Monotone Arbeit nervt!
You can not select more than 25 topics Topics must start with a letter or number, can include dashes ('-') and can be up to 35 characters long.

487 lines
18 KiB

1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 4 StR 545/16
  5. vom
  6. 16. März 2017
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen versuchter Strafvereitelung im Amt u.a.
  10. ECLI:DE:BGH:2017:160317U4STR545.16.0
  11. -2-
  12. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 16. März
  13. 2017, an der teilgenommen haben:
  14. Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
  15. Sost-Scheible,
  16. Richterin am Bundesgerichtshof
  17. Roggenbuck,
  18. Richter am Bundesgerichtshof
  19. Cierniak,
  20. Dr. Franke,
  21. Dr. Quentin
  22. als beisitzende Richter,
  23. Staatsanwalt
  24. als Vertreter des Generalbundesanwalts,
  25. Rechtsanwalt
  26. als Verteidiger,
  27. der Angeklagte in Person,
  28. Justizangestellte
  29. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  30. für Recht erkannt:
  31. -3-
  32. 1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil
  33. des Landgerichts Detmold vom 15. März 2016 mit den
  34. Feststellungen aufgehoben.
  35. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
  36. auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine Strafkammer des Landgerichts Münster zurückverwiesen.
  37. Von Rechts wegen
  38. Gründe:
  39. 1
  40. Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang wegen vorsätzlicher Verletzung des Dienstgeheimnisses zu einer Geldstrafe von
  41. 90 Tagessätzen zu je 150 Euro verurteilt. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob der Senat dieses Urteil mit den Feststellungen auf, weil die Strafkammer die Annahme einer (tateinheitlich begangenen) versuchten Strafvereitelung im Amt mit rechtsfehlerhaften Erwägungen abgelehnt hatte. Im zweiten
  42. Rechtsgang hat das Landgericht den Angeklagten nunmehr freigesprochen. Die
  43. gegen dieses Urteil gerichtete und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
  44. I.
  45. 2
  46. 1. Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage wirft dem
  47. Angeklagten vor, er habe als Leitender Polizeidirektor der Kreispolizeibehörde
  48. P.
  49. am 9. oder 10. Januar 2014 den zu dieser Zeit als Leiter des polizei-
  50. -4-
  51. ärztlichen Dienstes des Polizeipräsidiums B.
  52. tätigen Dr. K.
  53. te-
  54. lefonisch über den Eingang eines ihm vorgelegten anonymen Schreibens unterrichtet. In diesem Schreiben sei Dr. K.
  55. vorgeworfen worden, im Rah-
  56. men der freien Heilfürsorge vorgehaltene Medikamente unrechtmäßig an den
  57. Zeugen W.
  58. abgegeben zu haben. Aufgrund dieser Mitteilung sei der un-
  59. gestörte Ablauf des gegen Dr. K.
  60. aufgrund dieser anonymen Anzeige
  61. eingeleiteten Ermittlungsverfahrens gefährdet gewesen. Der Angeklagte habe
  62. in der Absicht gehandelt, eine Bestrafung von Dr. K.
  63. ganz oder teil-
  64. weise zu vereiteln.
  65. 3
  66. 2. Das Landgericht hat die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:
  67. 4
  68. a) Der Angeklagte pflegte zu Dr. K.
  69. eine gute Arbeitsbe-
  70. ziehung. Im Dezember 2013 waren einzelne Untersuchungsmethoden von
  71. Dr. K.
  72. Gegenstand einer von ihm als verunglimpfend empfundenen
  73. Berichterstattung in der regionalen Presse. Der Angeklagte wertete diese Berichterstattung als „Schmierenaktion“ und machte Dr. K.
  74. 5
  75. Mut.
  76. Am 9. Januar 2014 wurde dem Angeklagten ein undatiertes anonymes
  77. Schreiben vorgelegt, das an die von ihm geleitete Kreispolizeibehörde P.
  78. gerichtet war. Darin wurde der Vorwurf erhoben, Dr. K.
  79. habe im
  80. Rahmen seiner Tätigkeit als Leiter des polizeiärztlichen Dienstes über Jahre
  81. vorgehaltene Medikamente kostenlos an den Zeugen W.
  82. abgegeben,
  83. der als Verwaltungsleiter der Polizei hierauf keinen Anspruch gehabt habe. Der
  84. Angeklagte erklärte, sich selbst um die Angelegenheit kümmern zu wollen.
  85. Nachdem er das Schreiben durchgelesen hatte, machte sich der Angeklagte
  86. -5-
  87. Sorgen um Dr. K.
  88. , weil er eine erneute negative Berichterstattung in
  89. der Presse befürchtete.
  90. 6
  91. Am 10. Januar 2014 kam es zwischen dem Angeklagten und Dr. K.
  92. zu einer E-Mail-Korrespondenz. Dabei informierte Dr. K.
  93. den
  94. Angeklagten zunächst über die Untersuchung eines seiner Mitarbeiter, für den
  95. sich der Angeklagte zuvor verwandt hatte, und bedankte sich danach bei ihm
  96. für dessen „sehr fürsorgliche Unterstützung“. Der Angeklagte bedankte sich im
  97. Gegenzug bei Dr. K.
  98. in einer als vertraulich gekennzeichneten E-Mail
  99. für diese Information und fügte hinzu, dass er sich sicher sei, „dass sich auch
  100. alles Andere zur Zufriedenheit aller Betroffenen regeln werde“. Dr. K.
  101. schrieb daraufhin an den Angeklagten: „Danke lieber Freund, ich habe mir
  102. nichts vorzuwerfen und sehe gelassen in die Zukunft, aber gesundheitlich durch
  103. die Schmierenaktion deutlich angeschlagen“. Ebenfalls noch am 10. Januar
  104. 2014 benachrichtigte der Angeklagte den Leitenden Oberstaatsanwalt der
  105. Staatsanwaltschaft Paderborn, den Zeugen S.
  106. , über den we-
  107. sentlichen Inhalt des anonymen Schreibens und händigte es ihm am 15. Januar
  108. 2014 persönlich aus. Dieser leitete das Schreiben am Folgetag zuständigkeitshalber an die Staatsanwaltschaft Detmold weiter.
  109. 7
  110. Am 23. Januar 2014 sprach ein Redakteur der
  111. tung den Zeugen S.
  112. Zei-
  113. bei einer Veranstaltung in P.
  114. in
  115. Anwesenheit des Angeklagten auf das anonyme Schreiben an, nachdem kurz
  116. zuvor eine leicht veränderte Abschrift bei der Zeitung eingegangen war. Auf die
  117. Bitte nach einer Bewertung des Schreibens verwies der Zeuge S.
  118. unter anderem darauf, dass er die Angelegenheit bereits an die Staatsanwaltschaft Detmold weitergeleitet habe und diese zudem prüfen müsse, ob
  119. die Straftaten, die den Zeugen Dr. K.
  120. und W.
  121. vorgeworfen
  122. -6-
  123. worden seien, nicht bereits verjährt seien. Über dieses Gespräch informierte der
  124. Angeklagte den Zeugen Dr. K.
  125. zu einem nicht näher feststellbaren
  126. Zeitpunkt zwischen dem 23. Januar 2014 und dem 4. Februar 2014.
  127. 8
  128. Am 24. Januar 2014 leitete die Staatsanwaltschaft Detmold ein Ermittlungsverfahren gegen Dr. K.
  129. 9
  130. und den Zeugen W.
  131. ein.
  132. Am 28. Januar 2014 oder kurz danach fragte ein Journalist der
  133. Landeszeitung bei der Pressestelle der Kreispolizeibehörde P.
  134. nach, ob es richtig sei, dass dort ein anonymes Schreiben vom Januar 2014
  135. vorliege.
  136. 10
  137. Bei einem am 4. Februar 2014 wegen der negativen Presseberichterstattung im Dezember 2013 mit der Polizeipräsidentin in B.
  138. spräch teilte Dr. K.
  139. geführten Ge-
  140. mit, von dem Angeklagten darüber informiert wor-
  141. den zu sein, dass es bereits ein weiteres anonymes Schreiben gebe, in dem
  142. ihm die unrechtmäßige Abgabe von Medikamenten an den Zeugen W.
  143. vorgeworfen werde. Gegen den Angeklagten wurde daraufhin ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
  144. 11
  145. Die Presse berichtete erstmals nach den Durchsuchungen bei dem Angeklagten sowie den Zeugen Dr. K.
  146. und W.
  147. , die jeweils am
  148. 18. März 2014 stattfanden, von den Vorwürfen aus dem anonymen Schreiben.
  149. 12
  150. b) Die Strafkammer hat nicht mit der erforderlichen Gewissheit festzustellen vermocht, dass der Angeklagte den Zeugen Dr. K.
  151. – wie ange-
  152. klagt – bereits am 9. oder 10. Januar 2014 von dem anonymen Schreiben in
  153. -7-
  154. Kenntnis gesetzt hat. Dass die Existenz und der Inhalt des anonymen Schreibens nach dem 23. Januar 2014 noch ein Geheimnis im Sinne des § 353b
  155. Abs. 1 StGB gewesen sei, habe sich nicht feststellen lassen, da zu diesem
  156. Zeitpunkt auch schon Pressevertreter hiervon Kenntnis gehabt hätten. Jedenfalls sei davon auszugehen, dass der Angeklagte im Zeitpunkt der Offenbarung
  157. gegenüber dem Zeugen Dr. K.
  158. nach dem von ihm angehörten Ge-
  159. spräch vom 23. Januar 2014 nicht mehr die Vorstellung gehabt habe, dass es
  160. sich bei der Existenz oder dem Inhalt des anonymen Schreibens von Anfang
  161. Januar 2014 noch um ein Geheimnis handele oder er dies zumindest billigend
  162. in Kauf genommen habe. Auch der für die Annahme einer versuchten Strafvereitelung (im Amt) erforderliche Tatentschluss sei nicht gegeben, weil es das
  163. vorrangige Ziel des Angeklagten gewesen sei, den Zeugen Dr. K.
  164. vor
  165. weiterer negativer Presseberichterstattung zu bewahren oder zumindest vor
  166. damit einhergehenden emotionalen Rückschlägen zu schützen. Zudem sei
  167. davon auszugehen, dass es sich bei der Weitergabe der Informationen nach
  168. dem 23. Januar 2014 und der angeklagten Unterrichtung von Dr. K.
  169. am 9. oder 10. Januar 2014 wegen der unterschiedlichen Tatzeiten und dem
  170. dazwischen
  171. liegenden
  172. Gespräch
  173. zwischen
  174. und dem Redakteur der
  175. dem
  176. Zeugen
  177. S.
  178. Zeitung um verschiedene pro-
  179. zessuale Taten handele und dieser Vorgang deshalb von der zugelassenen
  180. Anklage nicht erfasst sei.
  181. II.
  182. 13
  183. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
  184. 14
  185. 1. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen einer Verletzung des Dienstgeheimnisses gemäß § 353b
  186. -8-
  187. Abs. 1 Nr. 1 StGB verneint hat, halten rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil
  188. es von einem zu engen Verständnis des Tatbestandsmerkmals Geheimnis ausgegangen ist.
  189. 15
  190. a) Dienstgeheimnisse im Sinne des § 353b Abs. 1 StGB sind tatsächliche
  191. Gegebenheiten, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt sind und
  192. die der Geheimhaltung bedürfen. Sie müssen dem betreffenden Amtsträger im
  193. inneren Zusammenhang mit seiner Diensttätigkeit bekannt geworden sein (vgl.
  194. BGH, Urteil vom 9. Dezember 2002 – 5 StR 276/02, BGHSt 48, 126, 129; Urteil
  195. vom 23. März 2001 – 2 StR 488/00, BGHSt 46, 339, 340 f. mwN; vgl. auch
  196. BGH, Urteil vom 15. November 2012 – 2 StR 388/12, NStZ-RR 2013, 110, 111).
  197. Werden Tatsachen, deren Kenntnis nur einem bestimmten geschlossenen Personenkreis vorbehalten ist, weiteren Personen bekannt, so geht deren Geheimnischarakter dadurch noch nicht verloren (vgl. BGH, Urteil vom 8. November
  198. 1965 – 8 StE 1/65, BGHSt 20, 342, 383; RG, Urteil vom 4. März 1940 – 2 D
  199. 31/40, RGSt 74, 110, 111; Vormbaum in Leipziger Kommentar zum StGB,
  200. 12. Aufl., § 353b Rn. 7; Graf in Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl.,
  201. § 353b Rn. 22 mwN). Auch kommt es nicht darauf an, ob die Zahl der Mitwisser
  202. bestimmbar ist (vgl. RG, Urteil vom 4. März 1940 – 2 D 31/40, RGSt 74, 110,
  203. 111). Selbst ein noch ungesichertes und daher der Bestätigung bedürfendes
  204. „Bekanntsein“ einer Tatsache hebt deren Geheimnischarakter noch nicht auf
  205. (vgl. RG, Urteil vom 4. März 1940 – 2 D 31/40, RGSt 74, 110, 111; Vormbaum,
  206. aaO, § 353b Rn. 7; Perron in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 353b Rn. 4;
  207. Graf, aaO, § 353b Rn. 23 mwN). Erst wenn eine geheimhaltungsbedürftige Tatsache einer ungewissen Vielzahl von Personen bekannt geworden ist und sich
  208. dadurch so verbreitet hat oder auf andere Weise so zugänglich geworden ist,
  209. dass ein verständiger und erfahrener Mensch ohne weiteres zuverlässig von ihr
  210. Kenntnis haben oder sich von ihr aus allgemein zugänglichen Quellen un-
  211. -9-
  212. schwer überzeugen kann, hat sie ihren Geheimnischarakter verloren (vgl. BGH,
  213. Urteile vom 9. Dezember 2002 – 5 StR 276/02, BGHSt 48, 126, 129 f. zu § 61
  214. Abs. 1 Satz 2 BBG u.a.; und vom 8. Oktober 2002 – 1 StR 150/02, BGHSt 48,
  215. 28, 30 ff. zu § 203 StGB; Bosch in SSW-StGB, 3. Aufl., § 353b Rn. 4; Fischer,
  216. StGB, 64. Aufl., § 353b Rn. 13 mwN).
  217. 16
  218. b) Diesen Vorgaben werden die Erwägungen des Landgerichts, mit denen es das Vorliegen eines Geheimnisses für den von ihm angenommenen
  219. Tatzeitraum verneint hat, nicht gerecht. Zwar hat der Zeuge S.
  220. als Leitender Oberstaatsanwalt am 23. Januar 2014 auf die Nachfrage eines
  221. Redakteurs der
  222. Zeitung die Existenz und – jedenfalls in
  223. groben Zügen – auch den Inhalt des anonymen Schreibens bestätigt und damit
  224. nicht nur den Kreis der Mitwisser erweitert, sondern auch die Grundlage für eine
  225. sich auf eine zuverlässige Quelle stützen könnende Presseveröffentlichung geschaffen. Dadurch hatte das anonyme Schreiben seinen Geheimnischarakter
  226. aber noch nicht verloren. Denn die
  227. Zeitung hat bis zum
  228. 4. Februar 2014 nicht über den Vorgang berichtet, sodass die Existenz und der
  229. Inhalt des anonymen Schreibens bis dahin weder einer ungewissen Vielzahl
  230. von Personen zuverlässig bekannt, noch in dem oben dargestellten Sinne zugänglich geworden sind. Auch die Anfrage des Journalisten der
  231. Landeszeitung bei der Pressestelle der Kreispolizeibehörde P.
  232. am
  233. 28. Januar 2014 stellt den Geheimnischarakter des anonymen Schreibens nicht
  234. in Frage. Sie deutet zwar darauf hin, dass auch dieser Journalist Kenntnis von
  235. dem Schreiben hatte und damit ein (weiterer) Mitwisser außerhalb der Ermittlungsbehörden war. Aber auch er hat im Tatzeitraum darüber nicht berichtet.
  236. Soweit das Landgericht nicht auszuschließen vermocht hat, dass es noch weitere Personen außerhalb der Ermittlungsorgane gab, die Kenntnis von dem
  237. anonymen Schreiben und seinem Inhalt hatten, handelt es sich um eine nicht
  238. - 10 -
  239. auf Tatsachen gestützte Annahme. Es ist aber weder im Hinblick auf den Zweifelsgrundsatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten Sachverhalte
  240. zu unterstellen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. BGH, Urteil vom 29. September
  241. 2016 – 4 StR 320/16, NStZ-RR 2016, 380, 381; Urteil vom 18. September 2009
  242. – 5 StR 224/08, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung, unzureichende 20).
  243. 17
  244. 2. Dieser Rechtsfehler entzieht auch den Erwägungen der Strafkammer
  245. zur inneren Tatseite die Grundlage.
  246. 18
  247. Soweit dazu ausgeführt wird, der Angeklagte habe nach dem von ihm
  248. angehörten Gespräch vom 23. Januar 2014 jedenfalls nicht mehr die Vorstellung gehabt, dass es sich bei der Existenz oder dem Inhalt des anonymen
  249. Schreibens von Anfang Januar 2014 noch um ein Geheimnis handelte oder er
  250. dies zumindest billigend in Kauf nahm, bleibt offen, was sich der Angeklagte in
  251. Abweichung von den festgestellten Umständen tatsächlich vorgestellt hat. Konkrete tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte im Zeitpunkt der
  252. Offenbarung des anonymen Schreibens gegenüber dem Zeugen Dr. K.
  253. irrig angenommen haben könnte, die Existenz dieses Schreibens und sein
  254. Inhalt seien nach der von ihm mitgehörten Antwort des Zeugen S.
  255. auf die an ihn gerichtete Presseanfrage – obgleich es bis zum 4. Februar 2014 zu keiner Presseberichterstattung kam – nunmehr einer ungewissen
  256. Vielzahl von Personen bekannt oder so zugänglich geworden, dass ein verständiger und erfahrener Mensch ohne weiteres zuverlässig davon Kenntnis
  257. haben konnte, sind auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht
  258. zu entnehmen. Nur in diesem Fall käme ein zum Vorsatzausschluss führender
  259. Irrtum über Tatumstände im Sinne des § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB in Betracht.
  260. - 11 -
  261. 19
  262. 3. Eine erst in der Zeit zwischen dem 23. Januar und dem 4. Februar
  263. 2014 erfolgte Bekanntgabe des anonymen Schreibens und seines Inhalts an
  264. den Zeugen Dr. K.
  265. ist noch Bestandteil der angeklagten Tat (§ 264
  266. StPO) und hätte daher von der Strafkammer abgeurteilt werden dürfen.
  267. 20
  268. a) Gemäß § 264 Abs. 1 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung die in
  269. der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung
  270. darstellt. Zur Tat im Sinne dieser Vorschrift gehört das gesamte Verhalten des
  271. Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang bildet. In diesem Rahmen muss das Tatgericht seine Untersuchung auch auf Teile
  272. der Tat erstrecken (Kognitionspflicht), die erst in der Hauptverhandlung bekannt
  273. werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2016 – 3 StR 186/16,
  274. StraFo 2017, 26; Urteil vom 3. November 1959 – 1 StR 425/59, BGHSt 13, 320,
  275. 321; weitere Nachweise bei Norouzi in Münchener Kommentar zur StPO, § 264
  276. Rn. 10). Verändert sich im Laufe eines Verfahrens das Bild des Geschehens,
  277. auf das die Anklage hinweist, so ist entscheidend, ob die „Nämlichkeit der Tat“
  278. trotz dieser Abweichung noch gewahrt ist. Dies ist der Fall, wenn – ungeachtet
  279. gewisser Differenzen – bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges,
  280. unverwechselbares Geschehen kennzeichnen und keine wesentliche Änderung
  281. des Tatbildes eingetreten ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 21. August
  282. 2013 – 2 StR 311/13, Rn. 4; Urteil vom 28. Mai 2002 – 5 StR 55/02, NStZ 2002,
  283. 659 [Ls]; Urteil vom 21. Dezember 1983 – 2 StR 578/83, BGHSt 32, 215, 216,
  284. 218 f.; weitere Nachweise bei Stuckenberg in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl.,
  285. § 264 Rn. 95). Eine Veränderung oder Erweiterung des Tatzeitraums führt daher nicht zur Aufhebung der Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat,
  286. wenn die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach
  287. anderen Merkmalen hinreichend individualisiert ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil
  288. - 12 -
  289. vom 11. Februar 2016 – 3 StR 454/15, NStZ-RR 2016, 223 [Ls]; Urteil vom
  290. 20. November 2014 – 4 StR 153/14, StraFo 2015, 68; Urteil vom 17. August
  291. 2000 – 4 StR 245/00, BGHSt 46, 130, 133 mwN).
  292. 21
  293. b) Danach unterlag auch eine erst in der Zeit zwischen dem 23. Januar
  294. 2014 und dem 4. Februar 2014 erfolgte Unterrichtung des Zeugen Dr. K.
  295. von der Existenz und dem Inhalt des anonymen Schreibens der Kognitionspflicht der Strafkammer. Die dem Angeklagten in der unverändert zugelassenen Anklageschrift zur Last gelegte und die festgestellte Tat sind maßgeblich
  296. dadurch gekennzeichnet, dass der Angeklagte den Zeugen Dr. K.
  297. über die Existenz und den Inhalt eines bei der Kreispolizeibehörde in P.
  298. eingegangenen und ihm am 9. Januar 2014 vorgelegten anonymen Schreibens,
  299. in dem der Zeuge diverser Straftaten verdächtigt wurde, unterrichtete, bevor
  300. deswegen gegen den Zeugen offen ermittelt wurde. Diese beiden Sachverhalten gemeinsamen Aspekte reichen aus, um die den Verurteilungsgegenstand
  301. bildende Tat – auch unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung –
  302. so zu beschreiben, dass sie nach den allgemeinen Gesetzen der Logik und der
  303. Erfahrung eindeutig gekennzeichnet ist (vgl. dazu BGH, Urteil vom 21. Dezember 1983 – 2 StR 578/83, BGHSt 32, 215, 216, 218 f.; Puppe, NStZ 1982,
  304. 230, 234 f.). Ob diese Mitteilung – wie angeklagt – am 9. oder 10. Januar 2014
  305. oder erst in der Zeit zwischen dem 23. Januar 2014 und 4. Februar 2014 erfolgt
  306. ist, ist dafür nicht von wesentlicher Bedeutung. Das von der Strafkammer zur
  307. Begründung ihrer gegenteiligen Ansicht herangezogene Gespräch zwischen
  308. dem
  309. Zeugen
  310. S.
  311. und
  312. dem
  313. Redakteur
  314. der
  315. Zeitung vom 23. Januar 2014 rechtfertigt keine abweichende Bewertung, da es
  316. auf der Grundlage der im Übrigen getroffenen Feststellungen nicht zu einer
  317. gänzlich abweichenden Einordnung des Täterverhaltens führt.
  318. - 13 -
  319. 22
  320. 4. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Auf die
  321. von der Revision gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts erhobenen
  322. Einwände kommt es nicht mehr an. Der Senat macht von der Möglichkeit des
  323. § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StPO Gebrauch und verweist die Sache an eine
  324. Strafkammer des Landgerichts Münster zurück.
  325. Sost-Scheible
  326. Roggenbuck
  327. Franke
  328. Cierniak
  329. Quentin