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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VII ZR 36/14
Verkündet am:
9. April 2015
Seelinger-Schardt,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
Richtlinie 93/42/EWG Art. 11 Abs. 1 Buchstabe a) in Verbindung mit Anhang II Nr.
3.3., 4.3., 5.3., 5.4.; MPG § 6 Abs. 2 Satz 1
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchstabe a) in Verbindung mit Anhang II Nr.
3.3., 4.3., 5.3., 5.4. der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte (ABl. 1993, L 169, S. 1 ff., zuletzt geändert durch die Richtlinie
2007/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007,
ABl. 2007, L 247, S. 21) vorgelegt:
Ist es Zweck und Intention der Richtlinie, dass die mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragte
benannte Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III zum Schutz aller potentiellen
Patienten tätig wird und deshalb bei schuldhafter Pflichtverletzung den betroffenen
Patienten unmittelbar und uneingeschränkt haften kann?
Ergibt sich aus den genannten Nummern des Anhangs II der Richtlinie 93/42/EWG,
dass der mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragten benannten Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III eine generelle oder zumindest anlassbezogene Produktprüfungspflicht obliegt?
-2-
Ergibt sich aus den genannten Nummern des Anhangs II der Richtlinie 93/42/EWG,
dass der mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragten benannten Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III eine generelle oder zumindest anlassbezogene Pflicht obliegt,
Geschäftsunterlagen des Herstellers zu sichten und/oder unangemeldete Inspektionen durchzuführen?
BGH, Beschluss vom 9. April 2015 - VII ZR 36/14 - OLG Zweibrücken
LG Frankenthal (Pfalz)
-3-
Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 9. April 2015 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Eick, die Richter
Dr. Kartzke und Prof. Dr. Jurgeleit und die Richterinnen Graßnack und Sacher
beschlossen:
Die Entscheidung über die Revision der Klägerin gegen das Urteil
des
4. Zivilsenats
des
Pfälzischen
Oberlandesgerichts
Zweibrücken vom 30. Januar 2014 wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267
AEUV folgende Fragen zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchstabe a) in Verbindung mit Anhang II Nr. 3.3., 4.3., 5.3., 5.4. der
Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte (ABl. 1993, L 169, S. 1 ff., zuletzt geändert durch die
Richtlinie 2007/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007, ABl. 2007, L 247, S. 21) vorgelegt:
Ist es Zweck und Intention der Richtlinie, dass die mit dem Audit
des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragte benannte Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III zum Schutz aller potentiellen Patienten
tätig wird und deshalb bei schuldhafter Pflichtverletzung den betroffenen Patienten unmittelbar und uneingeschränkt haften kann?
Ergibt sich aus den genannten Nummern des Anhangs II der
Richtlinie 93/42/EWG, dass der mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragten benannten Stelle bei Medizinprodukten der
-4-
Klasse III eine generelle oder zumindest anlassbezogene Produktprüfungspflicht obliegt?
Ergibt sich aus den genannten Nummern des Anhangs II der
Richtlinie 93/42/EWG, dass der mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragten benannten Stelle bei Medizinprodukten der
Klasse III eine generelle oder zumindest anlassbezogene Pflicht
obliegt, Geschäftsunterlagen des Herstellers zu sichten und/oder
unangemeldete Inspektionen durchzuführen?
Gründe:
I.
1
Die Klägerin ließ sich am 1. Dezember 2008 in Deutschland Silikonbrustimplantate einsetzen, die von einem in Frankreich ansässigen Unternehmen, das zwischenzeitlich in Insolvenz gefallen ist, hergestellt worden waren.
2010 stellte die zuständige französische Behörde fest, dass bei der Herstellung
der Brustimplantate entgegen dem Qualitätsstandard minderwertiges Industriesilikon verwendet wurde. Auf ärztlichen Ratschlag ließ sich die Klägerin daraufhin 2012 ihre Implantate entfernen. Sie begehrt deshalb von der Beklagten ein
Schmerzensgeld von 40.000 € und die Feststellung der Ersatzpflicht für künftig
entstehende materielle Schäden.
2
Die Silikonbrustimplantate sind Medizinprodukte, die nach Art. 1 der
Richtlinie 2003/12/EG der Kommission vom 3. Februar 2003 zur Neuklassifizie-
-5-
rung von Brustimplantaten im Rahmen der Richtlinie 93/42/EWG (ABl. 2003
L 28 S. 43 f.) als Medizinprodukte der Klasse III eingestuft werden. Medizinprodukte der Klasse III dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 1 Medizinproduktegesetz nur in
den Verkehr gebracht werden, wenn unter anderem ein Konformitätsbewertungsverfahren nach § 37 Abs. 1 MPG, § 7 Abs. 1 Nr. 1 (vormals § 6 Abs. 1
Nr. 1) Medizinprodukte-Verordnung (MPV) in Verbindung mit Anhang II der
Richtlinie 93/42/EWG durchgeführt worden ist. Bestandteil dieses Konformitätsbewertungsverfahrens ist das Qualitätssicherungssystem, die Prüfung der Produktauslegung und die Überwachung (Nr. 3 bis 5 Anhang II der Richtlinie
93/42/EWG). Die förmliche Überprüfung (Audit) des Qualitätssicherungssystems, die Prüfung der Produktauslegung und die Überwachung werden von
einer benannten Stelle durchgeführt, die der Hersteller zu beauftragen hat.
3
Das in Frankreich ansässige Herstellerunternehmen beauftragte die Beklagte als benannte Stelle mit den genannten Aufgaben. Die Vertragsparteien
vereinbarten die Geltung deutschen Rechts.
4
Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Beklagte ihren Pflichten als benannter Stelle nicht hinreichend nachgekommen sei. Insoweit ist zwischen den
Parteien unstreitig, dass die Beklagte bei dem Herstellerunternehmen vor dem
1. Dezember 2008 jeweils angekündigte Besichtigungen im November 1998,
Januar 2000, November 2000, Februar 2001, Dezember 2001, November 2003,
November 2004 und März 2006 durchführte. Die Beklagte nahm keine Einsicht
in die Geschäftsunterlagen und ordnete keine Produktprüfung an. Die Klägerin
trägt vor, durch eine Einsicht in Lieferscheine und Rechnungen hätte die Beklagte erkennen können, dass nicht das genehmigte Silikon verarbeitet worden
sei.
-6-
5
Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren
weiter.
II.
6
Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung von Art. 11 Abs. 1
Buchstabe a) in Verbindung mit Anhang II Nr. 3.3., 4.3., 5.3., 5.4. der Richtlinie
93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte ab. Vor der
Entscheidung über die Revision ist deshalb das Verfahren auszusetzen und
gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchstabe b), Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung
des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.
7
1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im
Wesentlichen ausgeführt:
8
Die Beklagte und das Herstellerunternehmen hätten einen rein privatrechtlich zu beurteilenden Vertrag geschlossen. In diesen sei die Klägerin nicht
eingebunden gewesen. Die Beklagte hafte nicht unter dem Gesichtspunkt der
Pflichtverletzung eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Sinn und
Zweck der Tätigkeit als benannter Stelle im Auftrag des Herstellers sei nicht der
Schutz Dritter. Die Zertifizierungstätigkeit diene nur dazu, die Voraussetzungen
für das Inverkehrbringen von Medizinprodukten zu schaffen. Ein rechtsgeschäftlicher Wille des Herstellers und der benannten Stelle, Dritte in den Schutzbereich ihres Vertrages einzubeziehen, bestehe deshalb nicht. Eine solche Einbeziehung würde zudem zu einer uferlosen Ausweitung der Haftung der benannten Stelle führen. Schließlich sei nicht erkennbar, woraus sich ein berechtigtes
-7-
Interesse des Herstellerunternehmens an der Einbeziehung der Klägerin in den
Schutzbereich des Vertrages ergebe.
9
Die Beklagte hafte zudem nicht nach deutschem Deliktsrecht. Der Beklagten könne nach Sachlage allenfalls der Vorwurf gemacht werden, das Herstellerunternehmen nicht ausreichend überwacht zu haben. Für die Beklagte
habe sich aber keine Pflicht zum Handeln im Interesse der Patientinnen ergeben, da die benannte Stelle nicht zum Schutz der Patienten tätig werde. Zudem
sei kein Verschulden feststellbar. Der Vorwurf, die Beklagte habe Überwachungspflichten verletzt, sei unberechtigt. Die Beklagte habe regelmäßig angekündigte Besichtigungen durchgeführt. Das reiche aus, soweit kein Verdacht für
eine nicht ordnungsgemäße Produktion gegeben sei.
10
2. Auf das Rechtsverhältnis der Parteien findet deutsches Recht Anwendung.
11
Das Schuldverhältnis der Parteien beurteilt sich, wie das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat, insgesamt nach deutschem materiellen Recht.
12
a) Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass sich
die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche aus unerlaubter Handlung
nach deutschem Recht beurteilen. Dies folgt aus Art. 40 EGBGB.
13
Die Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und
des Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende
Recht (Rom II-VO; ABl. 2007 L 199 S. 40) ist im Streitfall intertemporal noch
nicht anwendbar, da das schadensbegründende Ereignis vor dem 11. Januar
2009 eingetreten ist (vgl. Art. 31, 32 Rom II-VO).
-8-
14
Nach der Art. 40 Abs. 1 EGBGB vorgehenden Sonderanknüpfung des
Art. 40 Abs. 2 EGBGB ist deutsches Recht als Recht des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts von Klägerin und Beklagter zur Zeit des Haftungsereignisses anwendbar. Die Anwendbarkeit deutschen Rechts ergäbe sich im Übrigen auch aus Art. 40 Abs. 1 Satz 2 EGBGB. Eine wesentlich engere Verbindung zu einem ausländischen Recht im Sinne des Art. 41 EGBGB, die dessen
Anwendbarkeit zur Folge hätte, besteht im Streitfall nicht.
15
b) Ebenfalls zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen,
dass sich vertragliche Ansprüche, die aus dem zwischen der Beklagten und
dem Hersteller geschlossenen Vertrag über das Konformitätsbewertungsverfahren resultieren, kraft ausdrücklicher Rechtswahl nach deutschem Recht beurteilen. Dies folgt aus Art. 27 Abs. 1 EGBGB.
16
Die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und
des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht
vom 17. Juni 2008 (Rom I-VO, ABl. 2008 L 177 S. 6, ber. ABl. 2009 L 309
S. 87) ist im Streitfall intertemporal nicht anwendbar, da sie gemäß Art. 28 nur
auf Verträge angewandt wird, die ab dem 17. Dezember 2009 geschlossen
worden sind. Auf Verträge, die - wie der hier einschlägige Vertrag - davor geschlossen wurden, sind weiterhin die Bestimmungen der Art. 27 bis 34 EGBGB
anzuwenden.
17
c) Da deutsches Recht sowohl auf Ansprüche aus unerlaubter Handlung
als auch auf vertragliche Ansprüche aus dem genannten Vertrag anwendbar ist,
bedarf es im Streitfall keiner Entscheidung, ob die Einbeziehung von Dritten in
den Schutzbereich eines Vertrags sich internationalprivatrechtlich nach dem
Vertragsstatut beurteilt (vgl. MünchKommBGB/Spellenberg, 4. Aufl., Art. 32
-9-
EGBGB Rn. 24 m.w.N.) oder ob insoweit das Deliktsstatut (vgl. Dutta, IPRax
2009, 293, 297) maßgebend ist.
18
3. Für die Entscheidung des Rechtsstreits nach deutschem Recht kommt
es maßgeblich darauf an, zu welchem Zweck eine benannte Stelle in das Konformitätsbewertungsverfahren einbezogen wird (a, b), und welche Pflichten der
benannten Stelle im Rahmen dieses Verfahrens auferlegt sind (c).
19
a) Eine deliktsrechtliche Haftung der Beklagten kann sich wegen Verletzung eines Schutzgesetzes aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 2
Satz 1, § 37 Abs. 1 MPG, § 7 Abs. 1 Nr. 1 (früher § 6 Abs. 1 Nr. 1) MPV, Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG ergeben. Das setzt voraus, dass § 6 Abs. 2
Satz 1 MPG als Schutzgesetz angesehen werden kann.
20
aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine
Norm als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB anzusehen, wenn sie
nach Zweck und Inhalt zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder
einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu
schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck
des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes
gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zu Gunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mit gewollt hat. Es genügt, dass die Norm auch
das in Frage stehende Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in
erster Linie das Interesse der Allgemeinheit im Auge haben. Andererseits soll
der Anwendungsbereich von Schutzgesetzen nicht ausufern. Deshalb reicht es
nicht aus, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm als ihr Reflex
objektiv erreicht werden kann; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm
liegen. Zudem muss die Schaffung eines individuellen Schadensersatzan-
- 10 -
spruchs sinnvoll und im Sinne des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar
erscheinen, wobei in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, geprüft werden muss, ob es in der
Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten
Interesses die deliktsrechtliche Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit
allen damit zu Gunsten des Geschädigten gegebenen Beweiserleichterungen
zu knüpfen (BGH, Urteile vom 13. Dezember 2011 - XI ZR 51/10, BGHZ 192,
90 Rn. 21; vom 22. Juni 2010 - VI ZR 212/09, BGHZ 186, 58 Rn. 26).
21
bb) Misst man § 6 Abs. 2 Satz 1 MPG an diesen Maßstäben, ist festzustellen:
22
Das
Medizinproduktegesetz
dient
der
Umsetzung
der
Richtlinie
93/42/EWG (Spickhoff/Lücker, Medizinrecht, 2. Aufl., Vorbemerkung MPG
Rn. 3; Rehmann in Rehmann/Wagner, MPG, 2. Aufl., Einführung Rn. 2).
23
§ 6 Abs. 2 Satz 1 MPG stellt in Verbindung mit § 37 Abs. 1 MPG, § 7
Abs. 1 Nr. 1 MPV sicher, dass Medizinprodukte der (höchsten Risiko-) Klasse III
nur in den Verkehr gelangen, wenn die Voraussetzungen des Konformitätsbewertungsverfahrens nach Anhang II zur Richtlinie 93/42/EWG gegeben sind.
Für die Frage, ob § 6 Abs. 2 Satz 1 MPG als Schutzgesetz anzusehen ist,
kommt es deshalb nach dem Prinzip der richtlinienkonformen Auslegung
(EuGH, NJW 2006, 2465 Rn. 108 ff.; BGH, Urteile vom 7. Mai 2014 - IV ZR
76/11, BGHZ 201, 101 Rn. 20; vom 21. Dezember 2011 - VIII ZR 70/08, BGHZ
192, 148 Rn. 24) wesentlich auf Inhalt und Zweck der Richtlinie 93/42/EWG im
Allgemeinen und speziell unter Berücksichtigung von deren Anhang II an. In
Abs. 5 der Erwägungen der Richtlinie 93/42/EWG wird ausgeführt, dass Medizinprodukte für Patienten, Anwender und Dritte einen hochgradigen Schutz bieten müssen. Die Verbesserung des in den Mitgliedsstaaten erreichten Schutz-
- 11 -
niveaus "ist eines der wesentlichen Ziele dieser Richtlinie". Speziell für das
Konformitätsbewertungsverfahren heißt es dazu in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über Medizinprodukte vom
2. Juli 2003 (KOM[2003] 386, S. 16):
"Die Konformitätsbewertung ist eine Grundvoraussetzung für das
Vertrauen in die Fähigkeit des Regulierungssystems, Patienten
und Bürger zu schützen. Es müssen alle nur erdenklichen Bemühungen zur Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus unternommen werden. Mängel bei der Konformitätsbewertung stellen
die Glaubwürdigkeit des vorhandenen Regulierungssystems und
die Fähigkeit der Behörden zum wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit in Frage, selbst wenn nur eine geringe Zahl spezifischer Produkte betroffen ist."
24
Auf dieser Grundlage ist davon auszugehen, dass der Schutz der Patienten vor Gesundheitsbeeinträchtigungen und Körperverletzungen eines der wesentlichen Ziele der Richtlinie 93/42/EWG darstellt. Es ist deshalb möglich, dass
die Richtlinie einen Rechtsschutz, wie ihn die Klägerin gegen die Beklagte in
Anspruch nimmt, beabsichtigt (bejahend: Rott/Glinski, ZEuP 2015, 192, 204;
Lippert in Deutsch/Lippert/Ratzel/Tag, 2. Aufl., MPG, § 6 Rn. 9).
25
b) Das durch die Rechtsprechung entwickelte Institut des Vertrages mit
Schutzwirkung zugunsten Dritter beruht auf einer maßgeblich durch das Prinzip
von Treu und Glauben (§ 242 BGB) geprägten ergänzenden Vertragsauslegung
(§ 157 BGB). Danach wird ein Dritter in die aus einem Vertrag folgenden Sorgfalts- und Schutzpflichten einbezogen, wenn er mit der Hauptleistung nach dem
Inhalt des Vertrags bestimmungsgemäß in Berührung kommen soll, ein schutzwürdiges Interesse des Gläubigers an der Einbeziehung des Dritten besteht,
- 12 -
den Interessen des Schuldners durch Erkennbarkeit und Zumutbarkeit der Haftungserweiterung Rechnung getragen wird und der Dritte schutzbedürftig ist
(BGH, Urteile vom 28. Januar 2015 - XII ZR 201/13, NZFam 2015, 254 Rn. 14;
vom 9. Oktober 2014 - III ZR 68/14, NJW 2014, 3580 Rn. 24). Für die an § 242
BGB ausgerichtete Auslegung des Vertrages ist von wesentlicher Bedeutung,
welche Zwecke die Richtlinie 93/42/EWG allgemein mit dem Konformitätsbewertungsverfahren und insbesondere durch die Einbeziehung der benannten
Stelle mittels eines privatrechtlichen Vertrages mit dem Hersteller verfolgt. Diese Zwecke sind Grundlage der Bewertung des Vertragsinhalts und deshalb
Ausgangspunkt für eine ergänzende Vertragsauslegung.
26
c) Ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB oder aus einem
Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter setzt des Weiteren einen Verstoß
gegen das Schutzgesetz oder eine Vertragspflichtverletzung voraus.
27
aa) Der benannten Stelle sind nach Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG
folgende Pflichten zugewiesen:
28
Vor dem Inverkehrbringen des Medizinprodukts ist die benannte Stelle
zunächst in die Bewertung des von dem Hersteller einzureichenden Qualitätssicherungssystems eingebunden (Nr. 3.3. Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG).
Sie hat eine förmliche Überprüfung des Qualitätssicherungssystems (Audit)
durchzuführen. Zusätzlich hat der Hersteller eine Produktauslegungsdokumentation vorzulegen, die die benannte Stelle nach Nr. 4.3. der Richtlinie
93/42/EWG zu prüfen hat.
29
Nach dem Inverkehrbringen des Medizinprodukts hat nach Nr. 5.1. Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG eine Überwachung des Qualitätssicherungssystems zu erfolgen. Die Pflichten der benannten Stelle im Rahmen der Überwachung sind in Nr. 5.3. und 5.4. Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG geregelt.
- 13 -
Danach führt die benannte Stelle regelmäßig die erforderlichen Inspektionen
und Bewertungen durch, um sich davon zu überzeugen, dass der Hersteller das
genehmigte Qualitätssicherungssystem anwendet. Darüber hinaus kann die
benannte Stelle unangemeldete Besichtigungen beim Hersteller durchführen
und erforderlichenfalls Prüfungen zur Kontrolle des ordnungsgemäßen Funktionierens des Qualitätssicherungssystems durchführen oder durchführen lassen.
30
bb) Der Senat kann nicht zweifelsfrei feststellen, welchen konkreten Inhalt diese Pflichten bei Medizinprodukten der Klasse III haben. Insbesondere
stellt sich die Frage, ob sich aus den vorstehend genannten Bestimmungen des
Anhangs II der Richtlinie 93/42/EWG eine generelle oder zumindest anlassbezogene Produktprüfungspflicht ergibt. Außerdem stellt sich die Frage, ob eine
generelle oder zumindest anlassbezogene Pflicht besteht, Geschäftsunterlagen
des Herstellers zu sichten und/oder unangemeldete Inspektionen durchzuführen.
31
Dazu heißt es in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über Medizinprodukte vom 2. Juli 2003 (KOM[2003] 386,
17):
"Will ein Hersteller die Konformitätserklärung für Produkte der
Klassen IIa und IIb auf der Grundlage eines vollständigen Qualitätssicherungssystems abgeben, so müssen sich die benannten
Stellen nicht nur vom Vorliegen einer vollständigen technischen
Dokumentation überzeugen, …, sondern auch von der richtigen
Anwendung des Qualitätssicherungssystems des Herstellers und
der Richtigkeit und Angemessenheit der Angaben."
32
Nach diesen Ausführungen könnten im Konformitätsbewertungsverfahren bloße Besichtigungen, wie von der Beklagten ausschließlich nach vorher-
- 14 -
gehender Anmeldung durchgeführt, nicht ausreichen, um die Anforderungen
von Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG zu erfüllen. Damit könnte einhergehen,
dass sich die Beklagte in Nr. 6.1 ihrer Prüf- und Zertifizierungsordnung, die Bestandteil des Vertrages mit dem Herstellerunternehmen war, die Befugnis zu
Kontrollprüfungen des Produkts vorbehalten hat.
33
4. Da der Gerichtshof der Europäischen Union noch keine Gelegenheit
hatte, zu den aufgeworfenen Fragen Stellung zu nehmen, sind ihm diese zur
Auslegung der Richtlinie 93/42/EWG vorzulegen.
Eick
Kartzke
Graßnack
Jurgeleit
Sacher
Vorinstanzen:
LG Frankenthal, Entscheidung vom 14.03.2013 - 6 O 304/12 OLG Zweibrücken, Entscheidung vom 30.01.2014 - 4 U 66/13 -