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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 226/10
  4. vom
  5. 20. Januar 2011
  6. in der Abschiebungshaftsache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. AufenthG § 72 Abs. 4 Satz 1; FamFG § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5
  14. a) Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG
  15. kann auch allgemein erteilt werden.
  16. b) Werden Ermittlungsverfahren durch mehrere Staatsanwaltschaften geführt, müssen alle ein Verfahren führenden Staatsanwaltschaften nach § 72 Abs. 4 Satz 1
  17. AufenthG der Abschiebung zustimmen.
  18. c) In dem Haftantrag muss nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG dargelegt werden,
  19. dass die zuständige(n) Staatsanwaltschaft(en) allgemein oder im Einzelfall ihr Einvernehmen mit der Abschiebung nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erklärt hat
  20. (haben), wenn sich aus dem Antrag selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen
  21. ohne weiteres ergibt, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den
  22. Betroffenen anhängig ist. Fehlen sie, ist der Antrag mangels ausreichender Begründung unzulässig (Fortführung von Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 – V ZB
  23. 28/10, NVwZ 2010, 1511).
  24. BGH, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10 - LG Heilbronn
  25. AG Heilbronn
  26. -2-
  27. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Januar 2011 durch den
  28. Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richter Dr. Lemke, Dr. SchmidtRäntsch und Dr. Roth und die Richterin Dr. Brückner
  29. beschlossen:
  30. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss
  31. der 1. Zivilkammer des Landgerichts Heilbronn vom 27. Juli 2010
  32. aufgehoben.
  33. Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung,
  34. auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das
  35. Beschwerdegericht zurückverwiesen.
  36. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  37. 3.000 €.
  38. Gründe:
  39. I.
  40. 1
  41. Der Betroffene, ein nigerischer oder nigerianischer Staatsangehöriger,
  42. beantragte erfolglos die Gewährung von Asyl. Das zuständige Bundesamt forderte den Betroffenen mit seit 14. Mai 2002 bestandskräftigem Ablehnungsbescheid vom 11. Juni 2001 unter Androhung der Abschiebung in den Niger zur
  43. Ausreise auf. Dieser Aufforderung leistete der Betroffene nicht Folge. Er war
  44. nach Ablauf der Ausreisefrist für die Behörden nicht mehr erreichbar. Mit Bescheid vom 20. April 2010 bestimmte das Bundesamt Nigeria als weiteren Zielstaat der beabsichtigten Abschiebung. Der Betroffene wurde am 7. Juli 2010
  45. -3-
  46. wegen Diebstahlsverdachts in Heilbronn festgenommen. Der Beteiligte zu 2
  47. wies ihn mit Bescheid vom 23. Juli 2010 auf der Grundlage von § 55 Abs. 1 und
  48. 2 Nr. 2 AufenthG wegen diverser, teilweise strafrechtlich geahndeter Verstöße
  49. gegen Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes aus und ordnete die sofortige
  50. Vollziehbarkeit an.
  51. 2
  52. Auf den Antrag des Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht am 7. Juli 2010
  53. die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis längstens 6. Oktober 2010 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der
  54. er nach der erfolgten Abschiebung am 5. Oktober 2010 die Feststellung erreichen möchte, dass die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung ihn in
  55. seinen Rechten verletzt haben.
  56. II.
  57. 3
  58. Das Beschwerdegericht hält den Betroffenen für vollziehbar ausreisepflichtig. Denn die Ausweisung sei sofort vollziehbar und die Abschiebungsandrohung bestandskräftig. Abschiebungshindernisse bestünden nicht. Mit der
  59. verwaltungsgerichtlichen Klage habe sich der Betroffene - zudem erfolglos - nur
  60. gegen die Bestimmung Nigerias zum weiteren Zielstaat und gegen die weitere
  61. Feststellung des Bundesamts gewandt, dass insoweit ein Abschiebungsverbot
  62. nach § 60 AufenthG nicht bestehe. Einer persönlichen Anhörung im Beschwerdeverfahren habe es nicht bedurft, da keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten gewesen seien.
  63. III.
  64. 4
  65. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
  66. -4-
  67. 5
  68. 1. Die nach Erledigung der Hauptsache auf Feststellung nach § 62
  69. Abs. 1 FamFG gerichtete Rechtsbeschwerde ist statthaft (Senat, Beschluss
  70. vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 151 Rn. 9) und auch
  71. im Übrigen zulässig (§ 71 Abs. 1 und 2 FamFG).
  72. 6
  73. 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die bisherigen Feststellungen rechtfertigen weder die Anordnung der Abschiebungshaft noch die Zurückweisung der Beschwerde.
  74. 7
  75. a) Zu Unrecht macht die Rechtsbeschwerde allerdings geltend, der Haftantrag des Beteiligten zu 2 habe den gesetzlichen Anforderungen des § 417
  76. Abs. 2 Satz 1 FamFG nicht entsprochen.
  77. 8
  78. aa) Nach dieser Vorschrift ist der Haftantrag zu begründen. Dazu muss
  79. der Antrag nicht nur Angaben zur Identität des Betroffenen, zu seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort, zur Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung und zu deren
  80. erforderlicher Dauer enthalten (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 4 FamFG). Nach
  81. § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG müssen in dem hier gegebenen Fall der Anordnung von Abschiebungshaft neben der Verlassenspflicht des Betroffenen
  82. (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512
  83. Rn. 10, 12) auch die Voraussetzungen und die Durchführbarkeit der Abschiebung dargelegt werden. Diesen Anforderungen genügt der von dem Beteiligten
  84. zu 2 vorgelegte Antrag indessen. Der Beteiligte zu 2 hat inhaltlich nicht nur die
  85. Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebung als solcher, sondern insbesondere mit dem Verhalten des Betroffenen bei der Beschaffung von Ersatzpapieren auch Umstände dargelegt, aus denen er die Notwendigkeit ableitet,
  86. zur Sicherung der Abschiebung die Haft anzuordnen. Er hat auch erläutert,
  87. dass und aus welchen Gründen es aus seiner Sicht gelingen wird, innerhalb
  88. -5-
  89. von drei Monaten Passersatzpapiere für die Abschiebung des Betroffenen entweder in den Niger oder nach Nigeria zu beschaffen. Das war ausreichend.
  90. 9
  91. bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass sich der Antrag
  92. nicht dazu verhält, ob das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorlag. Ausführungen dazu gehören zu der
  93. Darlegung der Voraussetzungen der Abschiebung, die ein Antrag nach § 417
  94. Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG unbedingt enthalten muss, wenn sich aus ihm
  95. selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass ein
  96. strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist. Das Fehlen entsprechender
  97. Ausführungen ist dann schon ein Begründungsmangel, der zur Unzulässigkeit
  98. des Antrags führt (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, NVwZ
  99. 2010, 1511, 1512 Rn. 10, 14 f.). So liegt es hier indessen nicht. Der Antrag lässt
  100. nicht ohne weiteres erkennen, dass wegen des Ladendiebstahls bereits ein
  101. strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet oder das auf dem Stammblatt
  102. des Beteiligten zu 2 am Ende angeführte Strafverfahren noch anhängig war.
  103. 10
  104. b) Die Haftanordnung musste entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde auch nicht bis zur Vorlage der vollständigen Ausländerakte zurückgestellt werden.
  105. 11
  106. aa) Diese ist dem Gericht zwar nach § 417 Abs. 2 Satz 3 FamFG mit der
  107. Antragstellung vorzulegen und regelmäßig auch notwendige Grundlage der
  108. Entscheidung über die Anordnung der Sicherungshaft (BVerfG, NVwZ 2008,
  109. 304, 305; InfAuslR 2008, 358, 360; NJW 2009, 2659, 2660; Beschlussempfehlung zum FamFG in BT-Drucks. 16/9733 S. 299). Etwas anderes gilt aber dann,
  110. wenn sich der unter Beiziehung der Ausländerakte festzustellende Sachverhalt
  111. aus den vorgelegten Teilen vollständig ergibt und die nicht vorgelegten Teile
  112. keine weiteren Erkenntnisse versprechen (Senat, Beschluss vom 4. März 2010
  113. -6-
  114. - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 332 Rn. 19). So liegt es hier. Der Beteiligte zu 2
  115. hatte den maßgeblichen Sachverhalt in seinem Antrag dargelegt und dessen
  116. wesentliche Teile, insbesondere die Angaben zur Ausreisepflicht und zur Nationalität des Betroffenen, mit - wenn auch zum Teil nur auszugsweisen - Kopien
  117. der maßgeblichen Bescheide und mit Urkunden der nigerianischen Behörden
  118. unterlegt. Dass das Gericht den übrigen Teilen der Ausländerakte weitere entscheidungserhebliche Informationen hätte entnehmen können, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich.
  119. 12
  120. bb) Der Hinweis darauf, dass sich das Beschwerdegericht vollständige
  121. Kopien der Bescheide des zuständigen Bundesamts über die Zurückweisung
  122. des Asylantrags des Betroffenen nebst Verlassensanordnung und Abschiebungsandrohung hat vorlegen lassen, gibt hierfür keinen Anhaltspunkt. Denn
  123. die vorgelegten auszugsweisen Kopien enthielten den Tenor der Bescheide und
  124. genügten für die Prüfung. Ein in der Vorlage nur auszugsweiser Kopien etwa
  125. liegender Verstoß des Amtsgerichts gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 26
  126. FamFG) wäre damit zudem geheilt worden (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Juni
  127. 2010 - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172, 1174 Rn. 36; Keidel/Budde, FamFG,
  128. 16. Aufl., § 62 Rn. 22).
  129. 13
  130. cc) Die allgemein gehaltene Rüge, dass Gericht habe sich nicht auf die
  131. Angaben des Betroffenen stützen dürfen, ist unzureichend. Denn neben den
  132. Tatsachen, die einen Verfahrensfehler ergeben, ist auch die mögliche Entscheidungserheblichkeit der gerügten Rechtsverletzung darzulegen (vgl. BGH,
  133. Beschluss vom 19. Dezember 2002 - VII ZR 101/09, NJW 2003, 831 f.; Keidel/Meyer-Holz, aaO, § 71 Rn. 39; MünchKomm-ZPO/Wenzel, 3. Aufl., § 557
  134. Rn. 29 i.V.m. § 551, Rn. 22). Jedenfalls daran fehlt es hier. Der Betroffene
  135. macht nicht geltend, er habe sich der Abschiebung zur Verfügung gehalten. Er
  136. räumt im Gegenteil ein, dass er jedenfalls zeitweise untergetaucht ist, und hat
  137. -7-
  138. nach eigenem Bekunden auf keinen Fall in sein Heimatland zurückkehren wollen.
  139. c) Zu beanstanden ist aber, dass das Amtsgericht und das Beschwerde-
  140. 14
  141. gericht weder die Voraussetzungen eines konkreten Haftgrundes bei Anordnung der Haft festgestellt haben, noch, dass es gelingen werde, die Abschiebung innerhalb der Frist von drei Monaten nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG
  142. durchzuführen.
  143. aa) Die Haftgerichte sind auf Grund von Art. 20 Abs. 3 GG verfassungs-
  144. 15
  145. rechtlich und auf Grund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Insbesondere die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG notwendige Prognose hat der Haftrichter auf der Grundlage einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage zu treffen (BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660). Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch insoweit Maßstäbe für die
  146. Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die
  147. tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare
  148. Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den
  149. Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage
  150. haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfG, NJW 2009,
  151. 2659, 2660; Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184,
  152. 323, 329 f. Rn. 14).
  153. bb) Diesen Anforderungen genügen die angefochtenen Entscheidungen
  154. 16
  155. nicht.
  156. -8-
  157. 17
  158. (1) Der Beschluss des Amtsgerichts lässt schon nicht erkennen, auf welchen der in § 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorgesehenen Haftgründe die Haftanordnung gestützt werden soll. Mit den von dem Beteiligten zu 2 angeführten
  159. Haftgründen nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 AufenthG befasst sich das
  160. Amtsgericht nicht. Auf den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG
  161. sowie auf den von dem Beteiligten zu 2 nicht genannten, aber auch in Betracht
  162. kommenden Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG könnte die
  163. Haftanordnung auch nicht ohne Weiteres gestützt werden. Denn die Haft ist
  164. unverhältnismäßig, wenn der Ausländer sich offensichtlich nicht der Abschiebung entziehen will (vgl. BVerfG, InfAuslR 1994, 342, 344; Hailbronner, AuslR,
  165. Stand 61. Aktual. Dezember 2008, § 62 AufenthG Rn. 32). Für den Haftgrund
  166. nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG, den das Amtsgericht möglicherweise
  167. im Blick gehabt hat, müssten Anhaltspunkte für die Absicht des Betroffenen,
  168. sich der Abschiebung zu entziehen (§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG), festgestellt werden. Dazu reicht die Feststellung des Amtsgerichts, der Betroffene
  169. werde nicht freiwillig ausreisen, nicht. Das ist nämlich nach § 58 Abs. 1 AufenthG Voraussetzung dafür, dass die Abschiebung überhaupt angeordnet werden darf. Sie ergibt nicht schon für sich genommen den für die Anordnung der
  170. Haft nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG erforderlichen begründeten Verdacht, der Betroffene wolle sich der Abschiebung entziehen. Dieser Fehler
  171. könnte zwar im Beschwerdeverfahren geheilt werden. Das hat der Senat für
  172. den Fall entschieden, dass die Haftanordnung auf einen nicht gegebenen Haftgrund gestützt wird, ein solcher aber vorliegt (Senat, Beschluss vom 22. Juli
  173. 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 10). Für den hier gegebenen Fall der
  174. fehlenden Benennung des Haftgrunds gälte nichts anderes. Das Beschwerdegericht hat von dieser Möglichkeit indessen keinen Gebrauch gemacht und
  175. auch seinerseits weder einen Haftgrund benannt noch Feststellungen zu dessen Voraussetzungen getroffen.
  176. -9-
  177. 18
  178. (2) Unzureichend sind auch die Feststellungen des Amtsgerichts und des
  179. Beschwerdegerichts zu dem Vorliegen des Hafthindernisses nach § 62 Abs. 2
  180. Satz 4 AufenthG. Danach darf die Haft nicht angeordnet werden, wenn feststeht, dass die Abschiebung aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten
  181. hat, nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Der
  182. Haftrichter hat dazu eine Prognose anzustellen und diese auf alle im konkreten
  183. Fall ernsthaft in Betracht kommenden Umstände zu erstrecken, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschluss vom
  184. 8. Juli 2010 - V ZB 89/10, juris Rn. 8 und vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 22). Diese Prognose ist im Rechtsbeschwerdeverfahren
  185. zwar nur eingeschränkt überprüfbar (Senat, aaO), hier aber zu beanstanden.
  186. Das Amtsgericht hat die erforderliche Prognose nicht angestellt. Das Beschwerdegericht hat seine Prognose unzulässig auf das Vorliegen von Abschiebungshindernissen allein unter dem Gesichtspunkt der Rechtsmittelverfahren des Betroffenen gegen die Abschiebungs- beziehungsweise Ausweisungsverfügung verkürzt.
  187. 19
  188. Dieser Mangel hat sich allerdings nicht ausgewirkt. Aus dem späteren
  189. tatsächlichen Geschehensablauf kann nämlich auf den mutmaßlichen Inhalt
  190. einer gebotenen, aber unterlassenen Prognose geschlossen werden (Senat,
  191. Beschluss vom 22. Juli 2010 – V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 24). Hier ist
  192. die Abschiebung wenn auch nur einen Tag vor dem Ende der angeordneten
  193. Haft erfolgt. Eine entsprechende Prognose hätte die Haft und deren Dauer gerechtfertigt.
  194. 20
  195. d) Weder das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht haben sich mit
  196. der hiervon zu trennenden Frage befasst, ob der Beteiligte zu 2 die Beschaffung der Ersatzpapiere für den Betroffenen mit der gebotenen (Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, juris Rn. 16 f.) Beschleunigung be-
  197. - 10 -
  198. trieb. Dazu bestand aber Anlass, weil die nigerianischen Behörden dem Betroffenen Ersatzpapiere nur erteilen wollten, wenn er sie nicht in den nächsten zwei
  199. Monaten von den Behörden des Staats Niger erhielt, und weil dieser Zeitraum
  200. zur Klärung der Frage genutzt werden sollte, ob der Betroffene doch, wie bislang angenommen, Angehöriger dieses Staats ist.
  201. 21
  202. e) Nicht festgestellt ist schließlich auch, ob für die Anordnung der Abschiebungshaft das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft nach
  203. § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlich war und vorlag.
  204. 22
  205. aa) Nach der genannten Vorschrift darf ein Ausländer nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben
  206. werden, wenn gegen ihn öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches
  207. Ermittlungsverfahren eingeleitet ist. Liegt das danach erforderliche Einvernehmen nicht vor, darf die Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht angeordnet
  208. werden (Senat, Beschlüsse vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574,
  209. 1575 Rn. 8 und vom 18. August 2010 - V ZB 211/10, juris Rn. 10).
  210. 23
  211. bb) Ob gegen den Betroffenen öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig war und ob die zuständige Staatsanwaltschaft der Ausweisung und Abschiebung zugestimmt hatte, haben weder
  212. das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht festgestellt. Dazu bestand aber
  213. Veranlassung. Die Haftakte beginnt mit der Feststellung, der Betroffene sei als
  214. Ladendieb festgenommen worden. Aus dem Stammblatt der Ausländerakte des
  215. Beteiligten zu 2 über den Betroffenen ergibt sich, dass die Außenstelle Dortmund des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auf ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Halberstadt hingewiesen und um Unterrichtung der
  216. Staatsanwaltschaft bei „Auftauchen“ des Betroffenen gebeten hatte. Deshalb
  217. - 11 -
  218. war nach § 26 FamFG von Amts wegen festzustellen, ob das zutraf und ob die
  219. Staatsanwaltschaft das erforderliche Einvernehmen erteilt hatte.
  220. IV.
  221. 24
  222. Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif. Es ist trotz der zwischenzeitlich
  223. erfolgten Abschiebung des Betroffenen nicht auszuschließen, dass die fehlenden Feststellungen noch getroffen werden können. Die Sache ist deshalb nach
  224. § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung an
  225. das Beschwerdegericht zurückzuverweisen. Dafür weist der Senat auf Folgendes hin:
  226. 25
  227. 1. Zunächst wird der Frage nachzugehen sein, ob bei Stellung des Haftantrags und bei der Entscheidung des Beschwerdegerichts gegen den Betroffenen eines oder mehrere strafrechtliche Ermittlungsverfahren schon oder noch
  228. anhängig waren. Sollte das der Fall sein, wäre weiter zu prüfen, ob sämtliche
  229. Staatsanwaltschaften, die Verfahren gegen den Betroffenen führten, ihr erforderliches Einvernehmen allgemein oder im Einzelfall erteilt hatten. Sollten seinerzeit eines oder mehrere strafrechtliche Ermittlungsverfahren anhängig gewesen sein und das erforderliche Einvernehmen der beteiligten Staatsanwaltschaft(en) nicht vorgelegen haben, ist die Verletzung des Betroffenen in seinen
  230. Rechten sowohl durch die Haftanordnung als auch durch die Beschwerdeentscheidung festzustellen. Denn dieser Mangel ist nicht heilbar.
  231. 26
  232. 2. Sollte sich ergeben, dass entweder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren nicht anhängig war oder das Einvernehmen vorlag, wäre weiter festzustellen, ob der den Vorinstanzen vorgelegte Tatsachenstoff einen Haftgrund
  233. ergibt und ob der Beteiligte zu 2 die Beschaffung der Ersatzpapiere mit der gebotenen Beschleunigung betrieb. Dem Betroffenen bislang nicht bekannte Ergebnisse einer etwa erforderlichen ergänzenden Sachaufklärung nach § 26
  234. - 12 -
  235. FamFG dürften dabei allerdings zu seinem Nachteil nur verwertet werden, wenn
  236. dem Betroffenen rechtliches Gehör gewährt wird. Sollte das nicht möglich sein,
  237. bliebe die Frage unaufklärbar. Das ginge zu Lasten des Beteiligten zu 2.
  238. Krüger
  239. Lemke
  240. Roth
  241. Schmidt-Räntsch
  242. Brückner
  243. Vorinstanzen:
  244. AG Heilbronn, Entscheidung vom 07.07.2010 - A XIV 12/10 LG Heilbronn, Entscheidung vom 27.07.2010 - 1 T 331/10 Br -