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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 2 StR 94/16
  4. vom
  5. 13. Juni 2017
  6. in der Strafsache
  7. gegen
  8. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
  9. ECLI:DE:BGH:2017:130617B2STR94.16.0
  10. -2-
  11. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Angeklagten am 13. Juni 2017 gemäß § 349 Abs. 4 StPO
  12. beschlossen:
  13. 1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
  14. Landgerichts Frankfurt am Main vom 13. Oktober 2015 mit
  15. den Feststellungen aufgehoben.
  16. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
  17. auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
  18. als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des
  19. Landgerichts zurückverwiesen.
  20. Gründe:
  21. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen
  22. 1
  23. Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Dagegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das
  24. Rechtsmittel hat mit der Sachrüge erfolgt.
  25. -3-
  26. I.
  27. 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte Leh2
  28. rer an einer Grundschule für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Er
  29. war Klassenlehrer der am 23. Juni 2002 geborenen Nebenklägerin
  30. L.
  31. . Diese litt an Entwicklungsverzögerungen und besuchte als „Integrationskind mit besonderem Förderbedarf“ die Grundschule. Er nutzte sich bietende
  32. Gelegenheiten zu sexuellen Handlungen mit der Nebenklägerin.
  33. Bei einem Aufenthalt der Schulklasse in einer Jugendherberge veran3
  34. lasste der Angeklagte die Nebenklägerin dazu, in sein Zimmer zu kommen. Er
  35. zog Hose und Unterhose aus und legte sich auf das Bett. Er wies die Nebenklägerin an, ihren Badeanzug auszuziehen, dann fasste er sie an der Hüfte,
  36. setzte sie auf seinen Penis und hob sie auf und ab. Als ein Schüler an der
  37. Zimmertür klopfte, hob der Angeklagte sie herunter und befahl ihr schnell ins
  38. Bad zu gehen, sich dort anzuziehen und leise zu verhalten (Fall II.1. der Urteilsgründe).
  39. Am 7. Mai 2013 sollte die Nebenklägerin eine weiterführende Schule
  40. 4
  41. kennen lernen. Sie fuhr mit dem Schulbus dorthin, während ihre Mutter K.
  42. L.
  43. mit dem Angeklagten in dessen Auto folgte. Nach Ende der Vorstel-
  44. lung fuhr der Angeklagte mit der Nebenklägerin und ihrer Mutter zurück, setzte
  45. die Mutter an deren Wohnung ab und nahm die Nebenklägerin mit. Weil noch
  46. Zeit bis zum Unterrichtsbeginn war, hielt der Angeklagte an seinem Haus und
  47. ging mit ihr in das Schlafzimmer. Dort entkleidete er sich und die Nebenklägerin, legte sich auf das Bett und hob sie auf seinen Schoß. Er setzte sie auf seinen Penis und hob sie hoch und herunter. Währenddessen sah er immer wieder auf die Uhr, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Nach den sexuellen
  48. -4-
  49. Handlungen frühstückten beide, gingen mit dem Hund des Angeklagten spazieren und fuhren dann zur Grundschule (Fall II.2. der Urteilsgründe).
  50. An einem Tag im vierten Schuljahr der Nebenklägerin unterrichtete der
  51. 5
  52. Angeklagte sie im „Differenzierungsraum“, während die weitere Klassenlehrerin
  53. die anderen Schüler im Klassenraum unterrichtete. Der Angeklagte zog die Hose der vor ihm stehenden Nebenklägerin herunter, schob die Unterhose beiseite und führte einen Finger in die Scheide ein. Als die Lehrerkollegin an der Tür
  54. klopfte, um zu signalisieren, dass das Ende der Schulstunde nahe, rief der Angeklagte mit Verzögerung „komm rein“. In der Zwischenzeit zog er den Finger
  55. aus der Scheide der Nebenklägerin und diese zog ihre Hose hoch. Der Angeklagte befahl der Nebenklägerin, sich wieder an den Tisch zu setzen und ihre
  56. Stifte einzuräumen, damit die Lehrerin keinen Verdacht schöpfe (Fall II.3. der
  57. Urteilsgründe).
  58. 2. Das Landgericht hat sein Urteil, der aussagepsychologischen Sach-
  59. 6
  60. verständigen folgend, auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt. Die Nebenklägerin habe das Geschehen logisch konsistent, detailreich und nachvollziehbar dargestellt. Auch habe sie eine authentisch wirkende emotionale Belastung
  61. erkennen lassen. Es lägen Besonderheiten in ihren Angaben vor, aus denen
  62. sich eine gute Aussagequalität ergebe. Die Entstehung der Beschuldigung,
  63. nachdem die Nebenklägerin durch ihre Mutter und die Zeugin A.
  64. zur
  65. Rede gestellt worden sei, weil sie Sexvideos im Internet angesehen und diese
  66. Möglichkeit ihrer Freundin vermittelt habe, spreche nicht gegen die Glaubhaftigkeit der Aussagen. Zur Frage des Filminhalts habe die Nebenklägerin bekundet, „es sei das gewesen, was der Angeklagte auch mit ihr gemacht habe.“ Ergänzend habe sie erklärt, dass sie die Videofilme erst nach den Missbrauchshandlungen aufgerufen habe. Die Nebenklägerin besitze eine „weit unterdurchschnittliche Merk- und Speicherfähigkeit“, weshalb es für sie besonders schwie-
  67. -5-
  68. rig wäre, eine erfundene Geschichte konstant zu behaupten. Auszuschließen
  69. sei, dass sie durch eine Drucksituation im Gespräch mit ihrer Mutter und der
  70. Mutter ihrer Freundin dazu motiviert worden sein könnte, eine falsche Beschuldigung aufzustellen. „Eine solche Schilderung wäre der Geschädigten mit ihrer
  71. eingeschränkten kognitiven Leistungsfähigkeit nicht ad hoc möglich gewesen,
  72. wenn die geschilderten Geschehnisse nicht erlebnisbasiert gewesen wären“.
  73. Aus den Angaben der weiteren Klassenlehrerin und der Ehefrau des Angeklagten ergäben sich keine erheblichen Einwendungen gegen die Glaubhaftigkeit
  74. der Beschuldigung.
  75. II.
  76. Die Revision ist mit der Sachrüge begründet, sodass es auf die Verfah7
  77. rensrügen nicht ankommt. Die Beweiswürdigung des Landgerichts begegnet
  78. durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
  79. 1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm obliegt es, das
  80. 8
  81. Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar
  82. oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof in Fällen, in denen
  83. „Aussage gegen Aussage“ steht, besondere Anforderungen an die Darlegung
  84. einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung aufgestellt. Dabei ist insbesondere der Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage besondere Bedeutung beizumessen. In einer solchen Konstellation hat der Tatrichter
  85. zudem in einer umfassenden Gesamtwürdigung alle möglicherweise entscheidungsbeeinflussenden Umstände darzustellen und in seine Überlegungen ein-
  86. -6-
  87. zubeziehen (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Juli 2014 - 2 StR 94/14, NStZ 2014,
  88. 667; Urteil vom 6. April 2016 - 2 StR 408/15; Beschluss vom 10. Januar 2017
  89. - 2 StR 235/16, StV 2017, 367, 368; Beschluss vom 4. April 2017 - 2 StR
  90. 409/16).
  91. 2. Diesen Anforderungen ist das Landgericht nicht gerecht geworden.
  92. 9
  93. a) Die Erwägungen zur Aussageentstehung sind lückenhaft.
  94. 10
  95. Die Beschuldigung des Angeklagten ist erstmals geäußert worden,
  96. 11
  97. nachdem die Freundin der Nebenklägerin beim Aufrufen von Sexfilmen im Internet angetroffen worden war und ihrer Mutter erklärt hatte, sie sei von der Nebenklägerin darüber instruiert worden, worauf die Nebenklägerin von beiden
  98. Müttern zur Rede gestellt wurde. Sie befand sich dabei unter dem erheblichen
  99. Druck einer nachhaltigen Befragung über ein sonst als Tabu behandeltes Thema. Insbesondere die Mutter der Nebenklägerin habe „nicht locker gelassen“.
  100. Dazu hat die vom Landgericht vernommene aussagepsychologische
  101. 12
  102. Sachverständige erläutert, die Nebenklägerin besitze „keine erhöhte Anfälligkeit
  103. dafür, Suggestiveinflüssen zu folgen. Sie habe sowohl bei der gutachterlichen
  104. Exploration als auch bei den anderen Vernehmungen Suggestivfragen oftmals
  105. nicht gemäß der Suggestion beantwortet.“ Ihre Angaben sprächen auch nicht
  106. dafür, dass sie „durch den Druck im Gespräch mit ihrer Mutter und der Zeugin
  107. A.
  108. dazu motiviert gewesen sein könne, eine bewusste Falschaussa-
  109. ge gegen den Angeklagten vorzubringen, um dadurch ihre eigene Schuld zu
  110. vermindern und ihre Mutter in der Diskussion wegen des Aufrufens der Sexseiten im Internet milde zu stimmen. Aus aussagepsychologischer Sicht sei es äußerst unwahrscheinlich, insbesondere auch aufgrund der vorhandenen Entwicklungsverzögerungen der Zeugin, dass L.
  111. hätte spontan vorbringen können.“
  112. eine qualitativ so hochwertige Lüge
  113. -7-
  114. 13
  115. Das Landgericht hat sich insgesamt dem Ergebnis der Sachverständigen angeschlossen, dass die Angaben der Nebenklägerin „mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisbasiert und glaubhaft“ seien. Es hat aber nicht selbst
  116. überprüft, ob die Nebenklägerin unter dem Druck der intensiven Befragung und
  117. mit Blick auf ihr Anschauungsmaterial aus Filmdarstellungen im Internet das
  118. Bild von sexuellen Handlungen mit Erlebnissen aus dem Alltag in der Grundschule verknüpft haben könnte, um dem Druck zu entweichen.
  119. Bei weiteren Befragungen der Nebenklägerin sind nach der Bemerkung
  120. 14
  121. der Sachverständigen auch Suggestivfragen vorgekommen, deren Art und Bedeutung im Urteil nicht näher erläutert werden. Der Hinweis der Sachverständigen darauf, dass die Nebenklägerin auf Suggestivfragen oft nicht im Sinne der
  122. Erwartungshaltung der Fragesteller geantwortet habe, reicht nicht aus, um
  123. nachvollziehbar zu begründen, dass es sich bei den tatbezogenen Aussagen
  124. der Nebenklägerin um nicht aufgrund von suggestiven Einflüssen entstandene
  125. Schilderungen gehandelt hat.
  126. b) Es fehlt auch die bei dieser Lage notwendige besonders sorgfältige
  127. 15
  128. Gesamtwürdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte.
  129. aa) Das Landgericht hat nach der Mitteilung, dass es sich „dem Ergeb-
  130. 16
  131. nis der Sachverständigen“ anschließe, nur noch erläutert, dass die Angaben der
  132. Zeuginnen M.
  133. und T.
  134. nicht geeignet seien, die Glaubhaftigkeit der
  135. Angaben der Nebenklägerin zu erschüttern, dem Angeklagten im Fall II.3. der
  136. Urteilsgründe ein „ausreichend großes Zeitfenster“ zur Tatbegehung zur Verfügung gestanden habe, das Ergebnis der gynäkologischen Untersuchung keinen
  137. Erkenntniswert besitze und das vorläufige Ergebnis der Beweisaufnahme bezüglich eingestellter Tatvorwürfe kein Glaubhaftigkeitsbedenken ergebe. Damit
  138. -8-
  139. wird das Risiko einer Falschdarstellung durch die Nebenklägerin unter bewusst
  140. oder unbewusst erfolgender Entwicklung eines falschen Tatbildes nach intensiven Fragen aufgrund bildhafter Vorstellungen von sexuellen Handlungen aus
  141. entsprechenden Filmdarstellungen im Internet nicht nachvollziehbar ausgeräumt.
  142. bb) Auch wäre eine weiter gehende Plausibilitätskontrolle der Angaben
  143. 17
  144. durch das Tatgericht erforderlich gewesen. Im Fall II.3. der Urteilsgründe sollen
  145. die sexuellen Handlungen unter Zeitdruck mit wiederholtem Blick des Angeklagten auf die Uhr erfolgt sein; danach sollen aber der Angeklagte und das Kind
  146. ein Frühstück und einen Spaziergang mit dem Hund nicht ausgelassen haben.
  147. Die Fragwürdigkeit eines solchen Geschehens wäre bei der gebotenen Gesamtwürdigung mit in den Blick zu nehmen gewesen.
  148. 3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Verurteilung des Ange-
  149. 18
  150. klagten auf diesen Rechtsfehlern beruht.
  151. Krehl
  152. Eschelbach
  153. Bartel
  154. Zeng
  155. Grube