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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. Urteil
  4. 3 StR 100/09
  5. vom
  6. 23. April 2009
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen Totschlags
  10. -2-
  11. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 23. April
  12. 2009, an der teilgenommen haben:
  13. Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
  14. Becker,
  15. Richter am Bundesgerichtshof
  16. von Lienen,
  17. Richterin am Bundesgerichtshof
  18. Sost-Scheible,
  19. Richter am Bundesgerichtshof
  20. Hubert,
  21. Dr. Schäfer
  22. als beisitzende Richter,
  23. Staatsanwältin
  24. als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
  25. Rechtsanwalt
  26. als Verteidiger,
  27. Justizamtsinspektor
  28. als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
  29. für Recht erkannt:
  30. -3-
  31. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
  32. Landgerichts Wuppertal vom 14. August 2008 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
  33. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  34. Von Rechts wegen
  35. Gründe:
  36. 1
  37. Das Landgericht hat die Angeklagte wegen der Tötung ihres neugeborenen Kindes des Totschlags für schuldig befunden und gegen sie eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf
  38. die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das zu Ungunsten der
  39. Angeklagten eingelegte Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt nicht vertreten wird, ist - wie die Revisionsbegründung deutlich macht - ungeachtet des
  40. umfassend gestellten Aufhebungsantrags wirksam auf den Strafausspruch beschränkt (BGHR StPO § 344 Abs. 1 Antrag 3).
  41. 2
  42. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
  43. -4-
  44. I.
  45. 3
  46. 1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
  47. 4
  48. Die zur Tatzeit 22jährige Angeklagte ist kongolesischer Herkunft und,
  49. obwohl sie sich in Deutschland gut integriert hat, stark von den traditionellen
  50. Vorstellungen Zentralafrikas geprägt. Dies kommt insbesondere im Verhältnis
  51. zu ihren Eltern zum Ausdruck, in deren Haushalt sie lebt und deren Entscheidungen sie sich bis heute unterordnet. Als sie im Jahr 2003 nach einer kurzen
  52. Beziehung mit einem aus Angola stammenden Mann schwanger geworden war,
  53. sah sie sich heftigen Vorwürfen ihrer Eltern ausgesetzt, die sie zunächst des
  54. Hauses verwiesen, worunter die Angeklagte sehr litt. Nachdem ihre Rückkehr
  55. ins Elternhaus geduldet worden war, versprach sie, dass "so etwas nie wieder
  56. vorkommen werde", und empfand tiefe Scham, ihre Eltern derart enttäuscht zu
  57. haben. Ende Dezember 2003 wurde ihr Sohn Michael geboren. Auf Grund anhaltender Schuldgefühle zog sich die Angeklagte, obwohl sie ihre Ausbildung
  58. fortsetzte und das Fachabitur erlangte, immer mehr zurück, hielt sich zumeist
  59. zu Hause auf und kümmerte sich um ihren Sohn, hatte jedoch außerhalb der
  60. Familie kaum Kontakte. Im November 2005 bemerkte sie, dass sie auf Grund
  61. eines einmaligen sexuellen Kontakts erneut schwanger geworden war. Aus
  62. Angst vor ihren Eltern ließ sie, ohne sich jemandem zu offenbaren, einen
  63. Schwangerschaftsabbruch durchführen.
  64. 5
  65. Im Sommer 2006 lernte die Angeklagte den Zeugen M.
  66. kennen, von
  67. dem sie ein weiteres Mal ungewollt schwanger wurde. Bereits Ende des Jahres
  68. 2006 beendete sie von sich aus die Beziehung, weil sie sich von dem Zeugen
  69. ausgenutzt fühlte. Als sie im Februar 2007 die Schwangerschaft feststellte, war
  70. diese, was ihr klar war, bereits zu weit fortgeschritten, um noch einen Abbruch
  71. -5-
  72. vornehmen zu können. Auf Grund ihrer introvertierten, von hoher Selbstunsicherheit geprägten Persönlichkeit und aus Angst vor ihren Eltern empfand sie
  73. ihre Situation als subjektiv ausweglos, verdrängte die Schwangerschaft sowie
  74. die bevorstehende Geburt vollständig und ging, wie gewohnt, ihrer Arbeit nach.
  75. Ihre Familie und ihr soziales Umfeld bemerkten ihre sichtbar fortschreitende
  76. Schwangerschaft, die sie nicht zu verbergen versuchte, entweder nicht, oder
  77. wollten sie nicht bemerken.
  78. 6
  79. An einem Sonntag zwischen Mitte und Ende Mai 2007 setzte während
  80. einer vorübergehenden Abwesenheit der übrigen Familienmitglieder für die Angeklagte überraschend der Geburtsvorgang ein. Die Angeklagte legte sich in
  81. die Badewanne und brachte ein lebendes Mädchen zur Welt. Aus Angst und
  82. Verzweiflung, ihre Eltern könnten sie mit dem Kind vorfinden und sie dann aus
  83. der Familie verstoßen, geriet sie in einen starken Erregungszustand, in welchem sie einem spontanen Entschluss folgend, das neugeborene Kind tötete,
  84. indem sie diesem zwei bis dreimal Mund und Nase zuhielt bis es sich nicht
  85. mehr bewegte. Anschließend verbarg sie die Leiche des Neugeborenen und die
  86. Nachgeburt, verpackt in einer Plastiktüte, im Keller des Hauses und beseitigte
  87. sodann im Bad die Spuren der Geburt. Zwar wurde sie von heftigen Schuldgefühlen gequält, ging aber bereits am nächsten Tag wieder wie gewohnt ihrer
  88. Arbeit nach. Die Leiche des Kindes wurde erst ca. ein halbes Jahr später in
  89. stark verwestem Zustand aufgefunden.
  90. 7
  91. 2. Das Landgericht hat eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit
  92. der Angeklagten zur Tatzeit im Sinne des § 21 StGB bejaht und die Strafe dem
  93. zusätzlich nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des minder
  94. schweren Falles des Totschlags (§ 213 2. Alt. StGB) entnommen.
  95. -6-
  96. II.
  97. 8
  98. Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Da bereits
  99. die Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit durchgreifenden Bedenken
  100. unterliegt, kommt es auf die Einwendungen, die die Beschwerdeführerin gegen
  101. die doppelte Milderung des Strafrahmens des § 212 StGB und die Bewilligung
  102. der Strafaussetzung zur Bewährung erhebt, nicht an.
  103. 9
  104. 1. In Übereinstimmung mit der psychiatrischen Sachverständigen ist die
  105. Strafkammer davon ausgegangen, die Angeklagte habe sich bei Begehung der
  106. Tat vor dem Hintergrund ihrer selbstunsicheren, leicht beeinflussbaren und mit
  107. einem mangelhaften Problemlösungskonzept ausgestatteten Persönlichkeit,
  108. ferner mit Blick auf ihre spezielle familiäre Situation, insbesondere ihre tief verwurzelte Angst, von ihren Eltern mit dem Kind entdeckt und sodann verstoßen
  109. zu werden, sowie unter Berücksichtigung der stark belastenden Situation der
  110. überraschenden und heimlichen Geburt in einem "psychischen Ausnahmezustand" befunden, der "in seiner Schwere dem Eingangsmerkmal einer 'schweren anderen seelischen Abartigkeit' " entsprochen habe. Infolge übermächtig
  111. gewordener Gefühle der Angst, Verzweiflung und Ausweglosigkeit sei die Steuerungsfähigkeit der Angeklagten im Tatzeitpunkt sicher erheblich eingeschränkt
  112. gewesen.
  113. 10
  114. 2. Die Urteilsgründe belegen nicht, dass der "psychische Ausnahmezustand" der Angeklagten einem Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB zuzuordnen ist. Die Voraussetzungen erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit sind
  115. daher nicht festgestellt, so dass sich die Strafrahmenverschiebung nach §§ 21,
  116. 49 Abs. 1 StGB als rechtsfehlerhaft erweist.
  117. -7-
  118. 11
  119. Das Landgericht hat, der Sachverständigen folgend, zunächst eine psychische Erkrankung der Angeklagten ausgeschlossen. Es ist ferner - ohne dies
  120. freilich im Einzelnen zu begründen, jedoch mit Blick auf die hierdurch nicht
  121. schwerwiegend beeinträchtigte Lebensführung der Angeklagten im Ergebnis
  122. rechtsfehlerfrei (vgl. BGH NStZ-RR 2008, 274 m. w. N.) - davon ausgegangen,
  123. dass die Persönlichkeitsdefizite der Angeklagten lediglich Merkmale einer akzentuierten Persönlichkeit seien, jedoch "keinerlei Krankheitswert" aufwiesen.
  124. Auch war der festgestellte Erregungszustand nicht von Dauer, sondern trat nur
  125. akut in der konkreten Belastungssituation auf. Damit schieden eine krankhafte
  126. seelische Störung und eine schwere andere seelische Abartigkeit infolge einer
  127. Persönlichkeitsstörung als Eingangsmerkmale im Sinne des § 20 StGB für die
  128. Annahme einer verminderten Steuerungsfähigkeit aus (vgl. Fischer, StGB
  129. 56. Aufl. § 20 Rdn. 39).
  130. 12
  131. Der aus Sicht der Strafkammer für die verminderte Steuerungsfähigkeit
  132. ausschlaggebende, auf mehreren Ursachen beruhende psychische Ausnahmezustand, in dem sich die Angeklagte bei Begehung der Tat befunden haben
  133. soll, wird im Urteil auch einer anderen Eingangsvoraussetzung des § 20 StGB
  134. nicht zugeordnet. In der Rechtsprechung ist zwar anerkannt, dass bei einem in
  135. äußerster Erregung handelnden Täter eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung
  136. vorliegen kann, wenn der hochgradige affektive Ausnahmezustand eine Intensität erreicht, die in ihrer Auswirkung auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit
  137. den krankhaften seelischen Störungen im Sinne der §§ 20, 21 StGB gleichwertig ist, wobei dies vor dem Hintergrund des Verhaltens des Täters vor, während
  138. und nach der Tat zu untersuchen und zu beurteilen ist (vgl. BGHR StGB § 21
  139. Bewusstseinsstörung 4). Vom Vorliegen dieses nach den getroffenen Feststellungen einzig in Betracht kommenden Eingangsmerkmals im Sinne der §§ 20,
  140. 21 StGB ist das Landgericht nach den insoweit eindeutigen Ausführungen im
  141. -8-
  142. Urteil indes ausdrücklich nicht ausgegangen. Vielmehr hat es in Übereinstimmung mit der Sachverständigen dargelegt, im Tatzeitraum hätten bei der Angeklagten keine Hinweise auf eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung, etwa im
  143. Sinne eines Affekts, bestanden, da die Angeklagte die Geschehnisse wahrgenommen und detailliert erinnert habe.
  144. 13
  145. Zwar kann im Einzelfall offen bleiben, welchem der sich teilweise überschneidenden Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB ein die Schuldfähigkeit
  146. beeinträchtigender psychischer Zustand zuzurechnen ist, wenn jedenfalls feststeht, dass er einem der Merkmale unterfällt und deswegen die Schuldfähigkeit
  147. aufgehoben oder erheblich vermindert ist. Dies kann den Urteilsfeststellungen
  148. indes nicht entnommen werden. Das Landgericht hat vielmehr gerade offen gelassen, ob überhaupt ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB vorliegt.
  149. 14
  150. 3. Bei der erneuten Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB wird zu
  151. beachten sein, dass bei Kindstötungen im Sinne des § 217 StGB aF eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit kaum in Betracht kommen wird,
  152. wenn bei der Täterin außer der Belastung durch die Geburt keine schon unabhängig hiervon bestehenden geistig-seelischen Beeinträchtigungen festzustellen sind (vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1 Kindstötung 1; BGH NStZ-RR 2008,
  153. 308). Die psychische Ausnahmesituation einer Mutter, die ihr Kind in oder
  154. gleich nach der Geburt tötet, kann in einem solchen Fall jedoch bei der Anwendung des § 213 StGB Berücksichtigung finden (BGH NStZ-RR 2004, 80).
  155. -9-
  156. 15
  157. Es wird sich empfehlen, für die neue Hauptverhandlung einen anderen
  158. Sachverständigen hinzuzuziehen.
  159. Becker
  160. von Lienen
  161. Hubert
  162. Sost-Scheible
  163. Schäfer