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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. III ZR 120/99
  5. Verkündet am:
  6. 13. April 2000
  7. Freitag,
  8. Justizamtsinspektor
  9. als Urkundsbeamter
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. - 2 -
  13. Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  14. vom 13. April 2000 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Rinne und die Richter
  15. Dr. Wurm, Dr. Kapsa, Dörr und Galke
  16. für Recht erkannt:
  17. Auf die Revision des beklagten Landes wird das Urteil des
  18. 9. Zivilsenats des Kammergerichts vom 22. Januar 1999 im
  19. Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil des
  20. beklagten Landes erkannt worden ist.
  21. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten
  22. Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  23. Von Rechts wegen
  24. - 3 -
  25. Tatbestand
  26. In den frühen Morgenstunden des 21. Juli 1993 wurde in Berlin ein PkwFahrer festgenommen, der mehrere Polizeisperren durchbrochen hatte. An
  27. dem Einsatz waren zahlreiche Polizeibeamte des beklagten Landes, darunter
  28. auch der Kläger, der damals Zivilfahnder war, beteiligt. Der Kläger trug Prellungen und Schürfwunden an der Nase sowie Prellungen am rechten Brustkorb
  29. davon. Er erkrankte psychisch und wurde wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt.
  30. Wegen der erlittenen Verletzungen beansprucht der Kläger von dem
  31. beklagten Land die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes und die
  32. Feststellung der Ersatzpflicht für die ihm entstandenen materiellen Schäden. Er
  33. stützt das Schadensersatzbegehren auf Amtshaftung und hat dazu behauptet,
  34. Polizeibeamte des beklagten Landes hätten ihn bei dem Einsatz getreten und
  35. ihm dadurch die vorbeschriebenen Verletzungen zugefügt. Dies habe zu seiner
  36. psychischen Erkrankung geführt.
  37. Das Landgericht hat dem Kläger 15.000 DM nebst Zinsen zugesprochen
  38. und im übrigen die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das
  39. Berufungsgericht das beklagte Land verurteilt, an ihn 30.000 DM nebst Zinsen
  40. zu zahlen, und festgestellt, daß das beklagte Land verpflichtet sei, ihm sämtliche materiellen Schäden aus dem Vorfall vom 21. Juli 1993 zu ersetzen, soweit
  41. die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen
  42. seien oder übergingen. Die weitergehende Berufung des Klägers und die Berufung des beklagten Landes hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit
  43. - 4 -
  44. der Revision verfolgt das beklagte Land den Antrag auf vollständige Abweisung
  45. der Klage weiter.
  46. Entscheidungsgründe
  47. Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit zum
  48. Nachteil des beklagten Landes erkannt worden ist, und zur Zurückverweisung
  49. der Sache an das Berufungsgericht.
  50. I.
  51. Das Berufungsgericht hat dem Kläger einen Schadensersatzanspruch
  52. wegen Amtspflichtverletzung (§§ 839, 847 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 Satz 1
  53. GG) zugebilligt und dazu im wesentlichen ausgeführt:
  54. Der Kläger sei bei dem Einsatz vom 21. Juli 1993 von anderen Polizeibeamten getreten worden. Dadurch habe er im Gesicht und am Körper Prellungen und Schürfwunden erlitten. Die Polizeibeamten hätten dem Kläger die
  55. Verletzungen vorsätzlich zugefügt.
  56. Diese Feststellungen ergäben sich aus den - urkundenbeweislich verwerteten - Protokollen des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens über
  57. die Vernehmung der an dem Einsatz beteiligten Polizeibeamten. Einer Ver-
  58. - 5 -
  59. nehmung des Polizeibeamten S. als Zeugen habe es nicht bedurft. Denn es
  60. könne zugunsten des beklagten Landes unterstellt werden, daß dieser dann
  61. ebenso wie im Ermittlungsverfahren ausgesagt hätte.
  62. Die Körperverletzung habe zu der psychischen Erkrankung des Klägers
  63. geführt. Da eine Renten- oder Begehrensneurose nicht vorliege, sei auch diese
  64. Folge der Amtspflichtverletzung dem beklagten Land zuzurechnen.
  65. II.
  66. Das Berufungsurteil hält der rechtlichen Prüfung nicht stand.
  67. 1.
  68. Die das angefochtene Urteil tragenden Feststellungen zu einer von den
  69. Polizeibeamten des beklagten Landes begangenen Amtspflichtverletzung sind
  70. nicht frei von Verfahrensfehlern getroffen worden. Die Revision beanstandet zu
  71. Recht, daß sich das Berufungsgericht allein auf der Grundlage der Niederschriften über die Vernehmung der an dem Einsatz beteiligten Polizeibeamten
  72. davon überzeugt hat, daß der Kläger von Kollegen vorsätzlich getreten und
  73. dadurch im Gesicht sowie am Brustkorb verletzt wurde.
  74. Schriftliche Aussagen sowie Protokolle über die Aussagen von Zeugen
  75. in einem anderen Verfahren können urkundenbeweislich verwertet werden,
  76. wenn - wie es hier der Fall gewesen ist - die beweispflichtige Partei dies beantragt und die Akten des anderen Verfahrens Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren. Die Möglichkeit des Urkundenbeweises berührt jedoch nicht
  77. das Recht der Parteien, die unmittelbare Anhörung des Zeugen im anhängigen
  78. - 6 -
  79. Rechtsstreit zu beantragen. Macht eine der Parteien davon Gebrauch, so ist
  80. die Verwertung einer im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren protokollierten Aussage im Wege des Urkundenbeweises anstelle der beantragten
  81. Anhörung des Zeugen unzulässig (vgl. Senatsurteil vom 10. Juli 1997 - III ZR
  82. 69/96 = BGHR ZPO § 355 Abs. 1 Unmittelbarkeit 7; BGH, Urteile vom 13. Juni
  83. 1995 - VI ZR 233/94 = NJW 1995, 2856, 2857; vom 9. Juni 1992 - VI ZR
  84. 215/91 = NJW-RR 1992, 1214, 1215; vom 30. November 1999 - VI ZR 207/98 UA 9 f = EBE BGH 2000, 27, 29). Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht
  85. nicht beachtet.
  86. Das beklagte Land hatte im Berufungsverfahren - wie im Verfahren vor
  87. dem Landgericht - bestritten, daß es zu Fußtritten gegen den Kläger gekommen sei. Dessen Verletzungen seien darauf zurückzuführen, daß er in das Gebüsch und auf den mit Steinplatten ausgelegten Boden gefallen sei. Ferner
  88. hatte sich das beklagte Land auf seinen erstinstanzlichen Vortrag bezogen,
  89. daß - falls die Polizeibeamten tatsächlich getreten hätten - sich die Tritte gegen
  90. den Pkw-Fahrer, der festgenommen werden sollte, gerichtet hätten. Sofern der
  91. Kläger durch diese Fußtritte verletzt worden sein sollte, sei dies nur versehentlich geschehen. Zum Beweis für diese Behauptungen hatte sich das beklagte
  92. Land in zulässiger Weise auf das Zeugnis von Polizeibeamten berufen.
  93. Das Berufungsgericht hat seine Überzeugung, daß Polizeibeamte des
  94. beklagten Landes den Kläger vorsätzlich verletzt hätten, aber nur auf Urkundenbeweis, nämlich auf die Verwertung der Vernehmungsprotokolle aus dem
  95. staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, gestützt. In diesem Vorgehen
  96. liegt ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 286 ZPO sowie gegen den Grund-
  97. - 7 -
  98. satz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 355 Abs. 1 ZPO, vgl. BGH,
  99. Urteil vom 6. Juni 1988 - II ZR 332/87 = BGHR ZPO § 373 Unmittelbarkeit 1).
  100. Das Berufungsgericht ist dem Beweisantrag, den Polizeibeamten S. als
  101. Zeugen zu hören, nicht gefolgt, weil zugunsten des beklagten Landes unterstellt werden könne, daß dieser sich als Zeuge so wie im Ermittlungsverfahren
  102. geäußert hätte. Es hat damit nicht die unter Beweis gestellte Behauptung, sondern eine bestimmte Aussage des Zeugen zu dieser Behauptung unterstellt
  103. und diese Aussage, ohne den Zeugen selbst vernommen zu haben, gewürdigt.
  104. Auch das war nicht zulässig. Zwar konnte das Berufungsgericht die Aussage,
  105. die S. in dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gemacht hatte, im
  106. Wege des Urkundenbeweises verwerten. Damit konnte jedoch der Antrag des
  107. beklagten Landes, S. als Zeugen zu vernehmen, nur dann als erledigt angesehen werden, wenn es sich damit einverstanden erklärt hätte, daß in diesem
  108. Rechtsstreit der Urkundenbeweis anstelle der Zeugenvernehmung erhoben
  109. werde (vgl. BGHZ 40, 367, 374). Ein solches Einverständnis hat hier nicht vorgelegen, im Gegenteil hat das beklagte Land auf der Vernehmung des Zeugen
  110. bestanden.
  111. 2.
  112. Die gegen die Feststellung der Verletzungshandlung weiter erhobene
  113. Rüge, § 286 ZPO sei verletzt, weil sich das Berufungsgericht in Widerspruch
  114. zu Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens gesetzt habe, greift dagegen nicht
  115. durch. Von einer Begründung wird gemäß § 565 a Satz 1 ZPO abgesehen.
  116. 3.
  117. Zu Unrecht meint die Revisionserwiderung, die genannten Verfahrens-
  118. fehler könnten nicht mehr gerügt werden, weil das beklagte Land in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht der angekündigten urkundenbe-
  119. - 8 -
  120. weislichen Verwertung der in den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten
  121. enthaltenen Zeugenaussagen nicht widersprochen habe (§ 295 ZPO). Der
  122. Niederschrift über die Sitzung des Kammergerichts vom 22. Januar 1999 ist ein
  123. derartiger Hinweis nicht zu entnehmen. Der Vermerk, die Strafakten hätten
  124. vorgelegen und seien Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen, gibt
  125. für die behauptete Ankündigung nichts her. Der Senat muß deshalb davon
  126. ausgehen, daß für das beklagte Land seinerzeit nicht erkennbar war, das Berufungsgericht werde die Feststellungen zum Tathergang unter Verstoß gegen
  127. beweisrechtliche Vorschriften treffen.
  128. 4.
  129. Der Verfahrensfehler führt zur Aufhebung des Berufungsurteils. Denn
  130. der vom Berufungsgericht unzulässig übergangene Beweisantrag betraf die
  131. Feststellung der schadenstiftenden Handlung. Das Berufungsgericht wird durch
  132. Vernehmung der als Zeugen benannten Polizeibeamten den Sachverhalt in
  133. objektiver und subjektiver Hinsicht zu klären haben.
  134. III.
  135. Für das weitere Verfahren wird auf folgendes hingewiesen:
  136. 1.
  137. Die Möglichkeit eines Irrtums über das Vorliegen eines Rechtfertigungs-
  138. grundes oder eines Verbotsirrtums, die den Vorsatz ausschließen würden, liegt
  139. nach dem bisherigen Sach- und Streitstand fern. Der Hergang der Festnahme
  140. des flüchtigen Pkw-Fahrers bietet nicht den geringsten Anhalt, daß die beteiligten Polizeibeamten Fußtritte gegen den festzunehmenden Fahrer oder gar
  141. gegen den Kläger, ihren Kollegen, für erlaubt halten konnten.
  142. - 9 -
  143. 2.
  144. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Scha-
  145. denszurechnung bei psychischen Folgen - für einen kleinen Sektor gesundheitlicher Belastungen des Geschädigten - Grenzen gezogen sind: Der Schädiger muß nicht für die Folgen einstehen, die dadurch entstehen, daß die
  146. Schädigungshandlung zu einer Renten- und Begehrensneurose führt; diese
  147. Ausgrenzung betrifft die Fälle, in denen der Geschädigte den Schadensfall in
  148. dem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherung lediglich zum Anlaß nimmt, den Schwierigkeiten und Belastungen des Erwerbslebens auszuweichen. Eine weitere Begrenzung der Schadenszurechnung kommt dann in
  149. Betracht, wenn das schädigende Ereignis ganz geringfügig ist (Bagatelle) und
  150. nicht gerade eine etwa vorhandene spezielle Schadensanlage des Verletzten
  151. trifft, wenn also die psychische Reaktion des Verletzten im konkreten Fall wegen ihres groben Mißverhältnisses zum Anlaß schlechterdings nicht mehr verständlich ist (vgl. BGHZ 137, 142, 145 ff m.w.N.).
  152. a) Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei eine Bagatellverletzung
  153. verneint. Diese setzt voraus, daß es sich um vorübergehende, im Alltagsleben
  154. typische und häufig auch aus anderen Gründen als einem besonderen Schadensfall entstehende Beeinträchtigungen des Körpers oder des seelischen
  155. Wohlbefindens handelt. Es sind also Beeinträchtigungen gemeint, die sowohl
  156. von der Intensität als auch der Art der Primärverletzung her nur ganz geringfügig sind und üblicherweise den Verletzten nicht nachhaltig beeindrucken, weil
  157. er schon aufgrund des Zusammenlebens mit anderen Menschen daran gewöhnt ist, vergleichbaren Störungen seiner Befindlichkeit ausgesetzt zu sein
  158. (BGH aaO 147). Das Berufungsgericht hat zu Recht ausgeführt, daß eine solche Bagatelle nicht vorliege, weil die vom Kläger unstreitig erlittenen
  159. - 10 -
  160. Schürfwunden und Prellungen an Kopf und Brustkorb "typischerweise mit einem besonderen Schadensereignis verbunden" seien. Dem kann nicht mit der
  161. Revision entgegengehalten werden, daß die Besonderheiten des Polizeidienstes dabei vernachlässigt worden seien. Im Streitfall geht es nicht um Beeinträchtigungen, wie sie im täglichen Polizeidienst bei der Festnahme von Verdächtigen stets möglich sind und auch von dem Kläger früher klaglos "weggesteckt" wurden. Der Kläger wurde - unterstellt, die vom Berufungsgericht verfahrensfehlerhaft getroffenen Feststellungen träfen in der Sache zu - von den
  162. eigenen Kollegen körperlich mißhandelt. Das gibt dem Schadensfall das besondere, ihn aus dem alltäglichen Dienst eines Polizeibeamten deutlich hervorhebende Gepräge.
  163. Scheidet aber schon eine Bagatelle aus, kommt es nicht mehr darauf an,
  164. ob das schädigende Ereignis auf eine spezielle Schadensanlage des verletzten
  165. Klägers traf, ob also dessen psychische Reaktion wegen ihres groben Mißverhältnisses zum Anlaß nicht mehr verständlich ist.
  166. b) Der gerichtlich bestellte Sachverständige hat sich zu der Frage, ob
  167. die psychische Erkrankung des Klägers noch in Zusammenhang mit der am
  168. 21. Juli 1993 erlittenen - hier unterstellten - Mißhandlung steht, nicht klar geäußert. Einerseits soll nach seinem Gutachten die bei dem Kläger festgestellte
  169. gravierende Fixierung und Chronifizierung der seelischen Symptomatik nicht
  170. mehr als Reaktion auf dieses Ereignis angesprochen werden können. Sie soll
  171. vielmehr in Beziehung stehen zu dem auf das Ereignis folgenden Rechtsstreit
  172. im Zusammenhang mit schweren Differenzen und Auseinandersetzungen mit
  173. den Vorgesetzten. Andererseits heißt es am Schluß des Gutachtens, die eingetretene Berufsunfähigkeit sei nicht monokausal zu erklären. Eine komplexe
  174. - 11 -
  175. Ereigniskonstellation (Persönlichkeit, Unfall, Rechtsstreit) habe zu der Berufsunfähigkeit des Klägers geführt. Das Berufungsgericht wird diesen möglichen Widerspruch durch Anhörung des Sachverständigen zu klären haben.
  176. Rinne
  177. Wurm
  178. Dörr
  179. Richter am Bundesgerichtshof
  180. Dr. Kapsa ist durch Urlaub verhindert, seine Unterschrift beizufügen.
  181. Rinne
  182. Galke