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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. AnwZ (B) 80/09
  4. AnwZ (B) 112/09
  5. vom 8. Februar 2010
  6. in dem Verfahren
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. BRAO § 68 Abs. 2
  14. BRAO § 90 Abs. 1 a.F. (heute: § 112f BRAO n.F.)
  15. a) Nach § 68 Abs. 2 Satz 1 BRAO sind Teilneuwahlen des Vorstands einer Rechtsanwaltskammer nur alle zwei Jahre durchzuführen. Ein anderer Turnus ist unzulässig.
  16. b) Eine Wahl ist nur bei einem Wahlfehler für ungültig zu erklären, der auf das Wahlergebnis
  17. von Einfluss ist oder konkret und nicht nur theoretisch von Einfluss sein kann. Das ist bei
  18. einem Verstoß gegen § 68 Abs. 2 Satz 1 BRAO der Fall.
  19. c) Das Gericht darf trotz eines solchen Fehlers davon absehen, die angefochtene Wahl für
  20. ungültig zu erklären, wenn das dem wahlprüfungsrechtlichen Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs entspricht oder wenn das Interesse am Bestandsschutz des im
  21. Vertrauen auf die Gesetzmäßigkeit der Wahl gewählten Vorstands den festzustellenden
  22. Wahlfehler überwiegt.
  23. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2010 - AnwZ (B) 80/09
  24. - AnwZ (B) 112/09 - AGH Hamburg
  25. wegen Anfechtung der Vorstandswahl 2007 der Antragsgegnerin
  26. -2-
  27. Der Senat für Anwaltssachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Tolksdorf, den Richter Dr. SchmidtRäntsch, die Richterin Lohmann und die Rechtsanwälte Dr. Wüllrich und
  28. Dr. Braeuer nach mündlicher Verhandlung
  29. am 8. Februar 2010
  30. beschlossen:
  31. Der Senat beabsichtigt, die sofortigen Beschwerden der Antragsgegnerin und des Beigeladenen zu 8 gegen die Beschlüsse des
  32. II. Senats des Anwaltsgerichtshofs in der Freien und Hansestadt
  33. Hamburg vom 24. Juni 2009 und vom 3. August 2009 zurückzuweisen.
  34. Termin zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung wird von
  35. Amts wegen bestimmt werden (voraussichtlich Juli 2010).
  36. Gründe:
  37. I.
  38. 1
  39. Die Antragsteller sind im Bezirk der Antragsgegnerin als Rechtsanwälte
  40. zugelassen. Sie fechten im Wege der Wahlanfechtung die Neuwahl von neun
  41. Mitgliedern des aus 23 Mitgliedern bestehenden Vorstands der Antragsgegnerin
  42. in der Kammerversammlung am 22. Mai 2007 (fortan Vorstandswahl 2007) an.
  43. An dieser Versammlung nahmen 311 Kammermitglieder der insgesamt etwa
  44. 9.000 Rechtsanwälte teil, die der Antragsgegnerin angehören. Vor der Wahl
  45. -3-
  46. lehnte die Mehrheit der anwesenden stimmberechtigten Kammermitglieder den
  47. Antrag eines Kammermitglieds auf Absetzung der Wahl wegen Verstoßes gegen § 68 BRAO ab. Bei der daran anschließenden Wahl wurden neun Vorstandssitze wegen Ablaufs der Wahlperiode neu besetzt. Dafür standen
  48. 13 Kandidaten zur Wahl, wobei im Wege der Blockwahl durch Abgabe von
  49. höchstens neun Stimmen auf einem Stimmzettel verfahren wurde. Gewählt
  50. wurden die Beigeladenen. Die Neuwahl von nur neun Vorstandsmitgliedern
  51. geht auf ein von der Antragsgegnerin seit 1953 praktiziertes Verfahren zurück,
  52. wonach nicht alle zwei Jahre zwölf bzw. elf Mitglieder ihres Vorstands neu gewählt werden, sondern jeweils im ersten Jahr zwei, in zweiten Jahr neun, im
  53. dritten Jahr sechs und im vierten Jahr sechs Mitglieder. Dieses Verfahren steht
  54. nach Ansicht der Antragsteller im Widerspruch zu § 68 Abs. 2 BRAO. Die Antragsgegnerin hält ihr Verfahren für zulässig und meint, sie habe jedenfalls keine Möglichkeit, auf einen zweijährigen Turnus umzustellen.
  55. 2
  56. Mit den angegriffenen Beschlüssen hat der Anwaltsgerichtshof, soweit
  57. hier von Interesse, die Vorstandswahl 2007 der Antragsgegnerin für ungültig
  58. erklärt (BRAK-Mitt. 2009, 185). Dagegen wenden sich die Antragsgegnerin und
  59. der Beigeladene zu 8 mit ihren von dem Anwaltsgerichtshof zugelassenen sofortigen Beschwerden.
  60. II.
  61. 3
  62. Die gemäß § 215 Abs. 3 BRAO i.V.m. §§ 91 Abs. 6, 42 Abs. 4 BRAO
  63. a.F. (vgl. Feuerich/Weyland, BRAO, 7. Aufl., § 91 Rdn. 11 a.E.) und entsprechend § 66 VwGO zulässigen Rechtsmittel der Antragsgegnerin und des Beigeladenen können keinen Erfolg haben, soweit sie geltend machen, das praktizierte Wahlverfahren stehe mit § 68 Abs. 2 BRAO in Einklang. Der Antragsgeg-
  64. -4-
  65. nerin ist aber im Interesse eines geringstmöglichen Eingriffs in das Wahlgeschehen Gelegenheit zu geben, die fehlerhaften jährlichen Teilneuwahlen ihres
  66. Vorstands im Wege der Selbstkorrektur auf den gesetzlich vorgesehenen Turnus von zwei Jahren umzustellen.
  67. 4
  68. 1. Das von der Antragsgegnerin praktizierte Wahlverfahren ist mit § 68
  69. Abs. 2 Satz 1 BRAO nicht zu vereinbaren und unzulässig.
  70. 5
  71. a) Die Mitglieder des Vorstands einer Rechtsanwaltskammer werden
  72. nach § 68 Abs. 1 Satz 1 BRAO auf vier Jahre gewählt. Nach § 68 Abs. 2 Satz 1
  73. BRAO scheidet alle zwei Jahre die Hälfte der Mitglieder aus, bei ungerader
  74. Zahl, wie im Fall der Antragsgegnerin, beim ersten Mal die größere Zahl. Diese
  75. gesetzliche Vorgabe lässt das von der Antragsgegnerin praktizierte Verfahren
  76. schon dem Wortlaut nach nicht zu. Nach diesem Verfahren sind zwar nach Ablauf von zwei Jahren im rechnerischen Ergebnis elf bzw. zwölf Mitglieder des
  77. Vorstands neu gewählt worden. Einen solchen, wie es die Antragsgegnerin
  78. nennt, behutsamen Wechsel sieht das Gesetz aber gerade nicht vor. Es lässt
  79. mit der Formulierung "alle zwei Jahre" keinen gewissermaßen laufenden Austausch zu, sondern verlangt einen Zwei-Jahres-Turnus. Das wird schon bei einer reinen Wortlautauslegung im zweiten Halbsatz der Vorschrift deutlich, der
  80. sich mit dem Fall einer ungeraden Zahl von Vorstandsmitgliedern befasst und
  81. bestimmt, dass "beim ersten Mal" die größere Zahl neu zu wählen ist. Diese
  82. Regelung setzt - entgegen der von der Antragsgegnerin und von Professor
  83. Henssler in einem dem Senat vorgelegten Gutachten (ebenso unter Hinweis auf
  84. dieses Verfahren jetzt auch Hartung in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl., § 68
  85. Rdn. 13 ff.) vertretenen Auffassung - zwingend ein Ausscheiden der Hälfte der
  86. Mitglieder in einem Zuge voraus (so [noch] Hartung in Henssler/Prütting, BRAO,
  87. 2. Aufl., § 68 Rdn. 4; Feuerich/Weyland, aaO, § 68 Rdn. 4; Lauda in Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, § 68 BRAO Rdn. 5).
  88. -5-
  89. 6
  90. b) Das Ergebnis der Wortlautauslegung wird durch eine an Entstehungsgeschichte (unten aa), Zweck (unten bb) und Systematik (unten cc) der Vorschrift ausgerichtete Auslegung bestätigt.
  91. 7
  92. aa) § 68 Abs. 2 Satz 1 BRAO geht auf § 44 Abs. 1 Satz 1 der Rechtsanwaltordnung vom 1. Juli 1878 (RGBl. S. 177) zurück (Begründung des Regierungsentwurfs einer BRAO in BT-Drucks. III/120 S. 85 zu § 81). Diese Vorschrift
  93. lautete:
  94. "Die Wahl des Vorstands erfolgt auf vier Jahre, jedoch mit der
  95. Maßgabe, daß alle zwei Jahre die Hälfte der Mitglieder, bei ungerader Zahl zum ersten Male die größere Zahl ausscheidet."
  96. 8
  97. Eine in der Struktur ähnliche Regelung hatte schon § 13 Abs. 1 des ersten Entwurfs einer Deutschen Rechtsanwaltsordnung von 1872 (abgedruckt bei
  98. Schubert, Entstehung und Quellen der Rechtsanwaltsordnung von 1878 [1985],
  99. S. 77 ff.) vorgesehen. Nach ihr sollten allerdings jährlich wechselnd vier oder
  100. fünf von neun Vorstandsmitgliedern ausscheiden. Der Vorschlag setzte sich
  101. nicht durch. Der von dem Reichsjustizamt vorgelegte Entwurf einer Rechtsanwaltsordnung vom 24. Oktober 1877 (Drucksache des Bundesrats Nr. 100, abgedruckt bei Schubert, aaO, S. 161) sah in § 40 Abs. 1 eine feste Amtszeit der
  102. Vorstandsmitglieder von zwei Jahren vor. In den Beratungen im Bundesrat haben sich die Länder mit der Reichsregierung - in Anlehnung an § 13 des Entwurfs von 1872 - auf eine Amtszeit von vier Jahren mit einem Ausscheiden der
  103. Hälfte des Vorstands alle zwei Jahre verständigt. Ziel dieser Änderung war
  104. nach einem Bericht des hanseatischen Gesandten Krüger vom 4./5. Dezember
  105. 1877 über die Beratungen im Bundesrat, "ein zu oftmaliges Wählen und das
  106. damit verbundene Parteitreiben zu vermeiden" (abgedruckt bei Schubert, aaO,
  107. S. 182). Der historische Gesetzgeber hat sich damit bewusst gegen ein jährliches Ausscheiden von Teilen des Vorstands und für einen zweijährigen Turnus
  108. -6-
  109. entschieden. Daran knüpft der Bundesgesetzgeber an. "Ein Wechsel nach einer
  110. allzu kurzen Amtszeit", so heißt es in der Entwurfsbegründung der Bundesregierung (BT-Drucks. III/120 S. 85 zu § 81), "soll vermieden werden, weil darunter die Führung der Geschäfte leiden könnte. Ebenso könnte die Arbeit des
  111. Vorstands erheblich gestört oder gar unterbrochen werden, wenn am Ende der
  112. Wahlperiode alle Mitglieder des Vorstands gleichzeitig ausscheiden würden."
  113. Der Bundesgesetzgeber versprach sich allerdings von einer Teilneuwahl des
  114. Vorstands alle zwei Jahre neben der nicht zu häufig unterbrochenen Kontinuität
  115. der Vorstandsarbeit auch eine bessere Legitimierung der Vorstandsmitglieder.
  116. Das ändert aber an seiner Entscheidung für einen Turnus von zwei Jahren
  117. nichts.
  118. 9
  119. bb) Gegen die Auffassung der Antragsgegnerin spricht auch der Zweck
  120. der Vorschrift. Sie soll mehreren, in gewissem Umfang auch divergierenden
  121. Zielen gerecht werden. Einerseits soll die Vorstandsarbeit nicht durch allzu häufige Neuwahlen gestört werden. Andererseits soll die Amtszeit des gesamten
  122. Vorstands nicht vier Jahre betragen, um dem Anliegen einer besseren Legitimierung durch die Mitglieder der Kammer Rechnung zu tragen. Auch soll ein
  123. abrupter Wechsel nach Ablauf der Amtszeit vermieden werden. Diese Ziele lassen sich nach der Einschätzung des Bundesgesetzgebers sämtlich durch die
  124. Neuwahl der Hälfte des Vorstands, bei ungerader Zahl von Vorstandsmitgliedern zuerst der größeren und dann der kleineren Zahl, in einem zweijährigen
  125. Turnus verwirklichen. Dieses Ergebnis würde zu einem entscheidenden Teil
  126. verfehlt, wenn entgegen der Entscheidung des Gesetzgebers jedes Jahr unterschiedlich große Teile des Vorstands neu gewählt werden. Es mag dahingestellt
  127. bleiben, ob die demokratische Legitimierung dadurch intensiver würde. Verfehlt
  128. würde jedenfalls das dem Gesetzgeber ebenso wichtige, für die Bemessung der
  129. Amtszeit und die Festlegung auf einen Zwei-Jahres-Turnus zudem ausschlaggebende Ziel, eine Störung der Vorstandsarbeit durch allzu häufige Neuwahlen
  130. -7-
  131. des Vorstands zu vermeiden. Der Vorstand soll nach der Entscheidung des Gesetzgebers eben nicht jedes Jahr in kleinen Teilen, sondern nur alle zwei Jahre,
  132. dann aber je zur Hälfte neu gewählt werden. Diese Entscheidung ist entgegen
  133. dem Gutachten Henssler eindeutig.
  134. 10
  135. cc) Sie hat ihren Ausdruck auch nicht nur in der Beschreibung des Turnus in § 68 Abs. 2 Satz 1 BRAO ("alle zwei Jahre"), sondern auch in den mit ihr
  136. in systematischem Zusammenhang stehenden Regelungen in § 68 Abs. 2
  137. Satz 2 BRAO einerseits und § 69 Abs. 3 Satz 1 BRAO andererseits gefunden.
  138. Nach der ersten Norm werden die zum ersten Male ausscheidenden Mitglieder
  139. des Vorstands durch das Los bestimmt. Mit diesem Losverfahren werden bei
  140. der Erstbestellung des Vorstands diejenigen Mitglieder ermittelt, deren Amtszeit
  141. nicht vier, sondern nur zwei Jahre betragen soll, um in den in Satz 1 der Vorschrift festgelegten Zwei-Jahres-Turnus zu gelangen. Nach der zweiten Norm
  142. wird bei vorzeitigem Ausscheiden eines Vorstandsmitglieds zwar ein Ersatzmitglied gewählt, aber nur für den Rest seiner Amtszeit, um den Zwei-JahresTurnus nicht zu verlassen.
  143. 11
  144. c) Für dieses Verständnis des § 68 Abs. 2 BRAO spricht schließlich
  145. auch, dass eine entsprechende Auslegung des § 21b Abs. 4 GVG, der für die
  146. Mitglieder des Gerichtspräsidiums eine nahezu wortgleiche Regelung trifft, allgemeiner Meinung entspricht. Nach § 21b Abs. 4 Satz 1 GVG werden die Mitglieder des Präsidiums auf vier Jahre gewählt. Nach § 21b Abs. 4 Satz 2 GVG
  147. scheidet alle zwei Jahre die Hälfte davon aus. Wie in § 68 Abs. 2 Satz 2 BRAO
  148. vorgesehen, werden die zum ersten Mal ausscheidenden Mitglieder durch das
  149. Los bestimmt, § 21b Abs. 4 Satz 3 GVG. Mit der Regelung verfolgt der Gesetzgeber das gleiche Ziel wie mit § 68 Abs. 2 BRAO. Es soll einerseits die Kontinuität der Arbeit des Präsidiums, anderseits aber auch eine hinreichende demokratische Legitimierung seiner Mitglieder sichergestellt werden (Kis-
  150. -8-
  151. sel/Mayer, GVG, 5. Aufl., § 21b Rdn. 13). Niemand hat bisher in Zweifel gezogen, dass die Regelung einen Zwei-Jahres-Turnus vorgibt und deshalb (nur)
  152. alle zwei Jahre Wahlen zum Präsidium stattzufinden haben (BGHZ 112, 330,
  153. 336; OLG Frankfurt am Main DRiZ 2008, 184, 185; Kissel/Mayer, aaO). Ein
  154. Grund, das bei § 68 Abs. 2 BRAO anders zu sehen, ist nicht ersichtlich.
  155. 12
  156. d) Die Handhabung der Antragsgegnerin lässt sich nicht mit der in der
  157. Ursprungsfassung der Bundesrechtsanwaltsordnung (vom 1. August 1959,
  158. BGBl. I S. 565) in § 214 BRAO a.F. vorgesehenen Übergangsvorschrift für die
  159. bei Inkrafttreten der Bundesrechtsanwaltsordnung am 1. Oktober 1959 (§ 237
  160. Abs. 1 BRAO in der Fassung von 1959) amtierenden Vorstandsmitglieder rechtfertigen (anders aber jetzt Hartung in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl., § 68
  161. Rdn. 14 ohne nähere Begründung). Danach blieben die seinerzeit amtierenden
  162. Vorstandsmitglieder bis zum Ende ihrer Amtszeit im Amt. An der Geltung des
  163. Zwei-Jahres-Turnus änderte diese Regelung nichts. Sie hinderte die Rechtsanwaltskammern auch nicht daran, diesen Turnus so einzuhalten, wie es das Gesetz verlangt. Die Altvorstände blieben zwar ohne Neuwahl Mitglieder des
  164. Kammervorstands. Für sie war aber ebenso wie für die neu gewählten Mitglieder des Kammervorstands nach § 68 Abs. 2 Satz 2 BRAO durch Los zu
  165. bestimmen, wer nach zwei Jahren auszuscheiden hatte. War die Amtszeit eines
  166. Altvorstands kürzer als die so bestimmte Amtszeit, musste für ihn ein Ersatzmitglied gewählt werden, das aber gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 BRAO nach dem
  167. Rest der Amtszeit des Altvorstands ausschied.
  168. 13
  169. e) Das von der Antragsgegnerin praktizierte Verständnis von § 68 Abs. 2
  170. BRAO lässt sich auch nicht, wie das von der Antragsgegnerin vorgelegte
  171. Rechtsgutachten Henssler meint, mit regionalem Gewohnheitsrecht begründen.
  172. Es kann offen bleiben, ob sich das fehlerhafte Verständnis einer Norm zu Gewohnheitsrecht verfestigen kann (vgl. BVerfG NJW 2009, 1469, 1473; BGHZ
  173. -9-
  174. 37, 219, 222) und ob die dafür jedenfalls erforderliche Überzeugung der beteiligten Kreise, dass die langjährig praktizierte Anwendung der Norm dem Willen
  175. des Gesetzgebers entspricht, hier erfüllt ist. Eine Norm des Bundesrechts wie
  176. § 68 Abs. 2 BRAO kann nämlich durch regionales Gewohnheitsrecht nur verdrängt oder ergänzt werden, wenn der Landesgesetzgeber zu Abweichungen
  177. oder Ergänzungen von Bundesrecht befugt wäre. Das ist er nur auf den hier
  178. nicht einschlägigen Gesetzgebungsfeldern des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 GG oder
  179. bei einem entsprechenden Vorbehalt im Bundesrecht, an dem es hier ebenfalls
  180. fehlt. Etwa in Hamburg entstandenes regionales Gewohnheitsrecht wäre deshalb nach Art. 31 GG nichtig.
  181. 14
  182. 2. Der Verstoß gegen § 68 Abs. 2 Satz 1 BRAO dürfte nach dem bisherigen Sachstand dazu führen, dass die Wahl zum Vorstand der Antragsgegnerin
  183. vom 22. Mai 2007 für ungültig zu erklären ist.
  184. 15
  185. a) Gemäß § 90 Abs. 1 BRAO a.F. (und § 112f Abs. 1 BRAO) kann die
  186. Wahl von Organen der Rechtsanwaltskammer für ungültig erklärt werden, wenn
  187. sie unter Verletzung des Gesetzes (oder der Satzung) zustande gekommen ist.
  188. Die Missachtung der Vorschriften über den richtigen Turnus der Vorstandswahlen nach § 68 Abs. 2 BRAO ist eine solche Gesetzesverletzung im Sinne von
  189. § 90 Abs. 1 BRAO a.F., § 112f Abs. 1 BRAO (Deckenbrock in Henssler/
  190. Prütting, 3. Aufl., § 112f Rdn. 26).
  191. 16
  192. b) Rechtsfolge dieser Gesetzesverletzung ist nach dem in den Gesetzesmaterialen (vgl. BT-Drucks. III/120 S. 92 zu § 103) nicht näher erläuterten
  193. Wortlaut des § 90 Abs. 1 BRAO a.F. (und § 112f Abs. 1 BRAO), dass die angefochtene Wahl nicht etwa für ungültig erklärt werden "muss", sondern für ungültig erklärt werden "kann".
  194. - 10 -
  195. 17
  196. aa) Mit dieser Regelung wird die Erklärung einer Wahl für ungültig nicht
  197. in das Belieben des Gerichts gestellt. Ein solches Verständnis wäre mit dem
  198. Zweck der Wahlanfechtung, die Einhaltung der gesetzlichen und satzungsmäßigen Vorgaben für die Wahl, aber auch die diesen Vorgaben entsprechende
  199. Teilhabe der Kammermitglieder an dem Wahlvorgang sicherzustellen, unvereinbar. Vielmehr kann eine Wahl, die gegen Gesetz oder Satzung verstößt,
  200. vorbehaltlich der zu 3. anzustellenden Prüfung in Anlehnung an die Rechtslage
  201. bei der Anfechtung von Beschlüssen der Rechtsanwaltskammer (Senat, Beschl.
  202. v. 18. April 2005, AnwZ (B) 27/04, NJW 2005, 1710; ebenso für das Vereinsrecht: BGHZ 49, 209, 211; 59, 369, 375 f.) und an das Wahlprüfungsrecht
  203. (BVerfGE 4, 370, 373; 89, 243, 254; 89, 266, 273; 89, 291, 304; 103, 111, 134;
  204. 121, 266, 310; Dreier/Morlok, GG, 2. Aufl., Art. 41 Rdn. 19; Umbach/Clemens/Roth, GG, Art. 41 Rdn. 25; weitergehend: VGH München NVwZRR 1996, 680, 681: auch theoretische Möglichkeit) und an gesetzliche Einschränkungen in § 90 Abs. 1 BRAO a.F. funktionell entsprechende Vorschriften
  205. wie § 101 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 HandwO oder § 25 BPersVG nur bei solchen
  206. Fehlern Bestand haben, die sich auf das Wahlergebnis weder tatsächlich ausgewirkt haben noch konkret und nicht nur theoretisch haben auswirken können
  207. (Deckenbrock in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl., § 112f Rdn. 31; SchmidtRäntsch in Gaier/Wolf/Göcken, aaO, § 112f BRAO Rdn. 10).
  208. 18
  209. bb) Der Verstoß gegen § 68 Abs. 2 BRAO hat sich tatsächlich auf das
  210. Ergebnis der Vorstandswahlen der Antragsgegnerin ausgewirkt.
  211. 19
  212. (1) Dies ergibt sich schon daraus, dass die im Mai 2007 vorgenommene
  213. Teilneuwahl des Vorstands der Antragsgegnerin nicht im gesetzlich vorgegebenen Umfang erfolgte, weil entgegen § 68 Abs. 2 BRAO weniger als die Hälfte
  214. der Mitglieder des Vorstands neu gewählt wurde. Die Antragsgegnerin war seit
  215. dem Inkrafttreten der Bundesrechtsanwaltsordnung am 1. August 1959 und
  216. - 11 -
  217. damit auch bei den Vorstandswahlen 2007 verpflichtet, ihren Turnus der Vorstandswahlen in ein gesetzmäßiges Verfahren überzuleiten. Eine gesetzeskonforme Wahl hätte deshalb bereits nach der Anzahl der gewählten Vorstandsmitglieder ein anderes Ergebnis zeitigen müssen.
  218. 20
  219. (2) Auch in der Sache hat sich die Zahl der neu zu wählenden Vorstandsmitglieder auf die Wahlentscheidung auswirken können. Denn die Kammermitglieder entscheiden mit ihrer Wahl nicht nur darüber, welche einzelnen
  220. Mitglieder in den Vorstand gewählt werden. Vielmehr sollen sie durch die Neuwahl jeweils der Hälfte des Kammervorstands auch auf die Besetzung des Gesamtvorstands Einfluss nehmen können (Entwurfsbegründung in BT-Drucks.
  221. III/120 S. 85 zu § 81). Die aus der Wahl resultierende Gesamtbesetzung des
  222. Kammervorstands ist aus der Sicht der wahlberechtigten Kammermitglieder
  223. eine wesentliche Grundlage ihrer jeweiligen Wahlentscheidung. Es ist deshalb
  224. nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass dieselben Kandidaten auch dann
  225. gewählt worden wären, wenn eine Neuwahl nicht nur für neun, sondern, wie
  226. geboten, für zwölf Vorstandsmitglieder angesetzt worden wäre.
  227. 21
  228. 3. Trotz eines ergebnisrelevanten Fehlers könnte das Gericht im Rahmen seines begrenzten Ermessens indessen davon absehen, die angefochtene
  229. Wahl nach § 90 Abs. 1 BRAO a.F. (oder nach § 112f Abs. 1 BRAO) für ungültig
  230. zu erklären, wenn dies ausnahmsweise auf Grund des wahlprüfungsrechtlichen
  231. Grundsatzes des geringstmöglichen Eingriffs geboten erschiene.
  232. 22
  233. a) Die Ungültigerklärung einer gesamten Wahl setzt regelmäßig einen
  234. erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der
  235. in dieser Weise gewählten Vertretung unerträglich erschiene (BVerfGE 103,
  236. 111, 134; 121, 266, 311 f.). Zudem könnte das Gericht in Anlehnung an die
  237. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlprüfung nach Art. 41
  238. - 12 -
  239. GG auch dann davon absehen, eine Wahl für ungültig zu erklären, wenn das
  240. Interesse am Bestandsschutz des im Vertrauen auf die Gesetzmäßigkeit der
  241. Wahl
  242. gewählten
  243. Vorstands
  244. den
  245. festzustellenden
  246. Wahlfehler
  247. überwiegt
  248. (BVerfGE 103, 111, 135; 121, 266, 312 f.; ablehnend etwa Umbach/
  249. Clemens/Roth, aaO, Art. 41 Rdn. 27).
  250. 23
  251. b) In welche Richtung der Senat sein begrenztes Ermessen auszuüben
  252. hat, dürfte maßgeblich davon abhängen, ob es der Antragsgegnerin gelingt,
  253. den Turnus ihrer Vorstandswahlen auch ohne gerichtliches Eingreifen an die
  254. gesetzlichen Vorgaben des § 68 Abs. 2 BRAO anzupassen.
  255. 24
  256. aa) Im Rahmen seiner Abwägung wird der Senat einerseits zu berücksichtigen haben, dass allein durch die Ungültigerklärung einzelner Teilwahlen
  257. ein gesetzmäßiger Zustand nicht erreicht werden könnte. Andererseits beruht
  258. die Vorstandswahl 2007 nicht auf einem singulären Fehler. Eine Fortsetzung
  259. des seit 1953 praktizierten und auch nach dem Inkrafttreten der Bundesrechtsanwaltsordnung am 1. Oktober 1959 nicht an deren Vorgaben angepassten
  260. Wahlturnus erschiene nicht hinnehmbar.
  261. 25
  262. bb) Eine Änderung des fehlerhaften jährlichen Turnus ist auch rechtlich
  263. möglich und erfordert entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin keine Gesetzesänderung. Freilich ist es nicht Sache des Senats, der Antragsgegnerin einen
  264. konkreten von mehreren möglichen Wegen für die Umstellung auf den gesetzmäßigen Zwei-Jahres-Rhythmus vorzuschreiben. Falls hierfür - etwa im Rahmen einer einmaligen Neukonstituierung des Kammervorstands oder aber einer
  265. schrittweisen Zusammenführung der bisher jährlichen Teilneuwahlen - der gesamte Vorstand oder einzelne seiner Mitglieder vorzeitig vom Amt zurücktreten
  266. sollten, fände § 69 Abs. 3 Satz 1 BRAO auf einen solchen Fall keine Anwendung. Diese Vorschrift gilt nach ihrem Zweck, die Einhaltung des Zwei-Jahres-
  267. - 13 -
  268. Turnus zu gewährleisten (vgl. oben II. 1. b) cc)), nicht für Rücktritte, die den
  269. Übergang zu einem überhaupt erstmals gesetzeskonform gewählten Vorstand
  270. ermöglichen sollen und eine solche besondere Zweckbindung, etwa durch einen entsprechenden Hinweis in der Rücktrittserklärung oder eine Bezugnahme
  271. auf einen entsprechenden Beschluss der Kammerversammlung, nach außen
  272. hin erkennen lassen.
  273. 26
  274. cc) Sollte die Antragsgegnerin bis zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung verbindlich geklärt haben, wie der Übergang zum Zwei-Jahres-Turnus
  275. gestaltet wird, wäre das sachliche Ziel der Wahlanfechtung, den bisherigen gesetzeswidrigen Turnus aufzugeben, erreicht. Eine Erklärung der Vorstandswahl
  276. 2007 für ungültig würde dann den selbstverantwortlich gefundenen Übergang
  277. zum gesetzlichen Neuwahlturnus nur erschweren. Sie entspräche deshalb nicht
  278. mehr dem Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs. Von ihr wäre abzusehen.
  279. 27
  280. dd) Anders läge es dagegen, wenn es der Antragsgegnerin bis zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung nicht gelingt, zu dem Zwei-Jahres-Turnus
  281. überzugehen oder das Verfahren für diesen Übergang festzulegen. Das könnte
  282. befürchten lassen, dass die Rückkehr zu dem vorgeschriebenen Turnus letztlich scheitert und der fehlerhafte Turnus auf Dauer fortgeführt wird. In einem
  283. Wahlanfechtungsverfahren, mit dem gerade dieser grundlegende Fehler abgestellt werden soll, könnte es dann auch unter Berücksichtigung der schützens-
  284. - 14 -
  285. werten Interessen der Beigeladenen nicht nur möglich, sondern im Gegenteil
  286. geboten sein, die Vorstandswahl 2007 der Antragsgegnerin für ungültig zu erklären.
  287. Tolksdorf
  288. Schmidt-Räntsch
  289. Wüllrich
  290. Lohmann
  291. Braeuer
  292. Vorinstanzen:
  293. AGH Hamburg, Entscheidung vom 24.06.2009 - II ZU 8/07 Entscheidung vom 03.08.2009 - II ZU 6/07 -