|
|
- 5 AR (VS) 23/10
-
- BUNDESGERICHTSHOF
- BESCHLUSS
- vom 4. August 2010
- in der Beschwerdesache
- gegen
-
- – Beschwerdegegner –
- vertreten durch:
- Rechtsanwalt
-
- hier:
-
- Rechtsbeschwerde der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main
- – Beschwerdeführerin –
-
- -2-
-
- Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 4. August 2010
- beschlossen:
- Auf die Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft wird der
- Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom
- 25. Februar 2010 in Ziff. 1 und 2 aufgehoben.
- Der Antrag des Beschwerdegegners auf gerichtliche Entscheidung gegen den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 21. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.
- Der Beschwerdegegner trägt die Kosten des Verfahrens.
-
- G r ü n d e
- 1
-
- Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Generalstaatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom
- 25. Februar 2010, mit dem unter Aufhebung gegen den Beschwerdegegner
- ergangener Vollstreckungsbescheide die Vollstreckungsbehörde verpflichtet
- worden ist, den Beschwerdegegner unter Beachtung der Rechtsauffassung
- des Oberlandesgerichts über die Reihenfolge der Vollstreckung neu zu bescheiden.
- I.
- Der angefochtenen Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrun-
-
- 2
- de:
- 3
-
- Gegen den vielfach, auch aufgrund von Straftaten, die nicht im Zusammenhang mit seiner Betäubungsmittelabhängigkeit stehen, vorbestraften
-
- -3-
-
- Beschwerdegegner wurde zunächst eine (nach § 35 Abs. 1, 3 Nr. 1 BtMG
- zurückstellungsfähige) Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wegen Diebstahls in zwei Fällen sowie Computerbetrugs in vier Fällen
- aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 20. Juni 2008 (Az. 3620 Js
- 42794/07) vollstreckt. Die Zweidrittelverbüßung war auf den 27. Juni 2010
- notiert. Seither verbüßt der Beschwerdegegner eine (nicht nach § 35 BtMG
- zurückstellungsfähige) ursprünglich zur Bewährung ausgesetzte, dann aber
- widerrufene fünfmonatige Gesamtfreiheitsstrafe wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 14. Juni 2005 (Az. 9821 Js 30581/04). Die Zweidrittelverbüßung ist auf den 7. Oktober 2010, das Strafende auf den 27. November 2010 notiert. Daran anschließend sind die Vollstreckung eines durch das Landgericht Marburg
- – Strafvollstreckungskammer – nach einer Zurückstellung gemäß § 35 BtMG
- widerrufenen Strafrests aus dem Urteil des Landgerichts Kassel vom 6. Januar 1999 sowie die Vollstreckung des letzten Drittels der zunächst zur Bewährung ausgesetzten, dann aber widerrufenen (ebenfalls gemäß § 35
- Abs. 1, 3 Nr. 1 BtMG zurückstellungsfähigen) Freiheitsstrafe von einem Jahr
- und sechs Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 23. August 2007 und des letzten Drittels der Strafe aus dem oben genannten Urteil
- des Amtsgerichts Kassel vom 20. Juni 2008 notiert. Das Gesamtstrafende ist
- auf den 11. Mai 2013 berechnet.
- 4
-
- Der Beschwerdeführer hat am 25. Mai 2009 eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge dahingehend beantragt, dass zunächst die nicht nach
- § 35 Abs. 1 BtMG zurückstellungsfähige Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 14. Juni 2005 zu vollstrecken sei, weil er beabsichtige,
- zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen Antrag auf Zurückstellung der Vollstreckung nach § 35 BtMG zu stellen. Diesen Antrag hat die Staatsanwaltschaft Kassel mit Bescheid vom 23. Juni 2009 abgelehnt, eine dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht Fulda – Strafvollstreckungskammer – als Einwendung nach § 458 Abs. 2 StPO mit Beschluss vom 16. September 2009 verworfen. Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdegeg-
-
- -4-
-
- ners hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main diesen Beschluss aufgehoben, weil der Rechtsweg nach § 23 EGGVG eröffnet sei, weswegen zunächst die Generalstaatsanwaltschaft über die Vorschaltbeschwerde zu entscheiden habe.
- 5
-
- Gegen den daraufhin ergangenen Verwerfungsbescheid der Generalstaatsanwaltschaft hat der Beschwerdegegner das Oberlandesgericht Frankfurt am Main angerufen. Mit der Begründung, dass die Zurückstellung einer
- Strafe bereits in dem Zeitpunkt möglich sei, in dem die nicht zurückstellungsfähige Strafe zu zwei Dritteln verbüßt und ihre weitere Vollstreckung unterbrochen sei, hob das Oberlandesgericht die Vollstreckungsbescheide auf
- und verpflichtete die Vollstreckungsbehörde, den Beschwerdegegner unter
- Beachtung seiner Rechtsauffassung erneut zu bescheiden. Zugleich hat es
- gemäß § 29 EGGVG die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.
- II.
-
- 6
-
- Die zulässige Rechtsbeschwerde der Generalstaatsanwaltschaft hat
- – entsprechend der Stellungnahme des Generalbundesanwalts – in der Sache Erfolg (vgl. BGH, Beschluss vom 4. August 2010 – 5 AR (VS) 22/10, zur
- Veröffentlichung in BGHSt bestimmt).
-
- 7
-
- Ein wichtiger Grund, der gemäß § 43 Abs. 4 StVollstrO eine Abweichung von der in Absatz 2 und 3 dieser Vorschrift geregelten Reihenfolge der
- Vollstreckung gebietet, liegt nicht vor. Durch die vom Beschwerdegegner begehrte Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge kann eine frühere Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1, 3 BtMG nicht erreicht werden.
- Dieser steht entgegen, dass mit der wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in
- zwei Fällen ergangenen Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 14. Juni 2005 eine weitere, nicht zurückstellungsfähige
- Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist (vgl. § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG). Eine Zurück-
-
- -5-
-
- stellungsentscheidung kommt deshalb erst in Betracht, wenn nach § 454b
- Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 StPO über die Reststrafenaussetzung aller Strafen entschieden worden ist.
- 8
-
- 1. Nach allgemeiner Meinung darf die Strafvollstreckung nicht gemäß
- § 35 BtMG zurückgestellt werden, wenn gegen den Verurteilten schon im
- Zeitpunkt der Zurückstellungsentscheidung eine weitere Freiheitsstrafe zu
- vollstrecken ist, mithin der Widerrufsgrund nach § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG gegeben ist (vgl. BGHSt 33, 94, 95 f.; Körner, BtMG 6. Aufl. §. 35 Rdn. 116
- m.w.N.). Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurt am
- Main im angefochtenen Beschluss (im Ergebnis ebenso OLG Stuttgart
- NStZ-RR 2009, 28, 29 f.; Kornprobst in MünchKomm-StGB Nebenstrafrecht I
- § 35 BtMG Rdn. 130) stellt dabei die nach § 454b Abs. 2 StPO in ihrer Vollstreckung unterbrochene, nicht gemäß § 35 BtMG zurückstellungsfähige
- Strafe eine im Sinne des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG zu vollstreckende Strafe
- dar, die die Zurückstellung der weiteren Strafen gemäß § 35 BtMG hindert (in
- diesem Sinne auch OLG München NStZ 2000, 223; KG, Beschluss vom
- 3. April 2009 – 4 VAs 3/09; Körner aaO § 35 Rdn. 316).
-
- 9
-
- a)
-
- Nach
-
- der
-
- durch
-
- das
-
- 23. Strafrechtsänderungsgesetz
-
- vom
-
- 13. April 1986 (BGBl I S. 393) eingeführten Vorschrift des § 454b Abs. 2
- Satz 1 Nr. 2 StPO ist die Vollstreckung mehrerer nacheinander zu vollstreckender zeitiger Freiheitsstrafen grundsätzlich zum Zweidrittelzeitpunkt zu
- unterbrechen. Die Regelung dient dem Zweck, hinsichtlich der Reste aller
- Strafen eine einheitliche Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung
- zu ermöglichen (vgl. Regierungsentwurf in BTDrucks. 10/2720 S. 15; Bericht
- des Rechtsausschusses des Bundestages in BTDrucks. 10/4391 S. 19).
- 10
-
- aa) Aufgrund dieser insoweit eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers scheidet zunächst – was im angefochtenen Beschluss auch nicht verkannt wird – die vom Beschwerdegegner vorrangig erstrebte vollständige
-
- -6-
-
- Vorabvollstreckung der nicht zurückstellungsfähigen Strafe nach Änderung
- der Vollstreckungsreihenfolge (§ 43 Abs. 4 StVollstrO) zwingend aus.
- bb) § 454b Abs. 2 StPO ermöglicht eine Unterbrechung der Vollstre-
-
- 11
-
- ckung zum Zweidrittelzeitpunkt lediglich zum Zweck der Vollstreckung weiterer Freiheitsstrafen. Die Vorschrift schafft hingegen nicht die Grundlage, die
- Strafvollstreckung zur Ermöglichung einer Therapie nach Zurückstellung der
- Strafvollstreckung nach § 35 BtMG zu unterbrechen. Hätte der Gesetzgeber
- die zuletzt genannte Möglichkeit eröffnen wollen, so wäre eine ausdrückliche
- Regelung erforderlich gewesen. Denn ein Verurteilter, der sich gemäß § 35
- BtMG einer Therapie unterzieht, befindet sich nicht mehr im Strafvollzug.
- Dies verdeutlicht der Wortlaut von § 35 Abs. 1 BtMG. Danach wird die Vollstreckung der Strafe „zurückgestellt“, die Strafe mithin gerade nicht vollstreckt. Dementsprechend gehört die Therapiezeit nicht zur Strafvollstreckung im eigentlichen Sinne. Vielmehr ist sie nach § 36 BtMG auf die Strafe
- anzurechnen.
- 12
-
- b) Die Vollstreckungsunterbrechung nach § 454b Abs. 2 StPO belässt
- die jeweils von ihr betroffene Strafe weiterhin im Stadium der Vollstreckung.
- Sie ist deshalb eine „zu vollstreckende“ im Sinne des § 35 Abs. 6 Nr. 2
- BtMG.
-
- 13
-
- Die Unterbrechung stellt eine vom Gesetzgeber bei Vorliegen der Voraussetzungen zwingend angeordnete Verfahrensmaßnahme dar, die für
- – vorweggenommene (vgl. KG aaO) – prognostische Erwägungen keinen
- Raum lässt. Ihr alleiniger Zweck ist es, nach weiterer Vollstreckung mindestens einer Strafe im weiteren Verlauf die einheitliche Entscheidung über die
- Aussetzung der Reststrafen zu ermöglichen (vgl. oben lit. a). Das Vollstreckungsstadium dauert demnach hinsichtlich sämtlicher betroffener Strafen
- bis zu dieser (einheitlichen) Entscheidung fort. Beendet wird die Vollstreckung erst mit der (positiven) Entscheidung nach § 57 StGB, durch die – unter dem Vorbehalt der Legalbewährung – auf einen Teil der Strafvollstre-
-
- -7-
-
- ckung verzichtet wird (vgl. Stree in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 57
- Rdn. 2), oder nach vollständiger Vollstreckung der jeweiligen Strafe.
- 14
-
- c) Auch der Normzweck des § 35 Abs. 6 BtMG spricht dafür, die Zurückstellung einer Strafe erst nach der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung einer nicht zurückstellungsfähigen Strafe zu ermöglichen.
-
- 15
-
- § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG will verhindern, dass ein erfolgreich therapierter Verurteilter nach Beendigung der Therapie wieder in den Strafvollzug gelangt, weil dadurch der Behandlungserfolg wieder gefährdet werden könnte
- (vgl. Kornprobst aaO § 35 BtMG Rdn. 215). Eine solche Gefahr ist in den
- betroffenen Fällen nicht auszuschließen. Dies folgt in erster Linie daraus,
- dass für die Prognose im Rahmen der Reststrafenaussetzung nach § 36
- Abs. 1 Satz 3 BtMG gegenüber der allgemeinen Regelung nach § 57 Abs. 1
- StGB durch die Sucht des Verurteilten bedingte Besonderheiten gelten; namentlich kann das Vorleben des Verurteilten eine geringere Rolle spielen
- (vgl. Weber, BtMG 3. Aufl. § 36 Rdn. 58 ff.; Kornprobst aaO § 36 Rdn. 50 ff.;
- Körner aaO § 36 Rdn. 62 ff.). Es ist deshalb denkbar, dass die Prognose hinsichtlich der Begehung von Straftaten aufgrund der Betäubungsmittelabhängigkeit im Hinblick auf die erfolgreich durchlaufene Therapie positiv ausfällt,
- wohingegen die Legalbewährung des betroffenen (Vielfach-) Täters aufgrund
- dessen Neigung, auch unabhängig von seiner Drogensucht Straftaten zu
- begehen, negativ zu beurteilen ist. Überdies sind in der Regel verschiedene
- Spruchkörper zuständig (bei der Reststrafenaussetzung nach § 57 StGB
- gemäß § 462a StPO zumeist die Strafvollstreckungskammer; bei der Reststrafenaussetzung nach § 36 BtMG gemäß § 36 Abs. 5 Satz 1 BtMG das
- Gericht des ersten Rechtszuges), so dass auch deswegen divergierende
- Entscheidungen zu besorgen sind. Es besteht mithin das nicht nur theoretische Risiko, dass der erfolgreich Therapierte – was § 35 Abs. 6 BtMG gerade verhindern will – erneut in den Strafvollzug gelangt.
-
- -8-
-
- 16
-
- d) Eine analoge Anwendung des § 454b Abs. 2 StPO mit Blick auf die
- nach der Zurückstellung erfolgende Therapie (so Schöfberger NStZ 2005,
- 441, 442) scheidet aus. Es ermangelt bereits einer erkennbar planwidrigen
- Regelungslücke. Aus dem Schweigen des Gesetzgebers kann – bei nachvollziehbaren Ergebnissen – vielmehr auch abgeleitet werden, dass er in
- Fallgestaltungen wie der hier zu beurteilenden der Einheitlichkeit der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung den Vorrang einräumt.
-
- 17
-
- 2. Eine weitere Aufklärung entscheidungserheblicher Tatsachen ist
- nicht erforderlich. Der Senat entscheidet deshalb gemäß § 74 Abs. 6 Satz 1
- FamFG in der Sache selbst.
-
- 18
-
- 3. Die durch das Oberlandesgericht vorgenommene Festsetzung des
- Geschäftswerts unterliegt – weil unanfechtbar (§ 30 Abs. 3 Satz 2 KostO) –
- nicht der Aufhebung. Der Senat weist jedoch darauf hin, dass sich diese in
- Fällen wie dem hier zu beurteilenden regelmäßig am Mindestwert zu orientieren hat (vgl. Kissel/Mayer, GVG 6. Aufl. § 30 EGGVG Rdn. 7; Schoreit in KK
- 6. Aufl. § 30 EGGVG Rdn. 7).
-
- Brause
-
- Solin-Stojanović
- Jäger
-
- König
-
- Schaal
-
|