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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. VI ZR 394/17
  5. Verkündet am:
  6. 20. November 2018
  7. Holmes
  8. Justizangestellte
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk:
  13. ja
  14. BGHZ:
  15. nein
  16. BGHR:
  17. ja
  18. ZPO § 325; BGB § 426
  19. Werden zwei einfache Streitgenossen rechtskräftig zur Zahlung von Schadensersatz als Gesamtschuldner verurteilt, so steht ihre Haftung zwar im Verhältnis
  20. zum Gläubiger, nicht aber im Verhältnis zwischen den Streitgenossen selbst
  21. rechtskräftig fest. Jedem der rechtskräftig als Gesamtschuldner verurteilten
  22. Streitgenossen bleibt im nachfolgenden Rechtsstreit um den Innenausgleich
  23. damit die Möglichkeit, die im Vorprozess bejahte Verbindlichkeit dem Gläubiger
  24. gegenüber und damit auch das Bestehen eines Gesamtschuldverhältnisses
  25. überhaupt in Frage zu stellen (vgl. OLG Düsseldorf, NJW-RR 1992, 922, 923).
  26. BGH, Urteil vom 20. November 2018 - VI ZR 394/17 - LG Mühlhausen
  27. AG Nordhausen
  28. ECLI:DE:BGH:2018:201118UVIZR394.17.0
  29. - 2 -
  30. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  31. vom 20. November 2018 durch die Richterin von Pentz als Vorsitzende, den
  32. Richter Offenloch, die Richterinnen Dr. Roloff und Müller und den Richter
  33. Dr. Allgayer
  34. für Recht erkannt:
  35. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil der 1. Zivilkammer
  36. des Landgerichts Mühlhausen vom 27. September 2017 aufgehoben.
  37. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
  38. über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  39. Von Rechts wegen
  40. Tatbestand:
  41. 1
  42. Der Kläger nimmt den Beklagten im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs in Anspruch.
  43. 2
  44. Der Kläger ist Haftpflichtversicherer der S.-Krankenhaus gGmbH (im
  45. Folgenden: Klinik), die eine Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik betreibt. Im Jahr 2006 befand sich der damals 13-jährige Beklagte als
  46. Patient in diesem Krankenhaus. Während eines Ferienaufenthalts seiner The-
  47. - 3 -
  48. rapiegruppe vergewaltigte er einen ebenfalls minderjährigen Mitpatienten (im
  49. Folgenden: Geschädigter), der gemeinsam mit dem Beklagten in einem Zimmer
  50. untergebracht worden war. Auf Klage des Geschädigten wurden der Beklagte
  51. und die Klinik mit Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 22. Februar 2013 in
  52. der Hauptsache gesamtschuldnerisch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes
  53. von 4.000 € verurteilt; das Urteil ist rechtskräftig. In den Entscheidungsgründen
  54. dieses Urteils ist unter anderem ausgeführt:
  55. "Der Beklagte […] hat den Vorfall eingeräumt. Er hat […] die körperliche Integrität des Klägers beeinträchtigt und die Gesundheit des Klägers verletzt (§ 823 Abs. 1 BGB). Der seinerzeit noch 13-jährige Beklagte […] handelte insoweit auch schuldhaft. Dass er nach § 828 Abs.
  56. 3 BGB nicht verantwortlich wäre, ist nicht ersichtlich. Nach dieser Vorschrift ist ein Minderjähriger zwischen dem 11. und 18. Lebensjahr für
  57. den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn
  58. er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat, d. h. nach
  59. seiner individuellen Verstandesentwicklung nicht fähig wäre, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die
  60. Folgen seines Tuns bewusst zu sein (sog. intellektuelle Einsichtsfähigkeit). Diese Einsichtsfähigkeit wird widerleglich vermutet; ihr Mangel ist vom Minderjährigen zu behaupten und ggf. zu beweisen […].
  61. Diese Behauptung, die […] im Schriftsatz vom 09.05.2008 aufgestellt
  62. worden ist, war nicht haltbar. Im Rahmen der Anhörung des Beklagten
  63. […] in der mündlichen Verhandlung […] hat er unumwunden eingeräumt, dass es ihm klar war, mit anderen Menschen nicht so - wie geschehen - umgehen zu dürfen."
  64. 3
  65. Der Kläger erfüllte den titulierten Anspruch.
  66. 4
  67. In der Annahme, der Beklagte hafte für den dem Geschädigten zustehenden Schadensersatz im Innenverhältnis zur Klinik alleine, nimmt ihn der
  68. Kläger als Haftpflichtversicherer der Klinik aus nach § 86 VVG übergegangenem Recht auf Ersatz von 4.000 € (Erstattung Schmerzensgeld) und weiteren
  69. 444,83 € (Erstattung im Vorprozess aufgewendeter Rechtsanwaltskosten) nebst
  70. - 4 -
  71. Zinsen in Anspruch. Zudem verlangt er die Feststellung, der Anspruch resultiere
  72. aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung.
  73. 5
  74. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landgericht das amtsgerichtliche Urteil aufgehoben und der Klage
  75. stattgegeben. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt
  76. der Beklagte die Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils.
  77. Entscheidungsgründe:
  78. I.
  79. 6
  80. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, dem Kläger stünden als Haftpflichtversicherer der Klinik
  81. Ausgleichsansprüche aus einem Gesamtschuldverhältnis auf der Grundlage der
  82. §§ 840, 426 BGB in Verbindung mit § 86 VVG gegenüber dem Beklagten als
  83. Schädiger zu.
  84. 7
  85. Aufgrund des Urteils im Vorprozess stehe gemäß § 325 ZPO mit Rechtskraft für und gegen die Parteien fest, dass der Beklagte schuldhaft gehandelt
  86. habe. Entgegen der Auffassung des Beklagten sei dies nicht erneut zu prüfen;
  87. eine die Rechtskraft des Urteils im Vorprozess durchbrechende Einwendung
  88. gemäß § 826 BGB liege nicht vor. Dem Beklagten habe es im Vorprozess freigestanden, Berufung einzulegen, was aber nicht geschehen sei. Es sei rechtsmissbräuchlich, sich nun - nach Rechtskraft dieses Urteils - auf einen vermeintlichen Fehler des Gerichts zu berufen. Im Übrigen sei zu beachten, dass die
  89. vormalige Prozessbevollmächtigte des Beklagten im Vorprozess, und zwar im
  90. Rahmen des vom damaligen Kläger, dem Geschädigten, betriebenen Berufungsverfahrens, vorgetragen habe, die Feststellungen des Gerichts der Erstin-
  91. - 5 -
  92. stanz und die im Hinblick auf diese Feststellungen getroffenen Entscheidungen
  93. würden als richtig angesehen; eine Rüge hinsichtlich der Beweisaufnahme erster Instanz, insbesondere der unterbliebenen Einholung des angebotenen psychiatrischen Sachverständigengutachtens zur Frage der Einsichtsfähigkeit des
  94. Beklagten, sei dort nicht erhoben worden.
  95. 8
  96. Aufgrund der vorsätzlich begangenen Vergewaltigung habe der Beklagte
  97. im Innenverhältnis zur Klinik, die nach den gemäß § 325 ZPO in Rechtskraft
  98. erwachsenen Feststellungen des Landgerichts dem Geschädigten gegenüber
  99. nach § 832 Abs. 2 BGB wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht über den Beklagten hafte, den Schaden gemäß § 840 Abs. 2 BGB allein zu tragen.
  100. II.
  101. 9
  102. 1. Die zulässige Revision ist begründet. Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die dem angefochtenen Urteil zugrundeliegenden Feststellungen tragen die Beurteilung
  103. des Berufungsgerichts nicht, der Beklagte sei dem Kläger zum Ausgleich verpflichtet.
  104. 10
  105. a) Der Kläger stützt seinen Klageantrag primär auf nach § 426 Abs. 2
  106. Satz 1 BGB vom Geschädigten auf die Klinik und nach § 86 Abs. 1 VVG von
  107. der Klinik auf ihn übergangene Schadensersatzansprüche des Geschädigten.
  108. Solche Ansprüche können vorliegend aber schon deshalb nicht bejaht werden,
  109. weil das Berufungsgericht keine Feststellungen zum Bestehen eines - für den
  110. Anspruchsübergang gemäß § 426 Abs. 2 Satz 1 BGB erforderlichen - Gesamtschuldverhältnisses zwischen dem Beklagten und der Klinik getroffen hat.
  111. - 6 -
  112. 11
  113. aa) Das Berufungsgericht war der Auffassung, im vorliegenden Verfahren an das rechtskräftige Urteil des Landgerichts Mühlhausen im Vorprozess
  114. auch insoweit gebunden zu sein, als dort "mit Rechtskraft für und gegen die
  115. Parteien fest[gestellt]" worden sei, dass der Beklagte schuldhaft gehandelt habe
  116. und nicht ersichtlich sei, dass ihm nach § 828 Abs. 3 BGB die Verantwortlichkeit
  117. fehle. Das ist unzutreffend; die vom Berufungsgericht angenommene Bindung
  118. besteht nicht.
  119. 12
  120. Anders als das Berufungsgericht meint, folgt diese Bindung nicht aus
  121. § 325 Abs. 1 ZPO. Sie scheitert bereits an den subjektiven Grenzen der
  122. Rechtskraft. Nach § 325 Abs. 1 ZPO wirkt ein rechtskräftiges Urteil grundsätzlich nur für und gegen die Parteien und deren Rechtsnachfolger. Nimmt der
  123. Kläger mehrere Beklagte im Wege subjektiver Klagehäufung in Anspruch und
  124. sind die Beklagten einfache Streitgenossen, so ist dabei auf die einzelnen Prozessrechtsverhältnisse abzustellen (Gothe/Koppermann, MedR 2014, 90). Zwischen den Streitgenossen entfaltet das Urteil - von den Fällen der Streitverkündung zwischen den Streitgenossen im Rahmen ihrer Wirkung abgesehen - mithin keine Rechtskraftwirkung (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2017 - III ZR
  125. 525/16, NJW-RR 2017, 911 Rn. 10; OLG Hamm, NJW-RR 1997, 90, 91; Gothe/Koppermann, aaO; Althammer in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., § 325 Rn. 12;
  126. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl., § 325 Rn. 4; Musielak
  127. in Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl., § 325 Rn. 5; Zöller/G. Vollkommer, ZPO,
  128. 32. Aufl., § 325 Rn. 4). Werden also - wie hier im Vorprozess - zwei einfache
  129. Streitgenossen als Gesamtschuldner rechtskräftig zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt, so steht ihre Haftung zwar im Verhältnis zum Gläubiger, nicht
  130. aber zwischen den Streitgenossen selbst fest. Jedem der im Vorprozess
  131. rechtskräftig als Gesamtschuldner verurteilten Streitgenossen bleibt im nachfolgenden Rechtsstreit um den Innenausgleich damit die Möglichkeit, die im Vorprozess bejahte Verbindlichkeit dem Gläubiger gegenüber und damit auch das
  132. - 7 -
  133. Bestehen eines Gesamtschuldverhältnisses überhaupt in Frage zu stellen (vgl.
  134. OLG Düsseldorf, NJW-RR 1992, 922, 923; Gothe/Koppermann, aaO; MükoZPO/Gottwald, 5. Aufl., ZPO § 325 Rn. 12). Vor diesem Hintergrund ist für die
  135. Erwägung des Berufungsgerichts, der Beklagte habe rechtsmissbräuchlich gehandelt, weil er sich nach Rechtskraft des Urteils im Vorprozess auf einen vermeintlichen Fehler des Gerichts berufe, kein Raum; nichts anderes gilt hinsichtlich der vom Berufungsgericht weiter herangezogenen Äußerung der Prozessbevollmächtigten des Beklagten im Vorprozess, die Feststellungen des Gerichts
  136. der Erstinstanz und die im Hinblick auf diese Feststellungen getroffenen Entscheidungen würden als richtig angesehen.
  137. 13
  138. bb) Mangels abweichender Feststellungen des Berufungsgerichts ist der
  139. revisionsrechtlichen Prüfung damit die Behauptung des Beklagten zugrunde zu
  140. legen, er sei bei Begehung der Vergewaltigung nach seiner individuellen Verstandesentwicklung nicht fähig gewesen, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen seines Tuns bewusst zu
  141. sein. Jedenfalls vor dem Hintergrund, dass sich der Beklagte gerade wegen
  142. Verhaltensauffälligkeiten in stationärer Behandlung in der Klinik befunden hat,
  143. ist diese Behauptung entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ausreichend substantiiert. Ist für die revisionsrechtliche Prüfung indes davon auszugehen, dass der Beklagte bei der Vergewaltigung nicht über die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht verfügte, so scheiden gegen ihn
  144. gerichtete Schadensersatzansprüche des Geschädigten aus §§ 823 ff. BGB mit
  145. Ausnahme des § 829 BGB, zu dessen Voraussetzungen das Berufungsgericht
  146. aber ebenfalls keine Feststellungen getroffen hat, aus. Von einer "Haftung mehrerer" - wie für das Entstehen eines Gesamtschuldverhältnisses gemäß § 840
  147. Abs. 1, § 426 BGB und den Anspruchsübergang nach § 426 Abs. 2 Satz 1 BGB
  148. erforderlich - kann damit nicht ausgegangen werden.
  149. - 8 -
  150. 14
  151. b) Soweit sich der Kläger hilfsweise auf § 426 Abs. 1 BGB in Verbindung
  152. mit § 86 VVG stützt, scheitert auch dieser Anspruch daran, dass auf den für die
  153. revisionsrechtliche Prüfung maßgeblichen Sachverhalt die Annahme eines Gesamtschuldverhältnisses zwischen der Klinik und dem Beklagten nicht gestützt
  154. werden kann.
  155. 15
  156. 2. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben und die Sache an
  157. das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1
  158. ZPO). Dieses wird bei erneuter Befassung Gelegenheit haben, auch das weitere Vorbringen der Parteien im Revisionsverfahren zu berücksichtigen.
  159. von Pentz
  160. Offenloch
  161. Müller
  162. Roloff
  163. Allgayer
  164. Vorinstanzen:
  165. AG Nordhausen, Entscheidung vom 22.12.2015 - 22 C 437/15 LG Mühlhausen, Entscheidung vom 27.09.2017 - 1 S 21/16 -