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- BUNDESGERICHTSHOF
- BESCHLUSS
- V ZB 41/14
- vom 12. März 2015
-
- in dem Zwangsversteigerungsverfahren
- Nachschlagewerk:
-
- ja
-
- BGHZ:
-
- nein
-
- BGHR:
-
- ja
-
- EuInsVO Art. 5 Abs. 1
- Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung des
- Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV folgende Frage zur
- Vorabentscheidung vorgelegt:
- Erfasst der Begriff des dinglichen Rechts gemäß Art. 5 Abs. 1 der Verordnung
- (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl.
- EG 2000 Nr. L 160 S. 1) eine nationale Regelung, wie sie in § 12 des
- Grundsteuergesetzes i.V.m. § 77 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung enthalten
- ist, wonach Grundsteuerforderungen kraft Gesetzes als öffentliche Last auf dem
- Grundstück ruhen und der Eigentümer insoweit die Zwangsvollstreckung in den
- Grundbesitz dulden muss?
- BGH, Beschluss vom 12. März 2015 - V ZB 41/14 - LG Hannover
- AG Burgwedel
-
- -2-
-
- Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. März 2015 durch die
- Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, den Richter Dr. Czub, die Richterinnen
- Dr. Brückner und Weinland und den Richter Dr. Kazele
-
- beschlossen:
-
- Das Verfahren wird ausgesetzt.
- Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung des
- Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV folgende
- Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
- Erfasst der Begriff des dinglichen Rechts gemäß Art. 5 Abs. 1 der
- Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über
- Insolvenzverfahren (ABl. EG 2000 Nr. L 160 S. 1) eine nationale
- Regelung, wie sie in § 12 des Grundsteuergesetzes i.V.m. § 77
- Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung enthalten ist, wonach
- Grundsteuerforderungen kraft Gesetzes als öffentliche Last auf
- dem Grundstück ruhen und der Eigentümer insoweit die
- Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz dulden muss?
-
- Gründe:
- I.
- 1
-
- Die Schuldnerin, eine Société Civile Immobilière nach französischem
- Recht, ist Eigentümerin des im Rubrum genannten Grundstücks in W.
-
- ,
-
- Deutschland. Mit Urteil vom 6. Mai 2013 ordnete der Tribunal de Grande
- Instance
-
- de
-
- Mulhouse,
-
- Frankreich,
-
- das
-
- Betriebssanierungsverfahren
-
- („procédure de redressement judiciaire“) für die Schuldnerin an und beauftragte
-
- -3-
-
- einen gerichtlich bestellten Verwalter mit deren Betreuung („administrateur
- judiciaire avec mission d‘assistance“). Am 15. Mai 2013 beantragte die
- Gemeinde W.
-
- wegen rückständiger Grundsteuern für die Zeit vom
-
- 1. Oktober 2012 bis zum 30. Juni 2013 in Höhe von 7.471,19 € die
- Zwangsversteigerung des Grundstücks und bescheinigte die Vollstreckbarkeit
- der Forderungen.
- 2
-
- Mit
-
- Beschluss
-
- vom
-
- 21.
-
- Mai
-
- 2013
-
- hat
-
- das
-
- Amtsgericht
-
- die
-
- Zwangsversteigerung angeordnet. Der dagegen gerichteten Erinnerung der
- Schuldnerin hat es nicht abgeholfen. Das Landgericht hat ihre sofortige
- Beschwerde zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde will die
- Schuldnerin
-
- erreichen,
-
- dass
-
- die
-
- Anordnung
-
- der
-
- Zwangsversteigerung
-
- aufgehoben und der Zwangsversteigerungsvermerk im Grundbuch gelöscht
- wird.
- II.
- 3
-
- Die Begründetheit der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthaften
- und nach § 575 ZPO auch im Übrigen zulässigen Rechtsbeschwerde hängt in
- entscheidungserheblicher Weise von der Beantwortung der im Tenor
- formulierten Vorlagefrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union ab.
-
- 4
-
- 1. Der Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des
- Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. EG 2000 Nr. L 160 S. 1)
- in der zuletzt durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 663/2014 des Rates
- vom 5. Juni 2014 (ABl. EU 2014 Nr. L 179 S. 4) geänderten Fassung
- (Europäische Insolvenzverordnung, nachfolgend EuInsVO) ist sowohl räumlich
- als auch sachlich eröffnet. Bei dem Verfahren des "redressement judiciaire"
- handelt es sich um eines der in Art. 2 Buchstabe a EuInsVO i.V.m. Anhang A
- der Verordnung genannten Insolvenzverfahren. Der
-
- für die Schuldnerin
-
- auftretende "administrateur judiciaire" gehört zu den in Art. 2 Buchstabe b
-
- -4-
-
- EuInsVO i.V.m. Anhang C der Verordnung bezeichneten Verwaltern. Die
- Europäische Insolvenzverordnung geht in ihrem Anwendungsbereich den
- Vorschriften des in §§ 335 ff. InsO geregelten deutschen Internationalen
- Insolvenzrechts vor (vgl. Senat, Beschluss vom 3. Februar 2011 - V ZB 54/10,
- BGHZ 188, 177 Rn. 11 mwN).
- 5
-
- 2. Gemäß Art. 4 Abs. 1 EuInsVO unterliegt das Insolvenzverfahren dem
- französischen
-
- Recht.
-
- Dieses
-
- regelt
-
- auch
-
- die
-
- Auswirkungen
-
- der
-
- Verfahrenseröffnung auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger
- (Art. 4 Abs. 2 Satz 2 Buchstabe f EuInsVO). Feststellungen zu dem
- französischen Recht, die das Beschwerdegericht nicht für erforderlich gehalten
- hat, kann der Senat selbst treffen (näher Beschluss vom 3. Februar 2011
- - V ZB 54/10, BGHZ 188, 177 Rn. 14 mwN). Danach begründet die Eröffnung
- des „redressement judiciaire“ ein allgemeines Vollstreckungsverbot (Art. L 63114 Abs. 1 i.V.m. Art. L 622-21 Abs. 2 Code de Commerce). Weder für dinglich
- gesicherte Gläubiger noch für den Fiskus oder die Sozialversicherungsträger
- bestehen Sonderregelungen (vgl. Pérochon, Entreprises en difficulté, 10. Aufl.,
- Rn.
-
- 633
-
- ff.;
-
- Sonnenberger/Dammann,
-
- Französisches
-
- Handels-
-
- und
-
- Wirtschaftsrecht, 3. Aufl., Rn. VIII 67; MünchKomm-InsO/Niggemann, 2. Aufl.,
- Anhang
-
- Band
-
- 3,
-
- Länderbericht
-
- Frankreich
-
- Rn. 11;
-
- Bauerreis
-
- in
-
- Kindler/Nachmann, Handbuch Insolvenzrecht in Europa [2014], Länderbericht
- Frankreich Rn. 155). Allerdings bleiben gemäß Art. 5 Abs. 1 EuInsVO dingliche
- Rechte eines Gläubigers oder eines Dritten an unbeweglichen Gegenständen,
- die sich im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats befinden, von der Eröffnung
- des Insolvenzverfahrens unberührt.
- 6
-
- 3. Nach deutschem Recht sind die Grundsteuerforderungen, die zu der
- Anordnung der Zwangsversteigerung geführt haben, öffentliche Lasten gemäß
- § 12 Grundsteuergesetz (GrStG). Öffentliche Lasten beruhen zwar auf
- öffentlichem Recht. Sie sind aber dingliche Verwertungsrechte, da der
-
- -5-
-
- Eigentümer gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AO die Zwangsvollstreckung in das
- Grundstück dulden muss (vgl. BVerwG, NJW 1985, 756). Funktionell
- entsprechen sie einem Grundpfandrecht (vgl. nur Klein/Rüsken, AO, 12. Aufl.,
- § 77 Rn. 3; Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 9. Aufl., § 27 Rn. 1).
- 7
-
- Im Einzelnen:
-
- 8
-
- a) Maßgebliche Normen des deutschen Rechts:
- § 12 GrStG bestimmt unter der Überschrift „Dingliche Haftung“:
- „Die Grundsteuer ruht auf dem Steuergegenstand als öffentliche Last.“
- § 77 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) bestimmt:
- „Wegen einer Steuer, die als öffentliche Last auf dem Grundbesitz ruht, hat
- der Eigentümer die Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz zu dulden.“
- § 10 Abs. 1 des Zwangsversteigerungsgesetzes (ZVG) lautet auszugsweise
- wie folgt:
- „Ein Recht auf Befriedigung aus dem Grundstück gewähren nach folgender
- Rangordnung (…):
- 3. die Ansprüche auf Entrichtung der öffentlichen Lasten des Grundstücks
- wegen der aus den letzten vier Jahren rückständigen Beträge;
- wiederkehrende Leistungen, insbesondere Grundsteuern, Zinsen, Zuschläge
- oder Rentenleistungen (…) genießen dieses Vorrecht nur für die laufenden
- Beträge und für die Rückstände aus den letzten zwei Jahren (…).
- 4. die Ansprüche aus Rechten an dem Grundstück (…)“
-
- 9
-
- b) Für die Entstehung einer öffentlichen Last bedarf es einer gesetzlichen
- Regelung, wie sie in § 12 GrStG enthalten ist. Der Begriff selbst ist nicht
- gesetzlich definiert. Es besteht aber Einigkeit darüber, dass eine öffentliche
- Last eine Abgabenverpflichtung ist, die auf öffentlichem Recht beruht, durch
- wiederkehrende oder einmalige Geldleistung zu erfüllen ist und nicht nur die
- persönliche Haftung des Schuldners, sondern auch die dingliche Haftung des
- Grundstücks voraussetzt (vgl. nur Senat, Beschluss vom 30. März 2012
- - V ZB 185/11, WM 2012, 997 Rn. 4 mwN). Öffentliche Lasten entstehen
- unabhängig davon, ob ein Zwangsversteigerungsverfahren eingeleitet worden
- ist oder nicht (BGH, Urteil vom 18. Februar 2010 - IX ZR 101/09, NJW-RR
-
- -6-
-
- 2010, 1022 Rn. 6; Senat, Beschluss vom 6. Oktober 2011 - V ZB 18/11, NJWRR 2012, 87 Rn. 18). In das Grundbuch werden sie nicht eingetragen (§ 54
- GBO). Die Grundsteuer ist die einzige Steuer, die eine solche öffentliche Last
- begründet. Grundstücksbezogene Beiträge und Abgaben sind dagegen häufig
- als öffentliche Lasten ausgestaltet. Im Bundesrecht gilt dies zum Beispiel für
- Erschließungskosten nach dem Baugesetzbuch (§ 134 Abs. 2 BauGB).
- Daneben sieht das Landesrecht öffentliche Lasten vor. Beispielsweise können
- Kommunalabgaben wie Anliegerbeiträge oder Kosten der Abwasserversorgung
- und Abwasserbeseitigung öffentliche Lasten sein (näher Senat, Beschluss vom
- 30. März 2012 - V ZB 185/11, WM 2012, 997 Rn. 5 f.; Stöber, ZVG, 20. Aufl.,
- § 10 Rn. 6.1 ff.). Auch für diese Art von öffentlichen Lasten gilt regelmäßig die
- in § 77 Abs. 2 Satz 1 AO angeordnete Duldungspflicht des Eigentümers.
- 10
-
- c) Die öffentliche Last gemäß § 12 GrStG ist wie eine Hypothek
- akzessorisch, weil sie von dem Bestehen einer Abgabenschuld abhängt
- (BVerwG, NJW 1987, 2098, 2099; NVwZ 1999, 178, 182; Troll/Eisele,
- Grundsteuergesetz, 8. Aufl., § 12 Rn. 2). Sie setzt aber nicht notwendig voraus,
- dass der Eigentümer selbst die Steuer schuldet und für diese persönlich, also
- mit seinem sonstigen Vermögen, haftet. Vielmehr bleibt sie bestehen, wenn
- das Grundstück nach Festsetzung der Steuerforderung veräußert wird, sofern
- die Forderung fällig und vollstreckbar ist. Gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AO muss
- der neue Eigentümer die Vollstreckung in das Grundstück dulden (vgl. BGH,
- Urteil vom 18. Februar 2010 - IX ZR 101/09, NJW-RR 2010, 1022
- Rn. 11; BayVGH, BayVBl 2011, 768, 769; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO,
- Stand: Oktober 2014, § 77 AO Rn. 13, jeweils mwN). Die öffentliche Last
- begründet also eine zusätzliche Sachhaftung (vgl. Troll/Eisele, aaO).
-
- 11
-
- d) Aufgrund einer öffentlichen Last gemäß § 12 GrStG kann die
- Finanzbehörde in das Grundstück vollstrecken, also insbesondere - wie hier die
-
- Zwangsversteigerung
-
- beantragen.
-
- In
-
- einem
-
- Zwangsversteigerungs-
-
- -7-
-
- verfahren werden laufende und rückständige Grundsteuerforderungen aus den
- letzten zwei Jahren privilegiert (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG) und haben bei der
- Erlösverteilung daher Vorrang gegenüber den „Rechten aus dem Grundstück“.
- Zu letzteren zählen insbesondere die Grundpfandrechte von Kreditgebern, wie
- etwa Hypotheken und Grundschulden (§ 10 Abs. 1 Nr. 4 ZVG). Ältere
- Rückstände verlieren diese Privilegierung zwar, bleiben aber eine öffentliche
- Last, die die Vollstreckung in das Grundstück ermöglicht (Senat, Beschluss vom
- 6. Oktober 2011 – V ZB 18/11, NJW-RR 2012, 87 Rn. 18).
- 12
-
- e) Während des Insolvenzverfahrens steht der Finanzbehörde aufgrund
- der öffentlichen Last ein Recht auf abgesonderte Befriedigung gemäß § 49
- InsO zu (vgl. BGH, Urteil vom 18. Februar 2010 - IX ZR 101/09, NJW-RR 2010,
- 1022 Rn. 6 mwN). Insoweit unterscheiden sich öffentliche Lasten von den
- sogenannten Privilegien der romanischen Rechtsordnungen, deren Inhaber auf
- eine vorrangige Befriedigung beschränkt sind (vgl. dazu etwa Plappert,
- Dingliche
-
- Sicherungsrechte
-
- in
-
- der
-
- Insolvenz,
-
- 2008,
-
- S. 153 ff.;
-
- Staudinger/Mansel, BGB [2015], Art. 43 EGBGB Rn. 671 ff.) und die nicht unter
- Art. 5 EuInsVO fallen sollen (so Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EUÜbereinkommen über Insolvenzverfahren, 1996, Nr. 102, abgedruckt u.a. in
- Stoll, Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EU-Übereinkommens über
- Insolvenzverfahren).
- 13
-
- 4. Ob die öffentliche Last gemäß § 12 GrStG als dingliches Recht im
- Sinne von Art. 5 Abs. 1 EuInsVO einzuordnen ist, lässt sich nicht mit der für
- eine Entscheidung durch den Senat erforderlichen Gewissheit beantworten (vgl.
- EuGH, Slg. 1982, 3415 Rn. 16).
-
- 14
-
- a) Über die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 EuInsVO besteht in der
- Rechtsliteratur
-
- keine
-
- Einigkeit.
-
- Teilweise
-
- wird
-
- die
-
- Bestimmung
-
- als
-
- Kollisionsnorm verstanden. Im Ergebnis soll daher die lex rei sitae - hier also
- das deutsche Recht - darüber entscheiden, ob ein dingliches Recht vorliegt
-
- -8-
-
- oder nicht (vgl. etwa Paulus, EuInsVO, 4. Aufl., Art. 5 Rn. 7; DuursmaKepplinger in Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky, EuInsVO, Art. 5
- Rn. 51). Überwiegend wird dagegen angenommen, dass der Begriff des
- dinglichen Rechts autonom auszulegen sei (vgl. nur MünchKomm-BGB/Kindler,
- 6. Aufl., Art. 5 EuInsVO Rn. 4; Rauscher/Mäsch, EuZPR/EuIPR, Art. 5 EGInsVO Rn. 7; FK-InsO/Wenner/Schuster, 7. Aufl., Art. 5 EuInsVO Rn. 2 mwN;
- Wenner in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, 9. Aufl.,
- Kap. 20 Rn. 295 mwN). Der erläuternde Bericht ist insoweit nicht eindeutig.
- Einerseits soll in der Regel die lex rei sitae über die Einordnung als dingliches
- Recht bestimmen (Virgós/Schmit, aaO, Nr. 100), andererseits soll Art. 5 Abs. 1
- EuInsVO aber nicht unangemessen weit ausgelegt werden (Virgós/Schmit,
- aaO, Nr. 102).
- 15
-
- b) Der vorlegende Senat geht jedenfalls davon aus, dass Art. 5 Abs. 1
- EuInsVO nicht allein deshalb anwendbar ist, weil das Recht nach der lex rei
- sitae als dinglich anzusehen ist. Vielmehr dürften Art. 5 Abs. 2 EuInsVO
- eigenständige und autonom auszulegende Vorgaben für die Auslegung von Art.
- 5 Abs. 1 EuInsVO zu entnehmen sein (in diesem Sinne auch Virgós/Schmit,
- aaO, Nr. 103; Huber, ZZP 114 (2001), 133, 154 f.).
-
- 16
-
- aa) Dem erläuternden Bericht zufolge muss ein dingliches Recht
- ausgehend von der Auflistung des Art. 5 Abs. 2 EuInsVO und dem Verständnis
- eines dinglichen Rechts nach der EuGVVO zwei zentrale Eigenschaften
- aufweisen (vgl. Virgós/Schmit, aaO, Nr. 103):
-
- 17
-
- (1) Es muss direkt und unmittelbar an die Sache selbst gebunden sein,
- und zwar unabhängig von der Frage, zu wessen Vermögen die betreffende
- Sache gehört, und unabhängig von dem Verhältnis des Rechtsinhabers zu
- einer anderen Person.
-
- -9-
-
- 18
-
- (2) Weiter muss ein dingliches Recht absoluten Charakter haben. Dies
- bedeutet, dass es der Rechtsinhaber gegen jedermann, der dieses Recht ohne
- seine Zustimmung missachtet oder beeinträchtigt, einklagen kann, dass das
- dingliche Recht bei Veräußerung der Sache an Dritte bestehen bleibt und dass
- das
-
- Recht
-
- auch
-
- bei
-
- Einzelrechtsverfolgung
-
- durch
-
- Dritte
-
- und
-
- bei
-
- Gesamtverfahren (durch die damit verbundene Absonderung oder die
- individuelle Befriedigung) bestehen bleibt.
- 19
-
- bb) Diese Anforderungen erfüllt eine Grundsteuerforderung, die kraft
- Gesetzes als öffentliche Last auf dem Grundstück ruht (§ 12 GrStG). Sie führt
- zu einer Haftung des Grundstücks, die bei dessen Veräußerung bestehen
- bleibt, Dritten entgegengehalten werden kann und in der Insolvenz ein
- Absonderungsrecht begründet.
-
- 20
-
- c) Es bedarf jedoch der Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen
- Union, ob dieses Ergebnis mit dem Zweck von Art. 5 EuInsVO und dem
- Gesamtkonzept der Europäischen Insolvenzverordnung zu vereinbaren ist.
-
- 21
-
- aa) Das Grundziel der von dem Insolvenzstatut abweichenden
- Anknüpfung dinglicher Rechte in der Verordnung ist die Gewährleistung von
- Vertrauensschutz und Rechtssicherheit (24. Erwägungsgrund). Bei dinglichen
- Rechten besteht hierfür ein besonderes Bedürfnis, da diese für die Gewährung
- von Krediten von erheblicher Bedeutung sind. Deshalb soll sich ihre
- Begründung, Gültigkeit und Tragweite nach dem Recht des Belegenheitsorts
- richten; der Inhaber eines Aus- und Absonderungsrechts soll sein Recht an
- dem
-
- Sicherungsgegenstand
-
- weiter
-
- geltend
-
- machen
-
- können
-
- (25. Erwägungsgrund). Der erläuternde Bericht hebt hervor, dass es mit Hilfe
- dinglicher Rechte möglich sei, Kredite zu erlangen, die man ohne diese Art von
- Garantien nicht eingeräumt bekäme (vgl. Virgós/Schmit, aaO, Nr. 97).
-
- - 10 -
-
- 22
-
- bb) Die Interessen öffentlicher Gläubiger - hier der Finanzbehörde unterscheiden sich von denjenigen privater Kreditgläubiger in wesentlichen
- Punkten. In gewisser Weise vertraut allerdings auch die Finanzbehörde auf die
- Sicherung durch die öffentliche Last, die eine wesentliche Vereinfachung der
- Verwaltung bewirkt. Beispielsweise muss sie bei einer Stundung oder
- Aussetzung der Vollziehung offener Grundsteuerforderungen nicht prüfen, ob
- der Anspruch gefährdet ist. Wären Grundsteuerforderungen nicht gesichert,
- müsste die Finanzbehörde in solchen Fällen die Leistung von Sicherheiten
- verlangen (vgl. BT-Drucks. 6/3418, S. 82). Gleichwohl liegt der öffentlichen Last
- keine Kreditgewährung zugrunde, deren Bedingungen typischerweise in dem
- schutzwürdigen Vertrauen auf den Fortbestand der Grundpfandrechte in der
- Insolvenz des Schuldners vereinbart werden. Weil die öffentliche Last in einem
- deutschen Zwangsversteigerungsverfahren den Rechten der Kreditgläubiger
- jedenfalls teilweise im Rang vorgeht, bewirkt sie sogar eine Schlechterstellung
- der Kreditgläubiger, deren Schutz Art. 5 EuInsVO dienen soll.
-
- 23
-
- cc)
-
- Zu
-
- berücksichtigen
-
- ist
-
- schließlich,
-
- dass
-
- aufgrund
-
- des
-
- Ausnahmecharakters des Art. 5 EuInsVO eine enge Auslegung der Norm
- geboten ist (Virgós/Schmit, aaO, Nr. 102). Eine weite Auslegung, die die lex rei
- sitae in weitem Umfang berücksichtigte, könnte Sanierungsbemühungen
- ausländischer
-
- Insolvenzverwalter
-
- erschweren
-
- (vgl.
-
- Wenner
-
- in
-
- Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, 9. Aufl., Kap. 20
- Rn. 294).
- IV.
- 24
-
- Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich.
-
- 25
-
- 1. Ist die öffentliche Last ein dingliches Recht im Sinne des europäischen
- Insolvenzrechts, muss die Rechtsbeschwerde zurückgewiesen werden.
-
- - 11 -
-
- 26
-
- a) Die öffentliche Last entstand, wie es Art. 5 Abs. 1 EUInsVO
- voraussetzt (vgl. Virgós/Schmit, aaO, Nr. 96), jedenfalls überwiegend vor der
- Eröffnung des „redressement judiciaire“. Die Steuer entsteht zu Beginn des
- Jahres (§ 9 Abs. 2 GrStG). Selbst wenn die auf die Zeit nach der
- Verfahrenseröffnung
-
- entfallenden
-
- Steuern
-
- kein
-
- dingliches
-
- Recht
-
- mehr
-
- begründen sollten, wären die Forderungen aus der Zeit vom 1. Oktober 2012
- bis zum 5. Mai 2013 vor Verfahrenseröffnung entstanden.
- 27
-
- b) Als Rechtsfolge ließe die Eröffnung des „redressement judiciaire“ die
- öffentliche
-
- Last
-
- gemäß
-
- Art.
-
- 5
-
- Abs.
-
- 1
-
- EuInsVO
-
- unberührt.
-
- Ob
-
- Vollstreckungsbeschränkungen nach dem Recht des Belegenheitsortes zu
- berücksichtigen sind, oder ob Art. 5 Abs. 1 EuInsVO eine Sachnorm enthält und
- das dingliche Recht daher von der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens
- gänzlich unbeeinträchtigt bleibt, ist zwar umstritten (vgl. nur MünchKommBGB/Kindler, 6. Aufl., Art. 5 EuInsVO Rn. 15 ff. mwN), hier aber unerheblich.
- Denn das deutsche Insolvenzrecht sieht keine Einschränkungen für die
- Vollstreckung, sondern ein Recht auf abgesonderte Befriedigung gemäß
- § 49 InsO vor.
- 28
-
- c) Ohne Erfolg rügt die Schuldnerin, der Antrag auf Anordnung der
- Zwangsversteigerung
-
- sei
-
- dem
-
- französischen
-
- Insolvenzverwalter
-
- nicht
-
- bekanntgegeben worden. Ob eine solche Bekanntgabe erforderlich ist, richtet
- sich nach deutschem Verfahrensrecht als der lex fori. Hiernach ist die
- Bekanntgabe des Antrags der Finanzbehörde an den Schuldner bzw. an den
- Insolvenzverwalter kein Vollstreckungserfordernis und daher ohne Bedeutung
- für eine wirksame Anordnung der Zwangsversteigerung (vgl. Stöber, ZVG,
- 20. Aufl., § 15 Rn. 34.4 a.E.; BFHE 158, 310, hierzu BVerfG, KKZ 1991, 90).
- 29
-
- d) Ob im Übrigen die Voraussetzungen für den Beginn der Zwangsvollstreckung vorliegen, hat das Vollstreckungsgericht bei der Beitreibung von
- Steuerschulden (anders als bei der Vollstreckung von Urteilen) nicht zu prüfen.
-
- - 12 -
-
- Dies ist vielmehr Aufgabe der Finanzbehörde (vgl. Senat, Beschluss vom
- 14. Juli 1951 - V ZB 4/51, BGHZ 3, 140, 144 f.). Zuständige Behörde ist nach
- dem
-
- niedersächsischen
-
- Verwaltungsvollstreckungsgesetz
-
- (NVwVG)
-
- die
-
- Gemeinde (§ 6 Abs. 1 NVwVG). Bestätigt diese - wie hier - in ihrem Antrag,
- dass die Voraussetzungen für die Vollstreckung vorliegen, sind die Gerichte
- daran gebunden (§ 58 Abs. 3 Satz 2 und 3 NVwVG). Insbesondere darf das
- Vollstreckungsgericht nicht prüfen, ob ein Duldungsbescheid gegen den
- ausländischen Insolvenzverwalter erforderlich und ob dieser ergangen ist (dazu
- MünchKomm-InsO/Ganter, 3. Aufl., § 49 Rn. 53). Die Schuldnerin (bzw. der
- Insolvenzverwalter) kann insoweit Rechtsbehelfe vor den Finanzgerichten
- ergreifen (vgl. BFHE 152, 53; 158, 310).
- 30
-
- e) Schließlich ist es unerheblich, dass die Anordnung nach Eröffnung des
- „redressement judiciaire“ der Schuldnerin und nicht dem Insolvenzverwalter
- zugestellt worden ist. Selbst wenn die Zustellung an den Insolvenzverwalter
- erforderlich sein sollte, stellt dies jedenfalls keinen Grund für eine Aufhebung
- der Anordnung dar.
-
- 31
-
- 2. Ist die öffentliche Last dagegen kein dingliches Recht im Sinne von
- Art. 5 Abs. 1 EuInsVO, hat die Rechtsbeschwerde Erfolg. Die Anordnung der
- Zwangsversteigerung ist aufzuheben und der Versteigerungsvermerk im
- Grundbuch zu löschen. Denn nach dem gemäß Art. 4 Abs. 1 EuInsVO
- maßgeblichen französischen Insolvenzstatut begründet das Verfahren des
-
- - 13 -
-
- „redressement
-
- judiciaire“
-
- -
-
- wie
-
- ausgeführt
-
- -
-
- ein
-
- allgemeines
-
- Vollstreckungsverbot (Art. L 631-14 Abs. 1 i.V.m. Art. L 622-21 Abs. 2 Code de
- Commerce).
-
- Stresemann
-
- Czub
- Weinland
-
- Brückner
- Kazele
-
- Vorinstanzen:
- AG Burgwedel, Entscheidung vom 23.10.2013 - 6 K 16/13 LG Hannover, Entscheidung vom 07.02.2014 - 4 T 52/13 -
-
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