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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 66/11
vom
5. April 2011
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
-2-
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführerin am 5. April 2011 gemäß § 349 Abs. 4
StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Hannover vom 2. November 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
1
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung
zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich die
Angeklagte mit ihrer auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revision. Das
Rechtsmittel hat Erfolg.
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1. Nach den Feststellungen ging die Angeklagte am frühen Morgen des
1. Juni 2009 gegen 6.30 Uhr zu Fuß in Richtung ihrer Wohnung und überholte
dabei den angetrunkenen Zeugen K.
, von dem sie angesprochen wurde.
Sie war wütend, reagierte gereizt und sagte dem Mann, er solle sie in Ruhe lassen. Es kam zwischen den Kontrahenten zu einem Wortwechsel mit gegenseitigen Beleidigungen. Als der Zeuge K.
auf sie zutrat, zog die Angeklagte
in der Annahme, sie werde geschlagen, ein Taschenmesser mit einer ca. 4,5
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cm langen Klinge. Entgegen ihrer Erwartung bedrängte sie der Zeuge weiter.
Es entwickelte sich ein Handgemenge, bei dem die Kopfhörer ihres MP3Players zerstört wurden und K.
eine überwiegend oberflächliche
Schnittverletzung an der linken Unterarmseite erlitt. Anschließend nahm die
Angeklagte das auf den Boden gefallene Mobiltelefon des Zeugen an sich und
erklärte, sie werde dieses erst herausgeben, wenn dieser für die zerstörten
Kopfhörer Schadensersatz leiste. Dann setzte sie ihren Weg nach Hause fort.
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Der Zeuge K.
folgte der Angeklagten und verlangte von ihr im-
mer wieder die Herausgabe seines Mobiltelefons. Die Angeklagte erwiderte, er
bekomme es nur zurück, wenn er ihren Schaden ersetze. Beide Kontrahenten
erwogen auch, zu einer nahe gelegenen Polizeistation zu gehen. Die Angeklagte drehte sich immer wieder um und zeigte K.
das Messer, um ihn auf
Abstand zu halten. Vor dem Haus, in dem sie wohnte, trat der Zeuge an sie
heran und versuchte, ihr das Messer aus der Hand zu treten, um sein Mobiltelefon wieder an sich bringen zu können. Es entwickelte sich eine Auseinandersetzung, bei der der Zeuge der Angeklagten eine Verletzung im Gesicht zufügte.
Diese stach schließlich mit dem Taschenmesser in die Brust des Zeugen, der
eine potentiell lebensgefährliche Verletzung erlitt. Nach dem Stich warf die Angeklagte das Messer weg und lief, von dem Geschädigten verfolgt, in ihre Wohnung. Bei Begehung der Tat war sie wegen einer Mischintoxikation aus Alkohol
(Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit maximal 1,52 ‰) und Cannabis im Zusammenwirken mit akzentuierten Persönlichkeitszügen in ihrer Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt.
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Das Landgericht hat einen bedingten Tötungsvorsatz sowie einen direkten Körperverletzungsvorsatz bejaht. Es ist davon ausgegangen, dass die An-
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geklagte vom unbeendeten Versuch des Totschlags mit strafbefreiender Wirkung zurückgetreten ist.
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2. Die getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) nicht. Das Landgericht hat nicht geprüft, ob der Messerstich durch Notwehr gerechtfertigt war
oder die Angeklagte ohne Schuld handelte. Hierzu bestand nach dem festgestellten Sachverhalt indes Anlass. Im Einzelnen:
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a) Die Wegnahme des Mobiltelefons durch die Angeklagte kann möglicherweise durch Selbsthilfe gemäß § 229 BGB (vgl. zu deren Voraussetzungen
im Einzelnen Staudinger/Repgen, BGB, Neubearb. 2009, § 229 Rn. 10 ff.,
17 ff., 21 ff., 35 ff.; LK/Rönnau, StGB, 12. Aufl., vor § 32 Rn. 270 f.) gerechtfertigt gewesen sein. Danach handelt u.a. derjenige, der zum Zwecke der Selbsthilfe eine Sache wegnimmt, nicht widerrechtlich, wenn obrigkeitliche Hilfe nicht
rechtzeitig zu erlangen ist und ohne sofortiges Einschreiten die Gefahr besteht,
dass die Verwirklichung eines Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert
wird. Derjenige, dem ein Schaden zugefügt worden ist, kann grundsätzlich von
einem unbekannten Schadensverursacher verlangen, zur eventuellen gerichtlichen Klärung des Schadensersatzanspruches die Personalien bekannt zu geben. Zur Sicherung dieses Anspruchs steht ihm unter den Voraussetzungen
des § 229 BGB ein Festnahmerecht zu, wenn die Gefahr besteht, dass sich
dieser der Feststellung seiner Personalien durch Flucht entziehen will. Um die
Identifizierung eines fluchtverdächtigen Schuldners mit Namen und ladungsfähiger Anschrift zu ermöglichen und dadurch dessen Festnahme zu vermeiden,
darf der Geschädigte grundsätzlich im Wege der Selbsthilfe eine dem Schuldner gehörende Sache wegnehmen (Staudinger/Repgen, aaO, § 229 Rn. 35 und
§ 230 Rn. 1; Soergel/Wolf, BGB, 13. Aufl., § 229 Rn. 12).
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Auf der Grundlage der Feststellungen liegt es nahe, dass der Angeklagten objektiv ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB gegen den
Zeugen K.
zustand. Denn dieser war auf die Angeklagte losgegangen
und hatte sie gegen ihren Willen in ein Handgemenge verwickelt, bei dem der
Kopfhörer ihres MP3-Players zerstört wurde. Daraufhin nahm die Angeklagte
das Mobiltelefon an sich, um - wie sich aus ihren Äußerungen ergibt - Schadensersatz zu erlangen. Sofortige obrigkeitliche Hilfe durch die Polizei war für
sie jedenfalls zum Zeitpunkt der Wegnahme des Mobiltelefons nicht zu erreichen, weil die Gefahr bestand, dass sich der Zeuge alsbald entfernte und deshalb der Schadensersatzanspruch gegen ihn nicht durchgesetzt werden konnte.
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b) Sollte die Angeklagte das Mobiltelefon durch erlaubte Selbsthilfe
(§ 229 BGB) an sich genommen haben, so könnte der von ihr gesetzte Messerstich möglicherweise durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt gewesen sein.
Die Wegnahme einer Sache im Wege erlaubter Selbsthilfe ist rechtmäßig, sodass gegen sie kein Notwehrrecht besteht (Fischer, StGB, 58. Aufl., § 32 Rn. 22
mwN; Soergel/Wolf, aaO, § 229 Rn. 20, 24; Palandt/Ellenberger, BGB, 70.
Aufl., § 229 Rn. 9). Insbesondere stellt sie sich - da das Gesetz die Wegnahme
gestattet - nicht als verbotene Eigenmacht gemäß § 858 Abs. 1 BGB dar. Da im
Falle erlaubter Selbsthilfe der Schuldner verpflichtet ist, die Selbsthilfehandlung
hinzunehmen, könnte der Versuch des Zeugen K.
, der Angeklagten das
Mobiltelefon mit Gewalt wieder abzunehmen, ein gegenwärtiger rechtswidriger
Angriff gewesen sein, gegen den sie sich im Rahmen des Erforderlichen und
Gebotenen verteidigen durfte (HansOLG Hamburg, Urteil vom 14. April 1969 - 8
U 91/68, MDR 1969, 759; Staudinger/Repgen, aaO, § 229 Rn. 36, 38; Soergel/Wolf, aaO, § 229 Rn. 20).
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c) Selbst wenn das Verhalten der Angeklagten nicht durch Notwehr gerechtfertigt gewesen sein sollte, könnte sie irrig von den tatsächlichen Voraussetzungen einer Notwehrsituation ausgegangen sein (vgl. Fischer, aaO, § 32
Rn. 50 f.), einem Verbotsirrtums (vgl. Fischer, aaO, § 32 Rn. 52) unterlegen
sein oder wegen eines intensiven Notwehrexzesses (§ 33 StGB) ohne Schuld
gehandelt haben.
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d) Ob eine der dargestellten Möglichkeiten vorliegend in Betracht kommt,
kann der Senat anhand der bisherigen Feststellungen nicht beurteilen. Diese
sind sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht lückenhaft, sodass ihm
eine rechtliche Bewertung aufgrund einer gesicherten Tatsachengrundlage verwehrt ist. Die zunächst berechtigte Selbsthilfe könnte etwa objektiv dadurch
unerlaubt geworden sein, dass die Angeklagte nicht unverzüglich zu der nahe
gelegenen Polizeistation gegangen ist, um mit Hilfe der Polizei die Personalien
des Zeugen K.
festzustellen. Aus welchen Gründen sie davon abgese-
hen hat, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Da die Angeklagte den
Einsatz des Messers gegen den unbewaffneten Zeugen zuvor mehrmals angedroht hatte, fehlt es jedenfalls nicht von vorneherein an der Erforderlichkeit der
Verteidigung.
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3. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
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Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass allein
aus der Kenntnis des Täters von der Lebensgefährlichkeit einer Handlung nicht
ohne Weiteres auf die billigende Inkaufnahme des Todes geschlossen werden
kann. Vielmehr ist in Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit eine umfassende Würdigung aller objektiven und subjektiven Tatumstände erforderlich. Wegen der regelmäßig hohen Hemmschwelle gegenüber einer Tötung sind vor
allem auch die konkrete Angriffsweise und Tatsituation sowie die psychische
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Verfassung des Täters sowie seine Motivation in die Beweiswürdigung einzubeziehen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. November 2002 - 3 StR 216/02, BGHR
StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 55; BGH, Beschluss vom 8. Mai 2008
- 3 StR 142/08, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 62; Fischer, aaO,
§ 212 Rn. 6, 7 ff. mwN).
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von Lienen
RiBGH Mayer befindet sich
im Urlaub und ist daher
gehindert zu unterschreiben.
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