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8.1 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 83/10
  4. vom
  5. 31. März 2011
  6. in der Abschiebungshaftsache
  7. -2-
  8. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 31. März 2011 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richter Dr. Lemke und Prof. Dr. SchmidtRäntsch und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
  9. beschlossen:
  10. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass
  11. der Beschluss der 10. Zivilkammer des Landgerichts Bremen vom
  12. 25. Februar 2010 und der Beschluss des Amtsgerichts Bremen
  13. vom 3. Februar 2010 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
  14. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zweckentsprechenden
  15. notwendigen Auslagen der Betroffenen in allen Instanzen trägt die
  16. F.
  17. .
  18. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  19. 3.000 €.
  20. Gründe:
  21. I.
  22. 1
  23. Die Betroffene ist nigerianische Staatsangehörige und reiste nach eigenen Angaben am 20. Januar 2010 mit dem Flugzeug von Spanien nach
  24. Deutschland ein. Sie wurde am 2. Februar 2010 in einem Bordell von der Polizei festgenommen.
  25. -3-
  26. 2
  27. Am 3. Februar 2010 beantragte die Beteiligte zu 2 die Haft zur Sicherung
  28. der Abschiebung. In dem Antrag heißt es u.a.: "Wegen des Verdachts der illegalen Erwerbstätigkeit (Prostitution) und des illegalen Aufenthalts wurde die
  29. Betroffene von der Polizei festgenommen". Dem Antrag beigefügt waren ein
  30. Personalbogen der Betroffenen, in dem sie als Beschuldigte geführt wird, sowie
  31. ihre Beschuldigtenvernehmung.
  32. 3
  33. Mit Beschluss vom gleichen Tag hat das Amtsgericht dem Haftantrag
  34. entsprochen. Während des hiergegen gerichteten - erfolglosen - Beschwerdeverfahrens ist die Betroffene nach Spanien abgeschoben worden. Mit der
  35. Rechtsbeschwerde möchte die Betroffene unter Aufhebung der landgerichtlichen Entscheidung die Feststellung erreichen, dass die Anordnung der Abschiebungshaft rechtswidrig gewesen ist.
  36. II.
  37. 4
  38. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts war die Haftanordnung des
  39. Amtsgerichts rechtmäßig, denn die in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 5
  40. AufenthG genannten Haftgründe hätten vorgelegen.
  41. III.
  42. 5
  43. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
  44. 6
  45. 1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2
  46. FamFG, § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ohne Zulassung statthaft (siehe nur Senat, Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 96/10, Rn. 10; Beschluss vom
  47. 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27; Beschluss vom 6. Mai 2010
  48. - V ZB 213/09, NVwZ 2010, 1520) und auch im Übrigen zulässig (§ 71 FamFG).
  49. -4-
  50. a) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Abschiebung der Be-
  51. 7
  52. troffenen während des Beschwerdeverfahrens erstmals in dem Rechtsbeschwerdeverfahren vorgetragen worden ist. Eine Bindung des Rechtsbeschwerdegerichts an die insoweit fehlenden Feststellungen des Beschwerdegerichts (§ 74 Abs. 3 Satz 4 FamFG, § 559 ZPO) besteht nicht. Auch ohne Verfahrensrüge nach §§ 74 Abs. 3 Satz 3, 71 Abs. 3 FamFG müssen neue Tatsachen
  53. durch das Rechtsbeschwerdegericht dann berücksichtigt werden, wenn sie eine
  54. in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Zulässigkeitsvoraussetzung betreffen (Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 16. Aufl., § 74 Rn. 41; vgl.
  55. auch BGH, Urteil vom 21. Februar 2000 - II ZR 231/98, NJW-RR 2000, 1156
  56. mwN zum Revisionsverfahren). Dies gilt auch für solche Tatsachen, die am Ende des Beschwerdeverfahrens bereits vorgelegen haben, aber von den Beteiligten
  57. bisher
  58. noch
  59. nicht
  60. vorgetragen
  61. worden
  62. sind
  63. (vgl.
  64. Schulte-
  65. Bunert/Weinreich/Unger, FamFG, 2. Aufl., § 74 Rn. 22). So verhält es sich hier.
  66. Die durch die Abschiebung eingetretene Erledigung der Hauptsache ist neben
  67. der Antragstellung und dem Feststellungsinteresse eine verfahrensrechtliche
  68. Voraussetzung der Feststellungsentscheidung nach § 62 Abs. 1 FamFG (vgl.
  69. Keidel/Budde, FamFG, 16. Aufl., § 62 Rn. 4, 7 f.).
  70. 8
  71. b) Der in der Rechtsbeschwerdebegründung gestellte Antrag erfasst
  72. auch die Feststellung der Rechtsverletzung durch die Entscheidung des Beschwerdegerichts. Zwar hat die Betroffene die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung beantragt. Dieser Antrag genügt ihrem Rechtsschutzziel jedoch
  73. nicht. Nach ihrem durch Auslegung zu ermittelnden Willen ist vielmehr im Zweifel dasjenige gewollt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig
  74. ist und dem recht verstandenen Interesse entspricht (vgl. Senat, Beschluss vom
  75. 27. März 2009 - V ZR 196/08, NJW 2009, 2132 Rn. 7). Unter Beachtung dieser
  76. Grundsätze ist nach der Begründung der Rechtsbeschwerde auch die Feststellung der Rechtsverletzung durch die Entscheidung des Beschwerdegerichts von
  77. -5-
  78. dem Antrag der Betroffenen umfasst. Eine andere, allein an dem Wortlaut des
  79. Antrags orientierte Auslegung bedeutete eine Rechtswegverkürzung, die den
  80. Rechtsschutzanspruch der Betroffenen nach Art. 19 Abs. 4 GG verletzen würde
  81. (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Juli 2008 - 2 BvR 31/06, InfAuslR 2008, 453,
  82. 455; vgl. auch Senat, Beschluss vom 16. Dezember 2010 - V ZB 111/10, Umdruck S. 5).
  83. 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die Haftanordnung des
  84. 9
  85. Amtsgerichts und die angefochtene Entscheidung des Beschwerdegerichts haben die Betroffene in ihrem Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verletzt.
  86. 10
  87. a) Die Haft hätte schon deshalb nicht angeordnet werden dürfen, weil der
  88. Haftantrag unzulässig war.
  89. 11
  90. aa) Ob ein zulässiger Haftantrag vorliegt, ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl. Senat, Beschluss vom 9. Dezember 2010
  91. - V ZB 136/10, Rn. 6, zur Veröffentlichung bestimmt; Beschluss vom 29. April
  92. 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211, jeweils mwN). Zu den unerlässlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen gehört es nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5
  93. FamFG, dass die Antragsbegründung insbesondere Angaben zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung enthält (Senat, Beschluss
  94. vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, juris Rn. 8 f.).
  95. 12
  96. bb) Diesen Anforderungen wird der Antrag der Beteiligten zu 2 vom
  97. 3. Februar 2010 nicht gerecht. Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen
  98. Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden. Liegt dieses Einvernehmen nicht vor, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Ab-
  99. -6-
  100. schiebung eines Ausländers aus (Senat, Beschluss vom 10. Februar 2011
  101. - V ZB 49/10 Rn. 7, zur Veröffentlichung bestimmt; Beschluss vom 21. Januar
  102. 2011 - V ZB 323/10, juris Rn. 7; Beschluss vom 20. Januar 2011, aaO, Rn. 22;
  103. Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 211/10, InfAuslR 2010, 440; Beschluss
  104. vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574 Rn. 9). Fehlen in dem Haftantrag Ausführungen zu dem Einvernehmen, obwohl sich aus ihm selbst oder
  105. aus den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass die öffentliche
  106. Klage erhoben worden ist oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt
  107. wird, ist der Antrag unzulässig (Senat, Beschluss vom 10. Februar 2011 - V ZB
  108. 49/10, Rn. 6; Beschluss vom 21. Januar 2011 - V ZB 323/10, Rn. 8; Beschluss
  109. vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 9).
  110. 13
  111. b) So ist es hier. Dem Haftantrag der Beteiligten zu 2 war die Beschuldigtenvernehmung der Betroffenen beigefügt. Dennoch fehlen Ausführungen zu
  112. einem generellen oder im Einzelfall erteilten Einvernehmen der Staatsanwaltschaft (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Februar 2011 - V ZB 49/10 Rn. 8, zur
  113. Veröffentlichung bestimmt; Beschluss vom 21. Januar 2011 - V ZB 323/10, juris
  114. Rn. 25) mit der Abschiebung der Betroffenen.
  115. IV.
  116. 14
  117. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, 83 Abs. 2
  118. FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in
  119. Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die Freie Hansestadt
  120. Bremen als die Körperschaft, der die Beteiligte zu 2 angehört, zur Erstattung
  121. der notwendigen außergerichtlichen Auslagen der Betroffenen zu verpflichten
  122. (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 223/09, FGPrax 2010, 212 f.
  123. Rn. 19).
  124. -7-
  125. 15
  126. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO
  127. i.V.m. § 30 KostO.
  128. Krüger
  129. Lemke
  130. Brückner
  131. Schmidt-Räntsch
  132. Weinland
  133. Vorinstanzen:
  134. AG Bremen, Entscheidung vom 03.02.2010 - 91 XIV 66/10 LG Bremen, Entscheidung vom 25.02.2010 - 10 T 92/10 (b) -