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  1. 5 StR 262/03
  2. BUNDESGERICHTSHOF
  3. BESCHLUSS
  4. vom 16. Dezember 2003
  5. in der Strafsache
  6. gegen
  7. wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes u.a.
  8. -2-
  9. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. Dezember 2003
  10. beschlossen:
  11. 1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
  12. Landgerichts Potsdam vom 15. Januar 2003 nach
  13. § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.
  14. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
  15. andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  16. G r ü n d e
  17. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen
  18. Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer
  19. Schutzbefohlenen in drei Fällen und wegen sexuellen Mißbrauchs einer
  20. Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs
  21. Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur
  22. Aufhebung des Urteils. Auf die Verfahrensrügen kommt es deshalb nicht an.
  23. Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Allerdings beschränkt sich, da die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters ist, die
  24. revisionsgerichtliche Nachprüfung darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler
  25. unterlaufen sind. Ein sachlich-rechtlicher Fehler liegt aber u.a. dann vor,
  26. wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden (st. Rspr., vgl. nur
  27. BGHSt 29, 18, 20; Engelhardt in KK 5. Aufl. § 261 Rdn. 49 m. w. N.) und der
  28. Tatrichter in einem Fall, in dem die Entscheidung allein davon abhängt, welcher Person das Gericht Glauben schenkt, nicht erkennen läßt, daß er alle
  29. -3-
  30. Umstände, die die Entscheidung zu beeinflussen geeignet sind, erkannt und
  31. in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGHSt 44, 153, 159; 256, 257;
  32. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 23; BGH NStZ 2000, 496, 497).
  33. Diesen hohen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts hinsichtlich der Aussage der Stieftochter des Angeklagten, der die
  34. Tatbegehung bestreitet, nicht gerecht. Bei der Aussage kindlicher bzw. jugendlicher Zeugen in Mißbrauchsfällen kommt der Entstehungsgeschichte
  35. der Beschuldigung besondere Bedeutung zu (vgl. BGH StV 1994, 227; 1995,
  36. 6, 7; 1998, 250). Mit ihr hat sich das Landgericht nicht im gebotenen Maße
  37. auseinandergesetzt.
  38. Nach den im Urteil getroffenen Feststellungen wurde die Geschädigte „möglicherweise durch die Pubertät oder aber durch den ... sexuellen
  39. Mißbrauch ihres Stiefvaters“ gegenüber der Familie „trotzig und aufmüpfig,
  40. wollte nicht mehr zu Hause bleiben, so daß es zwischen ihr und den übrigen
  41. Familienmitgliedern ständig Spannungen und Reibereien“ (UA S. 4) gab. Am
  42. Tag vor der Anzeigeerstattung hielt sich die Geschädigte „ohne Wissen der
  43. Eltern in der Wohnung ihrer Freundin ... auf. Sie übernachtete auch dort.
  44. Weil sie zuvor einen Ladendiebstahl begangen hatte und es deshalb zu Hause Streß gab, traute sie sich nicht zu ihren Eltern nach Hause“ (UA S. 7).
  45. Nachdem die Eltern eine Vermißtenanzeige aufgegeben hatten, erfuhr der
  46. Angeklagte vom Aufenthalt seiner Stieftochter. In einem Telefonat mit der
  47. Mutter der Freundin war er „sehr aggressiv“ und „bestand darauf, daß (seine
  48. Stieftochter) sofort nach Hause kommt. Diese geriet daraufhin in Panik. Sie
  49. hatte Angst geschlagen zu werden und wollte auf keinen Fall ins Elternhaus
  50. zurück“ (UA S. 8). Daraufhin wurde der Geschädigten von der Mutter der
  51. Freundin, die von ihrer eigenen Tochter von Mißbrauchsandeutungen erfahren hatte, geraten, die „Gelegenheit zu nutzen und der Polizei von dem sexuellen Mißbrauch zu erzählen“ (UA S. 8).
  52. -4-
  53. Die Strafkammer führt aus, nach dem erstatteten Glaubwürdigkeitsgutachten hätten sich „bei der Rekonstruktion der Aussagegeschichte und
  54. der Motivanalyse ... keine Hinweise auf bedeutsame Einschränkungen in der
  55. Aussagezuverlässigkeit“ (UA S. 11) ergeben. Die Geschädigte sei erst unter
  56. einer besonderen Krisensituation bereit gewesen, eine Anzeige zu erstatten.
  57. Für „eine ausgeprägte Motivation zu einer absichtlichen unbegründeten
  58. Falschbezichtigung lägen keine Anhaltspunkte“ vor.
  59. Eine solch knappe, die rechtliche Überprüfung durch das Revisionsgericht praktisch ausschließende Zusammenfassung des Ergebnisses der
  60. Glaubwürdigkeitsbegutachtung reicht hier angesichts der Besonderheiten
  61. des Einzelfalles nicht aus. Will sich der Tatrichter der Beurteilung eines
  62. Sachverständigen anschließen, muß er entweder die eigenen Erwägungen
  63. oder aber die Anknüpfungstatsachen und die Ausführungen des Sachverständigen in einer Weise wiedergeben, die dem Revisionsgericht die rechtliche Nachprüfung ermöglicht (vgl. BGHR StGB § 176 Abs. 1 Beweiswürdigung 3; BGH, Urteil vom 15. Oktober 1997 – 2 StR 393/97). Das Landgericht
  64. hat nicht die Frage erörtert, ob die Anzeigeerstattung im Zusammenhang mit
  65. dem Wunsch der Geschädigten stand, nicht mehr zu Hause bleiben zu wollen, oder ob sie aus Angst vor Strafe nicht ins Elternhaus zurückkehren
  66. wollte. Die Strafkammer hat sich vielmehr damit begnügt, pauschal darauf
  67. hinzuweisen, zu welchem Ergebnis die Sachverständige gelangt sei. Vor diesem Hintergrund erscheint es zudem als erörterungsbedürftig, daß es nach
  68. Angaben der Geschädigten im Zeitraum von zwei Jahren 60 bis 70 Fälle gegeben haben soll, in denen der sexuelle Mißbrauch „immer ähnlich“ bzw. „regelmäßig“ in derselben Art und Weise ablief (UA S. 4, 5, 11) – sich die Intensität der Vorfälle offenbar also nicht steigerte –, und daß die Geschädigte
  69. nach Angaben der Sachverständigen nicht in der Lage war, sich eine Einzelhandlung in Erinnerung zu rufen, vorzustellen und wiederzugeben, sondern
  70. sofort in generalisierende Beschreibung verfiel (UA S. 10).
  71. -5-
  72. Die neu erkennende Strafkammer wird auch zu bedenken haben,
  73. daß eine Wiedergabe der Vernehmungen von Mutter, Bruder und Großeltern
  74. der Geschädigten, die sich in der Bemerkung erschöpft, diese hätten „sich
  75. von ihr abgewandt“ und hielten „sie für eine Lügnerin“ (UA S. 8), für sich genommen keinen wesentlichen Bedeutungsgehalt aufweist. Entscheidend ist,
  76. ob sich deren Beurteilung auf Tatsachen gründet und ob diese Tatsachen für
  77. die Beurteilung von Aussage und Person der Geschädigten herangezogen
  78. werden können. Insoweit liegt hier eine ausführlichere Darlegung der Aussagen von Personen aus der Familie der Geschädigten in den Urteilsgründen
  79. nahe.
  80. Harms
  81. Basdorf
  82. Brause
  83. Schaal
  84. Raum