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231 lines
11 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 212/12
  4. vom
  5. 26. September 2013
  6. in der Zurückschiebungshaftsache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. FamFG § 419 Abs. 1 Satz 1
  14. Verständigungsschwierigkeiten mit dem Betroffenen rechtfertigen ebenso wie die
  15. Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage nicht die Bestellung eines Verfahrenspflegers.
  16. GG Art. 103 Abs. 1
  17. Ist dem Verfahrenspfleger vor seiner Teilnahme an der Anhörung des Betroffenen ein
  18. Haftantrag übermittelt worden, ist der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör auch dann gewahrt, wenn ihm der Haftantrag nicht ausgehändigt wurde.
  19. BGH, Beschluss vom 26. September 2013 - V ZB 212/12 - LG Kaiserslautern
  20. AG Kaiserslautern
  21. -2-
  22. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. September 2013 durch die
  23. Vorsitzende
  24. Richterin
  25. Dr. Stresemann
  26. und
  27. die
  28. Richter
  29. Dr. Lemke,
  30. Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, Dr. Czub und Dr. Kazele
  31. beschlossen:
  32. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass
  33. der
  34. Beschluss
  35. des
  36. Amtsgerichts
  37. Kaiserslautern
  38. vom
  39. 30. Oktober 2012 ihn bis zum 5. November 2012 in seinen Rechten verletzt hat. Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird zurückgewiesen.
  40. Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur
  41. zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen
  42. des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Freistaat Sachsen
  43. zu 60 % auferlegt. Im Übrigen findet eine Auslagenerstattung nicht
  44. statt.
  45. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  46. 3.000 €.
  47. - 3 -
  48. Gründe:
  49. I.
  50. 1
  51. Der Betroffene ist tunesischer oder libyscher Staatsangehöriger und
  52. wurde - nach Ablehnung seines Asylantrages - am 21. Juni 2012 nach Italien
  53. abgeschoben. Am 29. Oktober 2012 wurde er in Kaiserslautern festgenommen.
  54. 2
  55. Auf Antrag der beteiligten Behörde vom 30. Oktober 2012 hat das Amtsgericht nach Anhörung des Betroffenen mit Beschluss vom gleichen Tage Abschiebungshaft bis längstens 22. Januar 2013 angeordnet.
  56. 3
  57. Das Landgericht hat, nachdem es dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger bestellt und ihn durch ein beauftragtes Mitglied der Kammer angehört
  58. hat, mit Beschluss vom 5. November 2012 die Beschwerde zurückgewiesen.
  59. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des - am 9. November 2012 aus
  60. der Haft entlassenen - Betroffenen, mit der er die Feststellung der Verletzung
  61. seiner Rechte erreichen will.
  62. II.
  63. 4
  64. Das Beschwerdegericht meint, der Haftantrag sei zulässig, insbesondere
  65. von der zuständigen Behörde gestellt. Auch lägen die Voraussetzungen für die
  66. Anordnung von Sicherungshaft vor. Die Haftanordnung sei dem Grunde und der
  67. Dauer nach verhältnismäßig.
  68. III.
  69. 5
  70. Die Rechtsbeschwerde ist nach Erledigung der Hauptsache mit dem
  71. Feststellungsantrag analog § 62 FamFG ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3
  72. Nr. 3 FamFG statthaft (vgl. nur Senat, Beschluss vom 29. April 2010
  73. - 4 -
  74. - V ZB 218/09, InfAuslR 2010, 359, 360) sowie form- und fristgerecht gemäß
  75. § 71 FamFG eingelegt. Sie ist teilweise begründet.
  76. 6
  77. 1. Der Betroffene ist durch den die Haft anordnenden Beschluss des
  78. Amtsgerichts in seinen Rechten verletzt worden, weil ihm der Haftantrag nicht
  79. zu Beginn der Anhörung ausgehändigt worden ist. Zwar kann der Antrag einem
  80. Betroffenen erst zu Beginn der Anhörung eröffnet werden, wenn er einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betrifft, zu welchem der Betroffene auch
  81. unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne weiteres auskunftsfähig ist. Daraus folgt jedoch nicht, dass sich der Haftrichter in einem solchen
  82. Fall darauf beschränken darf, den Inhalt des Haftantrags mündlich vorzutragen.
  83. Vielmehr muss dem Betroffenen in jedem Fall eine Ablichtung des Antrags ausgehändigt, erforderlichenfalls (mündlich) übersetzt und dies in dem Anhörungsprotokoll oder an einer anderen Aktenstelle schriftlich dokumentiert werden
  84. (Senat, Beschluss vom 14. Juni 2012 - V ZB 284/11, InfAuslR 2012, 369 Rn. 9;
  85. Beschluss vom 6. Dezember 2012 - V ZB 142/12, InfAuslR 2013, 157 Rn. 5).
  86. An der Aushändigung einer Ablichtung des Haftantrages fehlt es hier. Dem Protokoll über die Anhörung des Betroffenen durch das Amtsgericht ist nur zu entnehmen, dass der Antrag dem Betroffenen eröffnet wurde.
  87. 7
  88. 2. Unbegründet ist die Rechtsbeschwerde, soweit der Betroffene festgestellt wissen will, dass auch die Entscheidung des Landgerichts ihn in seinen
  89. Rechten verletzt hat. Der Verfahrensfehler ist im Beschwerdeverfahren - mit
  90. Wirkung für die Zukunft - geheilt worden, da das Beschwerdegericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger bestellt hat, diesem eine Ablichtung des
  91. Haftantrages ausgehändigt und der Betroffene in dessen Anwesenheit durch
  92. das Beschwerdegericht erneut angehört worden ist (vgl. Senat, Beschluss vom
  93. 30. März 2012 - V ZB 59/12, juris Rn. 12; Beschluss vom 6. Dezember 2012
  94. - V ZB 142/12, InfAuslR 2013, 157 Rn. 7).
  95. - 5 -
  96. 8
  97. a) Das Beschwerdegericht hat dem Betroffenen auf der Grundlage von
  98. § 419 Abs. 1 Satz 1 FamFG einen Rechtsanwalt als Verfahrenspfleger bestellt.
  99. Die Voraussetzungen für eine derartige Bestellung lagen allerdings nicht vor.
  100. 9
  101. Nach § 419 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat die Bestellung eines Verfahrenspflegers zu erfolgen, wenn sie zur Wahrnehmung der Interessen des Betroffenen in dem Verfahren erforderlich ist. Anders als in Unterbringungs- und Betreuungssachen kommt der Bestellung eines Verfahrenspflegers in Freiheitsentziehungssachen ein Ausnahmecharakter zu (BT-Drucks. 16/6308, S. 292).
  102. In Unterbringungs- und Betreuungssachen stehen Maßnahmen in Rede, die
  103. wegen einer psychischen Erkrankung oder Behinderung des Betroffenen angeordnet werden sollen. Da der Gesundheitszustand des Betroffenen zugleich
  104. seine Fähigkeit zur Wahrnehmung seiner Interessen in dem Verfahren beeinträchtigen wird, ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers erforderlich. Eine
  105. krankhafte Störung der Fähigkeit des Betroffenen zur eigenverantwortlichen
  106. Wahrnehmung der Interessen besteht in Freiheitsentziehungssachen in der
  107. Regel nicht (vgl. Keidel/Budde, FamFG, 17. Aufl., § 419 Rn. 4 unter Hinweis auf
  108. BT-Drucks. 16/6308, S. 291). Der Zusammenhang der Erforderlichkeit der Bestellung eines Verfahrenspflegers mit dem Gesundheitszustand des Betroffenen
  109. findet seinen Ausdruck auch in dem Regelbeispiel des § 419 Abs. 1 Satz 2
  110. FamFG. Danach ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers erforderlich, wenn
  111. von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen nach § 420 Abs. 2 FamFG
  112. abgesehen werden soll. In diesem Fall kann die persönliche Anhörung des Betroffenen unterbleiben, wenn von ihr erhebliche Nachteile für dessen Gesundheit zu besorgen sind oder wenn er an einer übertragbaren Krankheit leidet.
  113. Dem Regelbeispiel gleichzustellen sind Fälle, in denen dem Betroffenen aus
  114. gesundheitlichen Gründen die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Interessenwahrnehmung fehlt.
  115. - 6 -
  116. 10
  117. Bloße sprachliche Verständigungsschwierigkeiten rechtfertigen daher
  118. noch nicht die Bestellung eines Verfahrenspflegers (Keidel/Budde, FamFG,
  119. 17. Aufl., § 419 Rn. 6). Macht die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die
  120. Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich, so ist dem Betroffenen auf
  121. seinen Antrag hin nach § 78 Abs. 2 FamFG ein Rechtsanwalt beizuordnen.
  122. Dabei kommt es nicht nur auf die objektiven Umstände, sondern auch auf die
  123. subjektiven Fähigkeiten des Betroffenen an. Dem unbemittelten Betroffenen ist
  124. deshalb ein Rechtsanwalt beizuordnen, wenn ein bemittelter Betroffener in seiner Lage vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner
  125. Interessen beauftragt hätte (Senat, Beschluss vom 28. Februar 2013
  126. - V ZB 138/12, InfAuslR 2013, 287 Rn. 14 mwN). Allerdings führt das Fehlen
  127. der Voraussetzungen des § 419 Abs. 1 FamFG nicht dazu, dass die Bestellung
  128. des Verfahrenspflegers unwirksam ist. Er ist vielmehr durch seine Bestellung
  129. als Beteiligter zum Verfahren hinzugezogen worden (§ 418 Abs. 2 FamFG).
  130. 11
  131. b) Die Aufgabe eines Verfahrenspflegers besteht darin, die verfahrensmäßigen Rechte des Betroffenen zur Geltung zu bringen; dazu gehört insbesondere der Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs
  132. (BGH, Urteil vom 22. Juli 2009 - XII ZR 77/06, BGHZ 182, 116 Rn. 45). Dem
  133. Betroffenen soll eine Person zur Seite gestellt werden, die aus der objektiven
  134. Sicht eines Dritten dafür Sorge trägt, dass seine Vorstellungen und Interessen
  135. in dem Verfahren sachgerecht zum Ausdruck gebracht werden können (vgl.
  136. Keidel/Budde, FamFG, 17. Aufl., § 419 Rn. 2). Dies rechtfertigt es, von einer
  137. Heilung einer verfahrensfehlerhaften Anhörung des Amtsgerichts auszugehen,
  138. wenn das Beschwerdegericht - wie vorliegend geschehen - dem Verfahrenspfleger den Haftantrag übermittelt und er an der erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren teilnimmt. Damit ist die sachgerechte Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs durch den Betroffenen gewahrt.
  139. - 7 -
  140. 12
  141. c) Die von dem Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 420
  142. Abs. 1 FamFG durchgeführte Anhörung des Betroffenen ist schließlich ordnungsgemäß erfolgt. Sie kann unter den - hier gegebenen - Voraussetzungen
  143. des § 375a Abs. 1a ZPO auch in Freiheitsentziehungssachen durch ein Mitglied
  144. des Beschwerdegerichts als beauftragten Richter erfolgen (Senat, Beschluss
  145. vom 17. Juni 2010 - V ZB 9/10, InfAuslR 2010, 384 Rn. 13 f.; Beschluss vom
  146. 17. Juni 2010 - V ZB 127/10, juris Rn. 12 f. insoweit nicht in NVwZ 2010, 1318
  147. abgedruckt).
  148. 13
  149. 3. Soweit die Rechtsbeschwerde auf die Schriftsätze vom 8. und 9. November 2012 verweist, in denen die Zurückschiebung nach Italien wegen der
  150. humanitären Situation der Flüchtlinge und der fehlenden Gewährleistung eines
  151. fairen Asylverfahrens als unzulässig dargestellt wird, können diese bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt werden. Diese sind dem Beschwerdegericht zu einem Zeitpunkt übermittelt worden, als es in der Sache schon entschieden hatte. Damit handelt es sich bei der Darstellung der tatsächlichen
  152. Verhältnisse in Italien um einen neuen Vortrag, der nach § 74 Abs. 3 Satz 4
  153. FamFG i.V.m. § 559 Abs. 1 ZPO nicht der Beurteilung durch das Rechtsbeschwerdegericht unterliegt.
  154. IV.
  155. 14
  156. Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430
  157. FamFG, Art. 5 EMRK analog, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die
  158. beteiligte Behörde zur Erstattung eines Teils der notwendigen Auslagen des
  159. - 8 -
  160. Betroffenen zu verpflichten. Die Kostenquote entspricht dem Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen des Betroffenen. Die Festsetzung des Beschwerdewerts bestimmt sich nach § 128c Abs. 2 KostO, § 30 Abs. 2 KostO.
  161. Stresemann
  162. Lemke
  163. Czub
  164. Schmidt-Räntsch
  165. Kazele
  166. Vorinstanzen:
  167. AG Kaiserslautern, Entscheidung vom 30.10.2012 - 1 XIV 221/12 LG Kaiserslautern, Entscheidung vom 05.11.2012 - 1 T 207/12 -