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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 173/11
  4. vom
  5. 29. September 2011
  6. in der Abschiebungshaftsache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. AufenthG § 72 Abs. 4 Satz 1
  14. Fehlen in einem zulässigen Haftantrag die objektiv erforderlichen Angaben zu dem
  15. Einvernehmen der Strafverfolgungsbehörden mit der Abschiebung, kann die zunächst rechtswidrige Haft durch die spätere Erteilung des Einvernehmens erst dann
  16. rechtmäßig werden, wenn dem Betroffenen insoweit rechtliches Gehör gewährt wird.
  17. BGH, Beschluss vom 29. September 2011 - V ZB 173/11 - LG Frankfurt (Oder)
  18. AG Frankfurt (Oder)
  19. -2-
  20. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. September 2011 durch
  21. den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richterin Dr. Stresemann, den
  22. Richter Dr. Czub und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
  23. beschlossen:
  24. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss
  25. der 5. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt/Oder vom 7. April
  26. 2011 unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen geändert. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts
  27. Frankfurt/Oder vom 8. März 2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat und seine Inhaftierung in Abschiebungshaft in der
  28. Zeit vom 8. März 2011 bis zum 7. April 2011 rechtswidrig war.
  29. Die dem Betroffenen in allen Instanzen entstandenen zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen werden
  30. zu 40 % dem Landkreis U.
  31. auferlegt. Im Übrigen findet
  32. eine Auslagenerstattung nicht statt. Gerichtskosten werden nicht
  33. erhoben.
  34. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  35. 3000 €.
  36. - 3 -
  37. Gründe:
  38. I.
  39. 1
  40. Der Betroffene, ein vietnamesischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 1. November 2008 in die Bundesrepublik Deutschland ein
  41. und war nach einem erfolglosen Asylverfahren ausreisepflichtig. Am 8. März
  42. 2011 wurde er von Polen nach Deutschland rücküberstellt. Mit Beschluss vom
  43. gleichen Tage hat das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde bis
  44. längstens 8. Juni 2011 die Haft zur Sicherung seiner Abschiebung angeordnet.
  45. Die Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht nach seiner Anhörung
  46. am 7. April 2011 mit Beschluss vom gleichen Tag zurückgewiesen. Der Senat
  47. hat den Antrag des Betroffenen auf Aussetzung des Vollzugs der Sicherungshaft im Wege der einstweiligen Anordnung zurückgewiesen (Beschluss vom
  48. 3. Mai 2011 - V ZA 10/11, juris). Mit der Rechtsbeschwerde begehrt er nach
  49. seiner Abschiebung am 16. Mai 2011 die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung.
  50. II.
  51. 2
  52. Das Beschwerdegericht nimmt die Haftgründe des § 62 Abs. 2 Satz 1
  53. Nr. 2 und 5 AufenthG an und meint, wegen des inzwischen erteilten Einvernehmens der ermittelnden Strafverfolgungsbehörden sei ein Verstoß gegen
  54. § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht gegeben.
  55. III.
  56. 3
  57. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist nur teilweise begründet. Das Beschwerdegericht hat die Beschwerde insoweit zu Unrecht zurückgewiesen, als
  58. die Haftanordnung und die auf ihr beruhende Inhaftierung bis zu seiner Entscheidung rechtswidrig waren.
  59. - 4 -
  60. 4
  61. 1. Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf gemäß § 72 Abs. 4 Satz 1
  62. AufenthG nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Fehlen in dem Haftantrag - was von Amts wegen zu prüfen
  63. ist - Ausführungen zu dem Einvernehmen, obwohl sich aus ihm selbst oder aus
  64. den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass die öffentliche Klage oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist, ist der Antrag
  65. unzulässig (st. Rspr., vgl. nur Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB
  66. 226/10, FGPrax 2011, 144 Rn. 9; Beschluss vom 3. Februar 2011 - V ZB
  67. 224/10, FGPrax 2011, 148 Rn. 8 ff.). Im Übrigen ist die Verletzung von § 72
  68. Abs. 4 Satz 1 AufenthG im Rechtsbeschwerdeverfahren nur auf entsprechende
  69. Rüge zu berücksichtigen. Dabei ist es für die Verletzung der genannten
  70. Rechtsnorm unerheblich, ob schon der Haftrichter Anhaltspunkte für eine diesbezügliche Prüfung hatte und ob es die den Antrag stellende Behörde pflichtwidrig unterlassen hat, in dem Haftantrag auf das schwebende Ermittlungsverfahren hinzuweisen und - was in einem solchen Fall ebenfalls erforderlich gewesen wäre - die Erteilung des Einvernehmens in dem Antrag darzulegen. Da
  71. das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft eine essentielle Haftvoraussetzung
  72. darstellt, kommt es insoweit allein auf die objektive Rechtslage an (Senat, Beschluss vom 12. Mai 2011 - V ZB 189/10, FGPrax 2011, 202 Rn. 5). Wird das
  73. Einvernehmen erst nach der Haftanordnung erteilt, muss dem Betroffenen auch
  74. zu dieser Haftvoraussetzung gemäß Art. 103 Abs. 1 GG rechtliches Gehör gewährt werden. Aus diesem Grund kann die zunächst rechtswidrige Haft nicht
  75. bereits von der objektiven Erteilung des Einvernehmens an rechtmäßig werden,
  76. sondern erst dann, wenn der Betroffene dazu Stellung nehmen kann.
  77. 5
  78. 2. Gemessen daran, war der Haftantrag - was der Senat in der Entscheidung über die einstweilige Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungshaft
  79. noch offen gelassen hat - zulässig. Weder aus ihm noch aus den beigefügten
  80. - 5 -
  81. Unterlagen ergab sich, dass gegen den Betroffenen strafrechtliche Ermittlungsverfahren anhängig waren. Allerdings hat das Amtsgericht den Betroffenen dem
  82. Anhörungsprotokoll zufolge darüber belehrt, dass ein Aussageverweigerungsrecht nur Angaben umfasse, "die das gegen ihn anhängige Strafverfahren betreffen". Daraus könnte möglicherweise zu folgern sein, dass das Amtsgericht
  83. auf anderem Wege Kenntnis von den strafrechtlichen Ermittlungen gegen den
  84. Betroffenen erlangt hatte. Selbst wenn das der Fall gewesen sein sollte, wurde
  85. dadurch aber nicht der in sich schlüssige Antrag der Beteiligten zu 2 unzulässig, sondern das Amtsgericht hätte die Erteilung des Einvernehmens gemäß
  86. § 26 FamFG aufklären und den Antrag gegebenenfalls zurückweisen müssen.
  87. Insoweit rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass das Einvernehmen mehrerer Strafverfolgungsbehörden tatsächlich erforderlich war und entgegen § 72
  88. Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht vorlag. Die Staatsanwaltschaft Dresden und das
  89. Hauptzollamt Berlin haben ihr Einvernehmen erst nach der Inhaftierung am 11.
  90. März 2011 schriftlich erteilt. Von Seiten der Staatsanwaltschaft Berlin ist es den
  91. Angaben zufolge, die der Vertreter der Beteiligten zu 2 in der mündlichen Anhörung gemacht hat, am 15. März 2011 erteilt worden. Damit lagen die objektiven
  92. Haftvoraussetzungen erst von diesem Tag an vor.
  93. 6
  94. 3. Die zunächst rechtswidrige Haft ist in der Beschwerdeinstanz rechtmäßig geworden, weil das Beschwerdegericht dem Betroffenen ausweislich des
  95. Anhörungsprotokolls insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat.
  96. 7
  97. 4. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
  98. III.
  99. 8
  100. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83
  101. Abs. 2, § 430 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der
  102. - 6 -
  103. Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, den Landkreis U.
  104. , dem die beteiligte Behörde angehört, zur Erstattung eines Teils
  105. der notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten. Die Kostenquote
  106. entspricht dem Verhältnis des gesamten Haftzeitraums zu dem Zeitraum, für
  107. den das Rechtsmittel Erfolg hat. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt
  108. aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
  109. Krüger
  110. Stresemann
  111. Brückner
  112. Czub
  113. Weinland
  114. Vorinstanzen:
  115. AG Frankfurt (Oder), Entscheidung vom 08.03.2011 - 4 XIV 6/11 LG Frankfurt (Oder), Entscheidung vom 07.04.2011 - 15 T 28/11 -