 1004).
  103. 10
  104. 2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
  105. 11
  106. Das Berufungsgericht durfte die Berufung nicht mit der Begründung als
  107. unzulässig verwerfen, der Kläger habe nicht unter Beweis gestellt, dass die Berufungsschrift rechtzeitig bei Gericht eingegangen sei. Ausgehend vom Vorbringen des Klägers hat der Einwurf der Berufungsschrift in den Nachtbriefkasten
  108. am 2. Oktober 2006 die Berufungsfrist gewahrt (§ 517 ZPO). Mit diesem Vortrag setzt sich das Berufungsgericht nicht in der erforderlichen Weise auseinander.
  109. 12
  110. a) Richtig ist zwar, dass der Eingangsstempel des Landgerichts gemäß
  111. § 418 Abs. 1 ZPO Beweis für den Zeitpunkt des Eingangs eines Schriftsatzes
  112. bei Gericht erbringt. Nach § 418 Abs. 2 ZPO ist jedoch ein Beweis der Unrichtigkeit der darin bezeugten Tatsachen - zur vollen Überzeugung des Gerichts zulässig. Allein die kaum jemals völlig auszuschließende Möglichkeit, dass ein
  113. Nachtbriefkasten aus technischen Gründen nicht funktioniert oder bei der Abstempelung Fehler unterlaufen, reicht zur Führung dieses Beweises jedoch
  114. nicht aus. Andererseits dürfen wegen der Beweisnot der betroffenen Partei an
  115. -6-
  116. den Gegenbeweis nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
  117. keine überspannten Anforderungen gestellt werden (vgl. BGH, Beschluss vom
  118. 7. Oktober 1992 - XII ZB 100/92 - BGHR-ZPO § 519 Abs. 2 Satz 2 Fristablauf 1;
  119. Urteil vom 14. Oktober 2004 - VII ZR 33/04 - NJW-RR 2005, 75; Beschluss vom
  120. 15. September 2005 - III ZB 81/04 - VersR 2005, 1750, 1751; Urteil vom
  121. 2. November 2006 - III ZR 10/06 - NJW 2007, 603). Da der Außenstehende in
  122. der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen Nachtbriefkastens sowie das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die
  123. insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (vgl. BGH, Urteil vom
  124. 14. Oktober 2004 - VII ZR 33/04 - aaO). Dem entspricht es nur zum Teil, dass
  125. das Berufungsgericht eine formlose dienstliche Äußerung lediglich mittelbar
  126. eingeholt hat, nicht aber die für die Leerung des Nachtbriefkastens zuständigen
  127. Personen selbst näher zur Bearbeitung der Post vor und nach Feiertagen im
  128. Einzelnen befragt hat. Das wird es nachzuholen haben. Dabei wird zu beachten
  129. sein, dass - wie bei jeder Beweisaufnahme - den Parteien des Rechtsstreits
  130. Gelegenheit zur Kenntnisnahme und zur eigenen Würdigung zu geben ist (vgl.
  131. §§ 355 Abs. 1 Satz 1, 357 Abs. 1, 358 ZPO; Art. 103 Abs. 1 GG).
  132. 13
  133. Die Rechtsbeschwerde weist darauf hin, dass der Kläger bei Möglichkeit
  134. einer Stellungnahme zu der Auskunft der Poststelle seinerseits zum Beweis für
  135. seine Darstellung die Vernehmung seines Prozessbevollmächtigten, Rechtsanwalt D., als Zeugen angeboten hätte.
  136. 14
  137. b) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet im Übrigen das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu
  138. ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht
  139. sicherstellen, dass die von den Fachgerichten zu treffende Entscheidung frei
  140. von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme
  141. -7-
  142. und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem
  143. Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. den Grundsätzen der ZPO die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge (vgl. BVerfG NJW-RR 2001, 1006,
  144. 1007). Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht Art. 103 Abs.1 GG
  145. verletzt.
  146. 15
  147. Der Kläger hatte im Schriftsatz vom 12. Oktober 2006 vorgetragen, dass
  148. die Berufungsschrift rechtzeitig durch Einwurf in den Briefkasten des Landgerichts bei dem Berufungsgericht eingegangen sei; in diesem Schriftsatz hatte
  149. der Prozessbevollmächtigte des Klägers zudem seine Bereitschaft erklärt, seinen Vortrag zur Fristwahrung an Eides Statt zu versichern. Ein solches Angebot, eine eidesstattliche Versicherung des Anwalts beizubringen, hätte das Berufungsgericht unbedenklich als Benennung des Rechtsanwalts als Zeugen
  150. werten können. Zumindest aber hätte es beim Kläger anfragen müssen, ob
  151. Rechtsanwalt D. als Zeuge benannt werde (vgl. Beschluss vom 7. Oktober
  152. 1992 - XII ZB 100/92 - aaO).
  153. 16
  154. Nach § 139 Abs. 2 ZPO hat der Vorsitzende des Prozessgerichts nämlich die Parteien auf die Bedenken aufmerksam zu machen, die in Ansehung
  155. der von Amts wegen zu berücksichtigenden Punkte bestehen. Genügte dem
  156. Berufungsgericht die angekündigte Bereitschaft zur eidesstattlichen Versicherung des Rechtsanwalts D. nicht als Beweisangebot, hätte der Vorsitzende darauf hinwirken müssen, dass Zeugenbeweis angetreten wird (vgl. Senat, Urteil
  157. vom 10. Mai 1994 - VI ZR 306/93 - EzFamR ZPO § 418 Nr. 2; BGH, Beschluss
  158. vom 16. Februar 1984 - IX ZB 172/83 - VersR 1984, 442, 443). Der Prozessbevollmächtigte einer Partei kann auch bei Fortdauer seiner Funktion als Zeuge
  159. vernommen werden (vgl. Senat, Urteil vom 10. Mai 1994 - VI ZR 306/93 - EzFamR ZPO § 418 Nr. 2; Zöller/Greger, ZPO, 26. Aufl., § 373 Rn. 5).
  160. -8-
  161. Hätte das Berufungsgericht seiner Aufklärungspflicht aus § 139 ZPO ge-
  162. 17
  163. nügt, hätte der Kläger nach dem Vortrag der Rechtsbeschwerde den näher bezeichneten Zeugen benannt.
  164. 18
  165. 3. Nach allem ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache
  166. zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 574
  167. Abs. 4 ZPO).
  168. Müller
  169. Greiner
  170. Pauge
  171. Diederichsen
  172. Zoll
  173. Vorinstanzen:
  174. AG Pirna, Entscheidung vom 24.08.2006 - 4 C 3/06 LG Dresden, Entscheidung vom 07.11.2006 - 4 S 539/06 -